Der Phantast - Jan Dvoraks Stück zu Leben und Legende des Karl May, inszeniert von Philipp Stölzl in Dresden
Im Reich des Edelsachsen
von Wolfgang Behrens
Dresden, 13. Januar 2017. Man kann den Herausgebern von "Karl May’s Gesammelten Werken" (der Apostroph steht da wirklich!) beileibe nicht viel Gutes nachsagen – dazu haben sie dann doch ein paarmal zu häufig verfälschend in die Texte eingegriffen. Doch als sie Band 34 der Ausgabe, der unter anderem Karl Mays Autobiographie enthält, "'ICH'" betitelten und das "ICH" dabei in Anführungszeichen setzten, da hatten sie einen lichten Moment. Denn das "Ich" Karl Mays war in der Tat ein uneigentliches, ein höchst schwankendes und immer ein anderes, ein präpostmodernes Sammelsurium gewissermaßen.
Das Stück zum Film
In Zeiten, da man etwa anhand der Bücher eines Karl Ove Knausgård einen neuen Kult des Authentischen einführt, kann die Beschäftigung mit Karl Mays "Ich" durchaus heilsam sein. May bastelte zeitlebens an diesem "Ich" herum, verstieg sich dazu, die Authentizität des Erlebten um seine Ich-Figuren Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand herum zu behaupten, und als schließlich dieses Gebäude unter der Last zahlloser Gerichtsprozesse zusammenbrach, konstruierte er sich ein "Ich", das zur Lösung des "Menschheitsproblems" berufen war und erst ganz am Anfang seiner eigentlichen Aufgabe stand. Die Aufgabenstellung für das noch zu Leistende: "Empor ins Reich der Edelmenschen!"
Der Regisseur Philipp Stölzl wiederum hat gerade den deutschen Muster-Edelmenschen, nämlich "Winnetou", neu verfilmt – sehr frei nach Karl May und auch irgendwie postmodern: Man nehme ein paar plastische May-Charaktere, ein paar May-Landschaften und ein paar (mitunter recht gute) Insider-Scherze, schüttele einmal kräftig – und es springt ein neuer, wenn auch etwas beliebig anmutender Plot heraus. Doch irgendwie muss Stölzl auch Sehnsucht nach den "echten" Ichs von Karl May verspürt haben, und so bringt das Staatsschauspiel Dresden nun sein theatrales Bio-Sequel zu den Filmen heraus. Über allem aber thronen hoch oben im Bühnenportal die drei großen Lettern in Anführungszeichen: "ICH".
Das große Gleiten
Stölzl lässt in "Der Phantast" – dem Stück, das Jan Dvorak nach Stölzls Idee unter Verwendung zahlreicher May-Texte erarbeitet hat – die verschiedenen Ich-Ebenen Mays auf witzige Weise ineinander gleiten. In einem großen fahrbaren Kasten befinden sich nacheinander mit großer Liebe zum Detail nachgebaute Interieurs aus der Villa Shatterhand im nahen Radebeul: Hier kann man Götz Schubert als verschrobenem Self-made-Gelehrtem beim Dichten und Aufschneiden zusehen. Doch kaum entsteigt er dem Kasten, reitet er mit seinem Diener Hadschi Halef Omar (der sich seinen Hadschi genauso erschwindelt hat wie Karl May seinen Dr.) vor kitschigem Sternenprospekt durch die Wüste. Kommen sächsische Polizisten daher, die den jungen Karl May wegen einiger begangener Gaunereien verhaften wollen, versinkt Halef im Schott (einem Salzsee mit Kruste aus Band 1 der Gesammelten Werke), und Kara Ben Nemsi zieht aus dem Morast anstatt seines Gefährten nur die Taschenuhr hervor, die der echte May als Hilfslehrer seinem Mitbewohner gestohlen haben soll.
Schubert spielt das alles wunderbar komödiantisch und erlaubt sich auch kleine Slapsticks: Als ein eigens aus Linz angereister Fotograf (Simon Käser) in der Villa Shatterhand den Bärentöter entdeckt, bricht der angebliche Supermann May beim Posieren mit dem Gewehr unter dessen Gewicht nahezu zusammen. Doch Schubert hält die Waage, er lässt die Figur nicht ins Lächerliche abgleiten – wenn schließlich der losgelassene Pressemob auf ihn einstürmt und dem alternden Dichter-Hochstapler mit Enthüllungsstories das Leben zur Hölle macht, bleibt die Fallhöhe gewahrt. Aus dem gutmütigen Phantasten wird ein Gehetzter, den seine multiplen Ichs – das des Kleinkriminellen, das des Schundromanautors, das des vermeintlichen Weltreisenden – einholen und gnadenlos umzingeln.
