Reden nach dem Urknall

von Christoph Fellmann

Zürich, 7. Januar 2017. Einmal, vor dreizehn Milliarden Jahren, da waren wir alle ganz dicht beieinander. So wird es erzählt an diesem Abend, an dem sich die Menschen hinterherrennen, an dem sie sich anschreien und ins Wort fallen und an dem sie sich immer wieder falsch verstehen. Und der Grund dafür ist ja klar: "Es gab einen Urknall", und ab dann waren die Menschen nicht mehr ganz dicht beieinander, sondern "ganz dicht auseinander". Mit anderen Worten, sie wurden auseinandergeknallt, was aber nicht heißt, dass sie sich nicht doch noch sehen und hören, dass sie nicht doch noch pausenlos kommunizieren können.

In seinem neuen Stück für Zürich macht sich René Pollesch auf, dieses "dichte Auseinander" zu ergründen. Also absolviert der neu formierte Damenchor ein paar hübsche Tanzchoreografien zum Soul von Al Green oder Sharon Jones, und das Publikum erlebt eine beeindruckende Parade aus aufblasbaren Riesentieren auf Rikschas und einem Raubtierkäfigwagen. Das mag absurd anmuten, ist aber logisch. Denn wenn es einen Grund dafür gibt, dass sich die Menschen immerfort missverstehen, dann ist das ja wohl gerade die "Bedeutung", die sie den Dingen geben: Ein schöner, mit Kurzarmhemd bekleideter Mann unter Punks bedeutet dann "Zivilpolizist", und die schwarze Farbe bedeutet "Tod". "High (Du weißt wovon)" will diese "Bedeutung" zerstäuben, denn vielleicht ist es ja wirklich so: Wenn wir anfangen, nur noch das auszusprechen, was wir auch wirklich sehen und hören, dann erst kann die Welt wieder zusammenkommen und chillen.

Slapstick mit Trauerrand

Bis es so weit ist, rennen die Menschen dieser Bedeutung hinterher wie der Lottospieler den Gewinnzahlen, nämlich "um sich daran zu gewöhnen, dass er ein Loser ist". Barbara Steiner hat die Schiffbauhalle dafür in eine Rennbahn umgebaut, die an den Circus Maximus im alten Rom erinnert und in deren Mitte das Publikum je hälftig Platz nimmt, um jeweils eine Längsbahn zu überblicken. Ein stimmiges, aber akustisch sehr schwieriges Arrangement. Nun denn, im Kreis um das Publikum herum marschieren Hilke Altefrohne, Inga Busch, Marie Rosa Tietjen, Jirka Zett; dies im Versuch, beim Damenchor nur schon eine Tüte zu schnorren oder ein Bier zu bestellen.

High2 560 MatthiasHorn uDieser Chor ist ganz offensichtlich zu dicht für ein sinnvolles Gespräch © Matthias Horn

Der Chor aber enteilt oder erweist sich als zu dicht (vom "Gras") für ein sinnvolles Gespräch. Oder er löst sich ganz einfach auf, so wie das Mädchen, das 1975 nicht mehr vom "Picknick am Valentinstag" zurückkehrte, so ein Film von Peter Weir, den dieser Abend zitiert. "Das hier ist Warten auf Godot im Gehen", sagt Jirka Zett, schon ganz melancholisch. Das Beispiel zeigt: Polleschs neuester Abend trägt zwar, weil die Depression leichter zum Menschen findet als ein Wort, einen nicht zu übersehenden Trauerrand. Das heißt aber nicht, dass innerhalb davon nicht immer wieder der verbale Slapstick und die einzelne Punchline regieren.

Zu zweit denkt man weniger allein

Und natürlich die intellektuelle, funkensprühende Dekonstruktion von Bedeutungsroutinen, wie sie fachgerecht am Beispiel von Low-Budget-Filmen oder von Hitlers Opernbesuch durchgeführt wird. Oder gleich am Beispiel des Theaters: "Man geht ja fälschlicherweise davon aus", heißt es einmal, "wenn man zwei Personen auf einer Bühne sieht, dass die miteinander sprechen; und wenn man eine Person sieht, dass sie denkt. (...) Aber denken kann man nur zu zweit, und sprechen kann man nur alleine." Dass das stimmt und wie das geht: Das zeigt dieser Abend durchaus, auch wenn der Zusammenhang seiner einzelnen Motive bisweilen etwas verraucht. Diese 80 Minuten haben klug gesprochen. High haben sie nicht gemacht.

