Wir sind hässlich

von Stefan Schmidt

Hamburg, 18. Dezember 2016. Die ganze Menschheitsgeschichte in anderthalb Stunden – da muss man schon etwas raffen. Angesichts dieses Mammutunterfangens lässt sich Regisseur Ersan Mondtag in seiner Hamburger Uraufführungsinszenierung von Michel Decars "Schere Faust Papier" zu Beginn erstaunlich viel Zeit. Minuten, in denen es schummerig düster und wabernd neblig zugeht im Thalia Gaußstraße. Sphärische Gesänge sind zu hören, ein Klangteppich, aus dem heraus dann Barack Obamas Stimme "Yes, we can" ruft.

Links oben dreht sich eine Weltkugel, wie von einem Raumschiff aus betrachtet, mit ziehenden Wolken und einer erkennbaren Grenze zwischen Tag und Nacht. Fünf seltsame Wesen lassen sich ausmachen, die ein bisschen wie verwachsene Schlümpfe aussehen: türkisblau, mit kahlen Eierköpfen, rot geränderten Augen, krallenartigen Füßen und Händen, spitz in die Höhe mutierten Schulterknochen und Oberkörperpelzen, die verdächtig an blond gelockte Langhaarteile vom Billigfriseur erinnern, herrlich hässlich zusammenkostümiert von Josa Marx, eine absurde Augenweide.

Schere Faust Papier2 560 armin smailovic uAch weh! Ersan Mondtags Unholde © Armin Smailovic

Menschen sind das jedenfalls nicht. Oder doch? Außerirdische könnten es sein, dafür spricht der entrückte Blick auf die Erde. Oder wir haben es mit Figuren aus einem Onlinespiel zu tun, die ein 3D-Drucker auf die clever abstrakt gebaute Bühne von Paula Wellmann geworfen hat – zusammen mit all den schwarz-weißen geometrischen Formen, die sich an allen möglichen Stellen heben und wieder senken: Kreise, Geraden, Dreiecke, Pyramiden. Vermutlich sind die fünf Gestalten am Ende eine Mischung aus diesem und jenem, ein bisschen Steinzeitmensch hier, ein wenig Stanley Kubrick dort. Eins sind sie garantiert nicht: Individuen.

Von der Steinzeit in den Drohnenkrieg

Dieses Szenario macht erstmal ganz schön viel her. Mit dem, was Autor Michel Decar in der Vorlage als "erster Akt" überschrieben hat, beginnt dann allerdings der unspektakuläre Teil des Abends: Die fünf Wesen in ihrem Bunker finden sich in bester Science Fiction-Manier nach und nach an diversen Schauplätzen der Geschichte wieder, schön chronologisch von der (vermeintlich) friedlichen Steinzeit und ihren Ur-Rinder-Herden über erste "solide" Ackerbaugesellschaften, die Kreuzzüge des Mittelalters, den Aufbruch in die Neue Welt und spätere Kolonien, die Russische Revolution bis hin zum Kampf gegen "Schurkenstaaten" in der Wüste und den Ausblick in eine Zeit, in der Kriege hauptsächlich von Tieren und Maschinen ausgeführt werden. "Man kann fast meinen, ganze Jahrhunderte fliegen hier vorbei", sagt eine der Gestalten, woraufhin eine andere zurückgibt: "Aber das täuscht."

Diese Verweigerung von Gewissheiten, von gesicherten Sinnzuschreibungen, die Text und Inszenierung immer wieder behaupten, steht im Gegensatz zum eindimensional pessimistischen Geschichtsbild, das beide transportieren. Eine Schlacht jagt in rasantem Tempo die nächste, unterbrochen allenfalls mal von wüstem Rumgeficke (der Sex "funkt einem immer dazwischen"), und am Ende will's keiner gewesen sein: "Ich habe gerade die gesamte Führung liquidiert. (…) Es war mehr aus Versehen." Oder: Hundert Kriegsgefangene zu töten – das "ist mir einfach so passiert." Die Menschheitsgeschichte: ein Alptraum, aus dem wir hoffentlich irgendwann aufwachen.

Wer verfolgt, was gerade in Syrien geschieht, wird natürlich gewisse Mühen haben, einen optimistischeren (oder auch nur: differenzierteren) Blick auf angeblich zivilisatorisches Handeln anzumahnen. Das Problem mit dieser Inszenierung ist ein anderes, eines, das im Theaterkosmos bleibt: Sie ist ziemlich schnell ziemlich vorhersehbar. Hinter einer fragmentarischen, verspielten, ironisierenden, postdramatischen Oberfläche verbirgt sich eine lineare, stellenweise geradezu thesenartig intakte Narration, die kaum ein Überraschungsmoment mehr zu bieten hat, die im Grunde auserzählt ist, wenn sie zum ersten Mal richtig Fahrt aufnimmt.