Emma und Winnetou
Der erste Teil des Abends kennt noch eine weitere tragische Figur: Emma Pollmer, Karl Mays erste Frau. In Mays Romanwelt ist – wie es der May-Verleger Euchar Albrecht Schmid anerkennend (!) formulierte – "das Weib völlig ausgeschaltet oder tritt nur als geschlechtsloses Wesen in Erscheinung". Entsprechend lebt Mays Fantasie-Ich an Emma völlig vorbei – Nele Rosetz stattet diese Zurückgesetzte mit sächsischem Dialekt und herzzerreißend unterdrückter Lebenslust aus.
Und Winnetou? Stölzl und Dvorak lassen ihn (Ahamad Mesgarha) – zum nahezu grenzenlosen Amüsement des Publikums – zuerst in einer eher unbekannten May-Szene auftreten: als Überraschungsgast in Sachsen, "auf dem Kopfe einen hohen Cylinderhut" und als tief beeindruckten Zuhörer eines lokalen Männergesangsvereins: "Winnetou hat nun genug gehört" (nachzulesen in Band 21 "Krüger Bei"). Und sie zitieren zweimal seine berühmte Todesszene: Beim ersten Mal stirbt Winnetou jedoch nicht von der Kugel eines Sioux-Ogellallah, sondern – nicht unkomisch – als Opfer von Mays Prozessgegnern.
Beim zweiten Mal schließlich, ganz am Ende, wird Karl May selbst in den Armen seines Fantasiegeschöpfs vom Tod ereilt. "Nicht wahr, nun kommen die Worte vom Sterben?", sagt May mit den originalen Worten Winnetous. Und nicht Winnetou ist es nun, der zum Christen wird, sondern der sterbende May wird von Winnetou nach indianischem Totenritual betrauert. "Winnetou, ich glaube an dich", sagt Götz Schubert zuletzt. Und für einen langen Moment ist jene emotionale Spannung im Raum, die man sich auch für Stölzls "Winnetou"-Filme gewünscht hatte. Vergeblich. In diesem Fall also hat das Theater gesiegt. Ich habe gesprochen. Howgh!
Der Phantast. Leben und Sterben des Dr. Karl May
von Jan Dvorak
Uraufführung
Regie und Idee: Philipp Stölzl, Bühne: Heike Vollmer, Philipp Stölzl, Kostüm: Kathi Maurer, Musikalische Leitung: Thomas Mahn, Licht: Michael Gööck, Dramaturgie: Beate Heine, Julia Fahle.
Mit: Götz Schubert, Nele Rosetz, Ahmad Mesgarha, Sebastian Pass, Simon Käser, Alexander Angeletta, Männergesangsverein: Jörg Bickenbusch, Peter Cassier, Albrecht Ernst, Tobias Ernst, Julius Evers, Andreas Hubricht, Friedemann Jäckel, Oliver John, Hartmut Kunze, Dieter Leffler, Robert Müller, Thomas Sauer, Martin Zitzmann, Cello: Christoph Hermann, Dietrich Zöllner.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.staatsschauspiel-dresden.de
"Es hätte durchaus passieren können, dass 'Der Phantast' (...) scheitert", meint Johanna Lemke in der Sächsischen Zeitung (16.1.2017). Es sei "selten eine gute Idee, emotional aufgeladene Historienbruchstücke im Theater zu verwursten – zu verlockend ist die Kitschfalle." Doch Philipp Stölzl mache aus dem Stücktext von Jan Dvorak "eine kunstfertige, tiefsinnige Komödie. Er hat aber auch einen großartigen Hauptdarsteller: Götz Schubert spielt den Träumer May, der sich lieber gedanklich zu den Apachen zaubert, als sich mit seiner ihn anödenden Ehe auseinanderzusetzen." Schubert spiele "hochgradig komödiantisch und tragisch zugleich, ironisiert die Figur, ohne sie zu verraten".