 

High (Du weißt wovon)
von René Pollesch
Regie: René Pollesch, Bühne: Barbara Steiner, Kostüme: Sabin Fleck, Chorleitung: Christine Groß, Choreografie: Sebastian Henn, Licht: Markus Keusch, Dramaturgie: Karolin Trachte.
Mit: Hilke Altefrohne, Inga Busch, Marie Rosa Tietjen, Jirka Zett und Damenchor.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

"Der Titel 'High (du weißt wovon)', ein Zitat aus der deutschen Übersetzung des Musicals 'Hair' von 1971, ist schon das Beste am Abend", schreibt Martin Halter in der FAZ (9.1.2017). "Als Dekonstruktion des Repräsentationstheaters, als Performance, Parade und Picknick am Hanging Rock ist dieser müde Hippie-Zirkus ein bisschen wenig: Pollesch war, auch in Zürich, schon deutlich unterhaltsamer." Polleschs Selbstgespräch im Circus Maximus sei gedacht als Kommunikation des Hohepriesters mit seiner Gemeinde. "Bewusstseinserweiternd ist dieser Stoff – jedenfalls für Ungläubige – aber nicht, und von politischer oder ästhetischer Relevanz kann auch keine Rede sein."

Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (9.1.2017) sah eine "champagnerleichte" Aufführung, die man nicht unbedingt beladen von der Schwere eines wie auch immer gearteten Diskurses verlasse. "Es ist schon fabelhaft, wie Pollesch hier aus dem Selbst seiner Figuren heraus einen flirrenden Kommentar zur herrschenden politischen Diskussionskultur schafft, ohne von Politik zu reden. Die Gedanken über Denken, Fühlen und Reden fliegen einfach so vorbei."

"René Polleschs Kunst zeigt, dass nichts so sein muss, wie es scheint", schreibt Daniele Muscionico von der Neuen Zürcher Zeitung (8.1.2017). "Selten war dieser deutsche Foucault des Theaters derart unzeitgemäss, unpolitisch und unorganisiert. Denn sein neustes Stück ist erstens weiblich und zweitens high von der eigenen Bedeutungsleere. 'High (du weisst wovon)' ist eine der heitersten der in Zürich endemisch vorkommenden Pollesch-Flashmobs." Sein neuester "Theater-Überfall, Sprach-Überfall" sei just das richtige Theater für eine falsche Zeit.

"Wir, um es ohne Umschweife zu bekennen, haben gelacht", schreibt Alexandra Kedves vom Tagesanzeiger (8.1.2017). Der Abend führe die Sehnsucht vor, "sich am groben, lebendigen Material – an der Welt – den Kopf blutig zu schlagen, anstatt ihn vollzukiffen und abzuheben. Sich an der Andersheit zu reiben, anstatt sie sich zurechtzuquasseln." Von 'High (du weisst wovon)' werde man breit, stoned, berauscht, wenn man sich Polleschs gut abgemischtes Pulver ohne Zaudern reinziehe. "Vielleicht ist dieser Abend ja auch ein Godot to rock and roll."

"Anregend und amüsant ist der Abend ohne Frage, klug gedacht wie immer bei Pollesch", kommentiert Andreas Klaeui für den SRF (9.1.2016). Jedoch: "Trotz Hilfestellung durch Live-Video – die Spielanlage hat etwas Beliebiges, auch etwas Angestrengtes." Der Abend verliere dadurch an Dringlichkeit, "es scheint, Pollesch kommt besser zur Wirkung in der frontalen Konfrontation, wenn seine Gedanken und Argumente richtig aufs Publikum knallen." In diesem Rundumlauf verliere der Abend – auch an intellektueller – Präsenz.

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