Personalien und Strukturen

Berlin, 28. Dezember 2016. Es war das Jahr der großen Personaldebatten auf nachtkritik.de. Angefangen mit der Meldung über die Beurlaubung der Berner Schauspielleiterin Stephanie Gräve und endend mit der Ankündigung des Stuttgarter Schauspielchefs Armin Petras, das Haus im Schwäbischen zum Ende der Spielzeit 2017/2018 vorzeitig zu verlassen. Dazwischen feuerwerkelte immer wieder der Dauerbrenner dieses wie auch des letzten Jahres: die Übernahme der Berliner Volksbühnenintendanz durch den Museumsmacher und bisherigen Leiter der Londoner Tate Modern Chris Dercon.

Die Fälle fanden ihre Aufmerksamkeit, weil sie weit mehr als nur die einzelne Personalie in den Blick rückten: Bern gab Anlass zu einer Debatte über Leitungsstrukturen am Stadttheater; der umtriebige und über Koproduktionen bestens vernetzte Autor und Regisseur Armin Petras musste sich Fragen gefallen lassen, wie weit er auf die regionalen Bedürfnisse der Stuttgarter Stadtgesellschaft einzugehen vermochte. Sein Abschied aus familiären Gründen führt ihn zurück nach Berlin und Brandenburg, wo nicht nur einige spekulationsfreudige Kommentator*innen ihn sogleich als geeigneten Nachrückkandidaten für die Personalie Dercon an der Berliner Volksbühne empfanden, die der frische gekürte neue Berliner Kultursenator kurz zuvor zu überprüfen angekündigt hatte.

Die Debatte um die künftige Intendanz der Berliner Volksbühne ist ein Grundsatzstreit par excellence des Theaterjahrs 2016: Wie entsteht die Unverwechselbarkeit einer Ästhetik, die als solche zur Richtgröße für ganze Theatergenerationen wurde (das Paradigma Castorf)? Welchen Anteil haben daran der Werkstättenbetrieb, die Ensemblearbeit und der Repertoire-Spielplan – also Pfeiler der deutschen Stadttheatertradition? Inwieweit ist die Verankerung in der ortsspezfischen Geschichte und in der Geschichte des Hauses am Rosa-Luxemburg-Platz wichtig für die Herausbildung seines singulären Charakters? Die Fragen treffen auf ein neues Leitungsteam, das andere Parameter setzen will: weg von der betont maskulinen Anmutung der Volksbühnen-Ästhetik hin zu mehr Frauenpower; weg von der Dominanz des Sprechtheaters hin zu mehr Tanz, Bildender Kunst und diversen spartenübergreifenden Formen. Versprochen wird der Zugewinn an Spielstätten (mit einem Amphitheater in Tempelhof) und international vernetzten Produktionsformen. In der hitzig geführten Debatte sind die Entgegensetzungen mit analytischer und polemischer Schärfe herausgearbeitet worden.

Abseits der debattenauslösenden Meldungen finden sich auf der MEISTGELESEN-Jahresliste als Evergreens die alljährlichen Auswahlen der Besten (das virtuelle nachtkritik.de-Theatertreffen, das Berliner Theatertreffen, der FAUST-Preis). Von den Nachtkritiken aus Österreich, Schweiz und Deutschland hat es allein Antú Romero Nunes mit seinem Hamburger Shakespeare-Paukenschlag "Richard III." unter die Top 10 geschafft. Ihm folgen, wenngleich nicht mehr auf dieser Liste verzeichnet, Herbert Fritschs Volksbühnenabschied Pfusch, Frank Castorfs Hebbel-mit-Artaud-Remix Judith (ebenfalls Volksbühne Berlin) und Alexander Eisenachs Volkswirtschafts-Western Der kalte Hauch des Geldes (Schauspiel Frankfurt).

(chr)

 

1 Leser*innen-Wahl (1/2016)
Wählen Sie die wichtigsten Inszenierungen des Jahres!
nachtkritik-Theatertreffen 2016: Die Nominierungen

 

2 Meldung aus Stuttgart (11/2016)
Persönliche und familiäre Gründe
Stuttgarter Schauspielchef Armin Petras geht vorzeitig

Meldung aus Bern (2/2016)
Ein halbes Jahr Bewährungszeit
Kleine Anfrage und Petition zur Freistellung von Stephanie Gräve in Bern

 

Presseschau (8/2016)

"Dann tut es keiner"
Shenja Lacher begründet im FAZ-Interview, warum er das Theater verlässt

 

Meldung  aus Freiburg (11/2016)
Altmeister-Gala
Faust-Preise 2016 verliehen

 

Meldung aus Berlin (6/2016)
Furcht vor dem Ausverkauf
Offener Brief Volksbühne – Peymann solidarisiert sich

 

Podcast aus Berlin (5/2016)
Golden Goal
Über die Abschlussdiskussion bei den Mülheimer Theatertagen 2016

 

Meldung aus Berlin (2/2016)
Die Allerbemerkenswertesten
Einladungen zum Theatertreffen 2016

 

Meldung aus Berlin (12/2016)
Reformierte Begriffe
Chris Dercon spricht über sein Programm für die Berliner Volksbühne

 

Nachtkritik aus Hamburg (10/2016)
Fiesling auf der Trommel
Richard III. – Antú Romero Nunes inszeniert einen gespenstischen Theaterzauber am Hamburger Thalia Theater

 

Hier geht es zu den Listen der Meistgelesenen Texte der Jahre 2015, 2014 und 2013.