This is not America

von Esther Slevogt

Berlin, 14. Januar 2017. Der Stoff trifft ins Herz der Zeit und der Abend fängt auch erst mal gut an: Per Videoprojektion sieht man über der Szene einen Mann, dem von einem Maskenbildner gerade wüste Verletzungen ins Gesicht geschminkt werden, während er in feinst artikulierender Schauspielerdiktion schildert, wie er fast totgeschlagen wird. Auf der Bühne eine trashige Westernstadt, Marke Themenfreizeitpark für Cowboy-Stuntshows. Mit ein paar Licht-, Musik- und Videoeffekten lassen sich hier wunderbare Atmosphären erzeugen. Es gibt Westerntanzeinlagen, rauchende Colts und markige Typen, wie den verkommenen Sheriff, dem Volkan Türeli eine gute Portion Neuköllner Ghettocharme mitgibt. Den versoffenen Journalisten Henry Locke, den Tim Porath zum Helden der Pressefreiheit aufblühen lässt. Oder Yousef Sweid, der es als Bösewicht mit dem doppeldeutigen Namen Liberty Valance im langen Mantel locker mit bekannten Italowesternhelden aufnehmen kann.

DerMannderLibertyValanceerschoss1 560 Ute Langkafel MAIFOTO uCoca Cola Forever! (Ensemble) © Ute Langkafel

Das Recht der Straße

Es ist im Berliner Gorki Theater mit Hakan Savaş Mican schließlich ein Atmosphärenprofi am Werk, der hier nun den berühmten Westernstoff "Der Mann, der Liberty Valance erschoss" für die Bühne adaptiert hat: als trashige Parabel und grobkörnige Zeigefingerrevue über die Werte westlicher Demokratie, die ja, wie wir wissen, gerade allenthalben mächtig ins Wanken geraten sind. Bald sind wir dann auch mitten drin in der süffig erzählten Geschichte vom jungen Anwalt, der Recht und Gesetz in den Wilden Westen bringen will, was er aber mit dem Leben bezahlt hätte, wenn ihn nicht ein Vertreter der alten (Un)ordnung mit der Waffe dabei unterstützt hätte, dieses Recht dann auch durchzusetzen.

Berühmt ist die Geschichte durch John Fords Verfilmung, der daraus 1962 mit James Stewart und John Wayne einen Westernklassiker machte: ein ikonografisches wie ideologisches amerikanisches Selbstporträt als Weltwertegeber und Weltpolizist. Hakan Savaş Mican hat für seine Bühnenadaption die dem Film zugrunde liegende Kurzgeschichte von Dorothy M. Johnson (1949 geschrieben und 1953 zuerst erschienen) verwendet. Sie ist schonungsloser und glorifiziert den amerikanischen Mythos und die Figuren nicht so hemmungslos wie Fords Film.

Und so sehen wir erst ein ziemliches Elend: eine Geschichte, die auch in irgendeinem Großstadtghetto spielen könnte, wo das Recht der Straße das Recht des Staates längst ausgehebelt hat und der Auf- und Aussteiger aus dem Milieu, Ransom Foster, mit Gewalt zurück ins Glied gezwungen oder ausgeschaltet werden soll. Mehmet Ateşçi und Taner Şahintürk spielen das hingebungsvoll klischeereich: der von Ateşçi mit glühendem Streberfuror und fett aufgetragener Linkishness ausgestattete Foster auf der einen, der von Şahintürk als melancholischer und emotional ladegehemmter Dorfmacho gegebene Bert Barricune auf der anderen Seite. Zwischen ihnen steht Lea Draeger als zupackende romantische Hallie, die sich wegträumt aus dem Sumpf. Noch ist sie unschlüssig, an wessen Seite. Ja, denkt man, das könnte etwas werden, so, wie dem Stoff hier erst mal alle Ideologie ausgetrieben ist, er aufs ironische Maß einer Mikrostudie heruntergebrochen wurde: nämlich Phänomene wie die an so vielen Fronten unter Druck geratene demokratische staatliche Ordnung, ihre Möglichkeiten und Grenzen im Kleinen zu untersuchen. Aber dann erhebt sich über allem ein Zeigefinger, der größer als das Leben (und leider auch als das Theater) ist. 