Doppelt distanzierter Blick

Das liegt auch daran, dass Regisseur Ersan Mondtag die Assoziationsräume seiner Vorlage schließt statt sie weiter zu öffnen. Michel Decar hat seine pseudo-dialogische Textfläche in "Schere Faust Papier" angereichert mit einigen Seiten voller möglicher Bühnenbilder (eine "Milliarde Meerschweinchen", "Delfinarium Nürnberg – Hinter den Kulissen"), möglicher Requisiten ("Fertigsuppen der Firma Yum Yum"), Kegelrobben, "die während einiger Szenen die Bühne kreuzen", bis hin zum "Gespräch zweier Damen nach der Vorstellung im Pausenfoyer" und einer (kurzen) Liste französischer Rotweine. Dieser Rahmen nimmt der Zeitreise im Text ihre Schwere; er hat etwas Unfertiges, Unsicheres, Uneindeutiges, Leichtes.

Die Inszenierung kommt dagegen trotz ihrer ironischen Volten, trotz virtuos verfremdender Kostüme, trotz einer atmosphärischen Bühne, trotz ästhetischer Konsequenz, trotz eines hochgradig spielfreudigen Ensembles um die wunderbar lässigen, absurd wie pointiert intonierenden Frauen Cathérine Seifert und Oda Thormeyer und trotz einer dichten Körperlichkeit erstaunlich ernst und erstaunlich statisch daher. Letztlich: überkonsequent.

Da trifft der "Nachwuchsregisseur des Jahres" (Kritikerumfrage von "Theater heute") auf einen preisgekrönten Jungtheatertexter, beide misstrauen der dramatischen Form, beide bekennen sich zum Zersplitterten, zum Fragmentarischen, beide folgen darin der ihnen vorhergehenden deutschen Bühnengeneration – und heraus kommt der betont distanzierte Blick zurück auf eine große Erzählung. Nur: Wo ist eigentlich der Zorn geblieben? Oder zumindest: der Spaß? Diesem Mysterienspiel ist auf dem Ritt durch die Jahrhunderte sein Mysterium abhanden gekommen. Alles richtig gemacht – und trotzdem wenig berührt. Schade!

 

Schere Faust Papier
von Michel Decar
Uraufführung
Regie: Ersan Mondtag,
hne: Paula Wellmann, Kostüme: Josa Marx, Musik-Komposition: Max Andrzejewski, Sounddesign: Florian Mönks, Dramaturgie: Matthias Günther.
Mit: Marie Löcker, Thomas Niehaus, Cathérine Seifert, Oda Thormeyer, Tilo Werner.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

 

Kritikenrundschau

"Selten war Apokalypse so komisch wie bei Decar, und noch nie hat der mit viel zu viel Hype umgebene Jung-Star Mondtag so unübersehbar eindrucksvoll 'Regie geführt', findet Michael Laages im Deutschlandradio Kultur (18.12.2016). Das Stück sei "richtig gut", und  Mondtag, "bislang stets mit extremer Abstraktion beschäftigt, inszeniert tatsächlich (mit überschäumender Spielfantasie und darum genau so grandios!) die Kern-Struktur dieses Textes."

"Es ist ein ganz großes Fass, das Decar hier aufmacht, nichts weniger als die Menschheitsgeschichte, die mehrfach ironisch gebrochen als Geschichte des großen Schlachtens noch einmal neu erzählt wird", berichtet Falk Schreiber im Hamburger Abendblatt (20.12.2016). In Mondtags Inszenierung stelle sich "zwar ziemlich schnell ein Gefühl der Fremdheit ein", allerdings haben die Schauspieler so keine Chance, "irgendwie Individualität darzustellen". Mangels echter Handlung entwickele man "so eine gewisse Teilnahmslosigkeit, die der Inszenierung nicht nur guttut".

Das Tempo in Decars Stück "ist halsbrecherisch, die Assoziationsräume sind riesig", so Katja Weise auf NDR Kultur (19.12.2016). "Und doch funktioniert dieses aus vielen Splittern zusammengesetzte Stück, bei dem vollkommen offen bleibt, ob es einen Traum beschreibt, einen Rausch oder ob es sich, wie in der Lesart von Ersan Mondtag, doch eher um Science Fiction handelt, bei dem die Außerirdischen sehr menschliche Züge tragen." In Mondtags Inszenierung füge sich alles "zu einer klar strukturierten, stringent erzählten Geschichte, in der es immer wieder - wie bei dem Spiel 'Schere Faust Papier' ums Gewinnen und Verlieren geht." Fazit: "Ersan Mondtag und Michel Decar gewinnen beide."

Der Text "entfaltet keinerlei Sog", sondern wirke eher, "als habe Michel Decar die Krabbelkiste seines Geschichtsstudiums ausgekippt und selbstvergessen mit historischen Bauklötzchen gespielt", schreibt Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (29.12.2016). "Je länger sich das hinzieht, desto mehr verliert sich diese Weltgeschichtsreise in den Sphären des Ungefähren." Daraus könne sie auch Ersan Mondtag nicht erretten. "Seine Inszenierung behauptet zwar konsequent einen eindrucksvollen Kosmos, bebildert letztlich aber nur die nicht ganz taufrische Erkenntnis, der Mensch sei ein Gewalttäter aus Langeweile und mache Geschichte, indem er erst handelt und dann nachdenkt."

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