"Der sächsische Schriftsteller aus Radebeul hat am sächsischen Staatstheater in Dresden endlich ein Stück bekommen, daß ihn selbst klug und angemessen jenseits der Indianergeschichten vorstellt: das hat Klassikerpotential!", jubelt Stefan Petraschewsky für den MDR (16.1.2017). Große und kleine Welt flössen im Laufe des Stückes ineinander: "Das ist sehr virtuos gemacht", es sei großartig, wie Stölzl "die Kunst der Vermischung und der Übergänge" gelinge. "Die Verschränkung zwischen Romanwelt und Biografie" bringe "neue Erkenntnisse. Die Erkenntnis etwa, dass Karl May auch jenseits der ganzen banalen Indianergeschichten als Künstlerpersönlichkeit interessant ist." Götz Schubert finde als May ganz hervorragend die Balance zwischen Boulevardtheater und Künstlerdrama.
Stölzl inszeniere das Stück als tragikomischen, mal atmosphärisch dichten, mal grellbunten Bilderbogen, so Harald Eggebrecht in der Süddeutschen Zeitung (18.1.2017). "Dem energiegeladenen Ensemble war der Spaß an der Produktion anzumerken, die federleicht nicht nur ein Fantastenleben Revue passieren lässt, sondern wie nebenbei auch die untergründige Aktualität darin aufdeckt."
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Aber wer ist eigentlich dieser Dvorak? Das neuerdings sehr dürftige Programmheft sagt dazu nix.
Was heißt versündigt? Das ist ein religiöser Begriff. Versündigen kann sich gegen Gott, aber gegen Karl May?
Für mich klingt das so, als ob Sie sich für den Gralshüter halten, der entscheidet, was wahr und falsch ist. Mitnichten. Nennen wir es doch beim Namen: Es wurde die letzen 10 Jahre des Lebens von Karl May so inszeniert, daß es Ihnen einfach nicht paßt. Das ist Ihr gutes Recht. Sie sollten es aber auch so sagen und nicht das hohe Roß besteigen. Und die Aufforderung, IHR Buch über Karl May zu lesen, ist, vornehm ausgedrückt, einfach nur peinlich.
Zweitens ist es ja möglich, dass es solche typischen regionalen Eigenschaften gibt, wenn ich auch bei solchen Universaleigenschaften etwas zusammenzucke ("Der Russe ist schwermütig", "Der Italiener ist heißblütig" usf). Aber dass deswegen nur Leute aus der Region Künstler aus der Region erfassen können - also entschuldigen Sie mal! Das ist doch Unsinn! Können Sie Storm und Shakespeare nicht verstehen? Und wie weit wollen Sie denn den Regionalismus treiben? Kann Goethe überhaupt nur jemand verstehen, der aus Frankfurt kommt? Und May vielleicht nur jemand, der in derselben Gasse in Hohenstein-Ernstthal geboren wurde? Solche Argumente beanspruchen ein Alleindeutungsrecht und wollen andere vom Gespräch ausschließen. Deswegen sind das einfach mal - entschuldigen Sie - ziemliche Sch...argumente.
Noch eine letzte Frage: Wie hätte ich Ihnen denn Karl-May-Kennerschaft demonstrieren können? Indem ich als Pseudonym "Leutnant von Wolframsdorf" gewählt hätte? Nun ja, es gilt wie immer: Fern und hoch liegt meines Ustad Haus. Hätten Sie gewusst, dass es zu steigen gelte, dann wären Sie aus diesem Forum nicht heraus …
Aber kann mir denn wirklich niemand sagen, was es mit dem Autor auf sich hat? Klar, googeln (besser ecosiaen) kann ich auch, aber ist es tatsächlich der Opern-Mensch (in dessem eigenen Werkverzeichnis dazu nichts steht)?
http://www.staatsschauspiel-dresden.de/ensemble/autoren/jan_dvorak/
Ansonsten Zustimmung, auch zum Post von Funkenmarie und Hawgh. Erfreulicherweise überwiegt auf dieser Plattform die konstruktive Debattenkultur. Leider hat Herr Funke hier den Ton bestimmt. Mehrere Diskutanten haben erfolglos versucht, ihm "auf die Sprünge" zu helfen. Lustigerweise hat es die Inszenierung durch dieses an der Sache vorbeigehende Geplänkel auf Platz 1 der Nachtkritik-Charts gebracht. Hauptsache, man ist im Gespräch. Doch das ist schon wieder ein anderes Thema.