Demokratie für Dummies

Denn der rechtschaffende Anwalt beginnt bald, drehbuchgemäß die Bevölkerung des Ortes zu alphabetisieren und dem Unterricht dabei auch eine Portion Staatsbürgerkunde beizumischen. "All men are created equal", doziert Mehmet Ateşçi alias Foster also weniger frei nach Dorothy M. Johnson als nach Hakan Savaş Mican, und baut sich an der Rampe zum Publikum sprechend auf. Nun folgen Plattheiten, die einen vor Schreck fast unter den Sessel treiben, werden wir mit Plattitüden à la "Ja, man muss demokratisch für die Abschaffung der Defizite in der Welt und der Gesellschaft kämpfen!" bombardiert. Aus dem Publikum melden sich inszenierte Stimmen: "Murat darf nicht wählen, weil er Bürger eines anderen Landes ist." Zum Beispiel. Und mit gespieltem Glühen wird baldige demokratische Problemlösung in Aussicht gestellt. Anschließend wohnen wir der Inszenierung einer kasperletheaterhaften Delegiertenwahl bei. 

DerMannderLibertyValanceerschoss3 560 Ute Langkafel MAIFOTO uIns Schwarze getroffen?  Yousef Sweid (Liberty Valance) und Mehmet Ateşç ( Ransom Foster)
© Ute Langkafel

Von diesem Absturz ins Oberlehrertum Marke Demokratie für Dummies erholt sich der Abend nicht mehr. Auch wenn es noch ein paar interessante Versuche gibt, dabei die Fronten zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch zu verwischen. So erzählt Liberty Valance vor dem finalen Duell mit Ransom Foster Jorge Luis Borges’ berühmte Geschichte "Die zwei Könige und die zwei Labyrinthe", die das durch Gesetze strukturierte Staatswesen als Labyrinth von kafkaschem Ausmaß beschreibt und dieses der tödlichen Wüste der Freiheit gegenüberstellt. Im Todeskrampf würgt Liberty Valance schließlich noch einmal den David-Bowie-Song This is not America heraus. Doch wieso eigentlich Amerika? Ja, und dann endet alles wirklich im amerikanischen Wahlkampf. Der wackere Anwalt wurde zum Blender, zum Kandidaten. Er hat Hallie geheiratet, die nun mit Melania-Trump-Frisur und Glitzerkleid an der Rampe im Konfettiregen verlogene Reden schwingt. Aber das hatten wir alles als schlechtes Theater gerade auch schon mal in echt. 

 

Der Text wurde am 18. Januar um 11:10 Uhr aktualisiert. 

 

Der Mann, der Liberty Valance erschoss
von Hakan Savaş Mican nach der gleichnamigen Erzählung von Dorothy M. Johnson
Regie: Hakan Savaş Mican, Bühne: Sylvia Rieger, Kostüme: Sophie Du Vinage, Musik: Jörg Gollasch, Video: Hannes Hesse, Sebastian Pirchner, Dramaturgie: Ludwig Hauck.
Mit: Mehmet Ateşçi, Taner Şahintürk, Lea Draeger, Yousef Sweid, Tim Porath, Volkan Türeli, Sebastian Pircher (Live-Kamera).
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

"Um nichts weniger als den Kampf zwischen Wildnis und Zivilisation, für Freiheit und Demokratie, geht es in zwei Stunden Shootout", so Ute Büsing im Inforadio (15.1.2017) Natürlich müsse man bei diesem "im besten Sinne anrührenden Stück" auch an Amerika hier und heute denken.

"Dieser Western ist der perfekte Stoff fürs postfaktische Zeitalter", konstatiert Patrick Wildermann im Tagesspiegel (15.1.2017). Micans großartige Inszenierung wiederum rühre an unser "Bedürfnis nach dem Schaukampf, der uns jenseits irgendeiner Wahrheit von Schmerz, Niederlage und Gerechtigkeit erzählt".

"Ob AfD, Trump, Putin oder Erdogan – es ist fast unmöglich, unsere politische Gegenwart nicht in dieses Stück hineinzulesen", so Marie Kaiser im Deutschlandfunk (16.1.2017). Regisseur Mican erzähle eine rasante Geschichte, die keine Pointen auslasse.

"Zu weiten Teilen bleibt der Gorki-Abend Western-Theater, anrührend geradlinig herunterinszeniert", schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (15.1.2017). "Dabei hätte die Inszenierung es belassen können – die Links in die Gegenwart sind scharf genug." Aber der Abend entwickle sich zu "Theater auf Schlagzeilenniveau. Die Message: Die Donald-Trump-Wirklichkeit ist schlechtes Theater, ausgespuckt von der unverdauten US-Geschichte selbst." Die Inszenierung wolle belehren und laufe ins Leere. "Was nützt es denn, die Trump-Propaganda mit derart schlichter Gegenpropaganda zu kontern?"

 

Kommentare  
Liberty Valance, Berlin: Abziehbilder
Der Abend hat eine große Schwäche: Jedes Mal, wenn er die Möglichkeit hat, den einfachen Weg zu gehen, tut er das auch. Ernsthafter Diskurs ist schwierig, also lockern wir das ganze durch karikatureske Elemente auf. Tim Porath gibt den Lokaljournalisten Locke als brillantes Trinkerklischee, Volkan Türeli den Sheriff Kane als gewitzten Feigling. Wenn dann Ateşçi zunehmend zum Anwaltsklischee wird und Taner Şahintürk seinen Bert, den ehrlichen Cowboy mit dem großen Gerechtigkeitssinn aber null Illusionen, so sehr von John Wayne wegspielt, dass die Rolle in ihrer Sensibilität irgendwann fast verschwindet, dann fehlen bald schlicht die Charaktere, die einen ernsthaften Konflikt auszutragen vermögen. Auch Lea Draegers Hallie muss irgendwann zum albernen Abziehbild werden, muss sich so gar eine Freiheitsstatuen-Krone aufsetzen.

Stattdessen spielt der Regisseur lieber das Grundthema des Fassadenbaus, der Oberflächlichkeit und des Showcharakters politischer Kampagnen, des Scheins, der wichtiger sei als das Sein, in zahlreichen Variationen durch. Foster hat erst Erfolg, als er die politische Schauspielerei zu beherrschen gelernt hat, am Ende gewinnt der Showman des Neuen gegen den Star-Darsteller der alten Ordnung, wird der Mythos des einsamen Helden durch den des ehrlichen Volkstribuns ersetzt. Ein paar Trump-Anspielungen noch und schon ist die westliche Demokratie erklärt – und diskreditiert. Die Ansätze zu einer differenzierten Auseinandersetzung, die der Abend durchaus bietet, werden geopfert zugunsten einer unterhaltsamen und nicht allzu anstrengenden Politrevue, welche die Show-Mechanismen, die sie kritisiert, zugleich feiert. Die schwarzweißen Filmbilder sind schön, das Filmset-Motiv nett plakatives Symbol einer politischen Kultur, die längst vermeintlich purer Inszenierung gewichen ist. Am Ende steht Mehmet Ateşçi allein auf der Bühne, im blinkenden Lichteranzug. Eine Lichtgestalt mit verzweifeltem Gesicht. Das Publikum freut sich, befreit von der Verantwortung, über das Gesehene nachdenken zu müssen. Die Politikshow funktioniert hat auch im Theater. Wenn das nicht Amerika ist, was ist es dann? Egal, bei der Premierenfeier gibt es Sekt. Das ist wichtiger.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/01/15/make-theatre-great-again/
Liberty Valance, Berlin: Genervter
Ist halt ein absolut typischer Shermin Langhoff Abend! Immer ganz nah um dann doch von oben herab den moralischen Erklärbär zu geben... Auch immer gut die flache Ausländerkeule! Es nervt.
Liberty Valance, Berlin: John Ford
John Ford glorifiziert in seinem Film gar nichts.
Liberty Valance, Berlin: immer das gleiche
@2

Ist halt ein typischer Nachtkritik Kommentar. Immer ganz nah, um dann doch von oben herab die langweilige Bashingkeule aufs Gorki zu kloppen. Auch immer gut die ( in diesem Stück für etwa eine halbe Minute erwähnte) Ausländerthematik als ärgerlich zu entlarven. Es nervt nicht bloss. Es ist einfach langweilig.
Liberty Valance, Berlin: Behauptung
Mich würde auch interessieren, woher Esther Slevogt die Behauptung nimmt, die Originalerzählung wäre schonungsloser als der Film von John Ford. Aus dem verlinkten Artikel? Aber vermutlich kennen ja alle die Erzählung, weil man ja so gern englischsprachige Westernliteratur aus den 50th liest. In der Rahmenhandlung von Fords Film gibt es ja den berühmten Satz des Journalisten, dem Ransom Stoddard (so heißt der Anwalt im Film) die wahre Geschichte vom Tod des Liberty Valance erzählt. „When the legend becomes fact, print the legend!” Ford hat dazu in einer bereits 1967 erschienen Biografie gesagt: „Wir haben eine Menge Leute, von denen angenommen wird, daß sie große Helden gewesen sind. Und Sie wissen verdammt gut, daß sie es nicht waren. Aber es ist gut für das Land, Helden zu haben, um zu ihnen aufblicken zu können.“ Ein Regisseur der ähnlich arbeitet, ist ja z.B. Clint Eastwood. Vielleicht war Hakan Savas Mican diese Haltung zu suspekt. Aber sie ist eben typisch amerikanisch. Man hätte mit der Ambivalenz der Aussage des Journalisten und der Haltung Fords dazu arbeiten können. Das hat der Regisseur meiner Meinung nach verschenkt.
Liberty Valance, Berlin: Lakonie einer Lady
Lieber Stefan Bock,

die Originalerzählung ist als Paperback bei Barnes & Noble erhältlich.
http://www.barnesandnoble.com/w/man-who-shot-liberty-valance-dorothy-m-johnson/1100662144
und da mich aus beruflichem Interesse die Frage beschäftigt hat, warum Hakan Savaş Mican statt des Films die Erzählung seiner Inszenierung zu Grunde legen wollte, habe ich von den Möglichkeiten des Buchhandels Gebrauch gemacht. Und das Verhältnis Johnson-Orginal zum Ford-Film ist etwa so wie das der Serie Homeland zum israelischen Original Hatufim. Eher dunkle als strahlende Helden, wenn überhaupt Helden. Keine Hollywood-Posterboys, sondern eben auf Lebensgröße geschrumpfte Figuren. Weniger Ideologie und Mythos. Und die Lakonie einer Lady, statt Machodiskurs.

Freundliche Grüsse
Esther Slevogt
Liberty Valance, Berlin: Einblick in Mühen + Obsessionen
...und nebenbei bekommt man einen sehr guten Einblick in die Mühen und die beruflichen Obsessionen von professionellen Zuschauern, wenn sich Redakteur*innen auch einmal auf das Gespräch mit Kommentator*innen einlassen! - Vielen Dank, nk - da weiß man, was man hat:)
Liberty Valance, Berlin: zuviel Ironie und falsches Pathos
Danke für die Auskunft, liebe Esther Slevogt. Dann scheint Mician bis auf die Lakonie der Lady, die hier fast ein wenig zu dick aufgetragen ist, das Buch aber nicht so gelesen zu haben wie Sie. Zuviel Ironie und falsches Pathos. Zumindest hofft man eigentlich die ganze Zeit, dass er es nicht doch ernst meint. Der Einfluss des Films ist da doch deutlicher zu spüren. Es hätte ein guter Beitrag gegen Ideologie werden können, wenn sich Mician dann auch mehr am Film abgearbeitet hätte. Eigentlich weiß ich überhaupt nicht wirklich, was er mit der Inszenierung bewirken will. Der Versuch einer plakativen Mythendemontage wird zur billigen Farce samt elektrischem Reiter als Vertreter des kleinen Mannes.
Liberty Valance, Berlin: Korrektur
Kritik besteht ja bekanntlicher Weise weniger aus Fakten, als aus subjektiven Gedanken, aber ein Fakt ist, das es keine MaskenbildnerIN war sondern ein Mann. (So viel Zeit muss sein.) Ich stelle immer wieder fest das bei Nachtkritik Schauspieler und Rollen verwechselt werden. Ich bin der Meinung so viel Journalismus Ehre sollte man haben das diese Angaben korrekt sind. Wenn der Rest sowieso oft empathielos und mit der Keule beurteilt wird. Zu recht oder nicht ? ! Das bleibt jedem selbst überlassen.

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Liebe/r Giese,

vielen Dank für den Hinweis. Sie haben recht. Es war ein Mann. Wir haben die Stelle korrigiert.

Herzlich
miwo/Redaktion
Liberty Valance, Berlin: pessimistische Pointe
„Auf welchem Fundament ist das, was wir nennen, aufgebaut?“, fragte der Regisseur Savaş Mican im Programmheft und gibt mit seiner Inszenierung die pessimistische Antwort: Politik ist zum Showgeschäft verkommen. Eine Trump-Figur wie Liberty Valance kann nur ein skrupelloses Paar verhindern, das auch nicht so streng zwischen Wahrheit und „alternativen Fakten“ unterscheidet. Darüber darf auch nicht das Pathos hinwegtäuschen, mit dem der Anwalt, den Mehmet Ateşçi spielt, in einem Demokratie-Crashkurs die Grundwerte der westlichen Verfassungen beschwört.

Der Anwalt Ransom Foster (Mehmet Ateşçi), der sich eben noch sehr linkisch abmühte, die Frontier-Gesellschaft mit rechtsstaatlichen Normen vertraut zu machen, wurde von seinen Beratern in einen Glitzer-Anzug gesteckt. Mit dem Auftrag, „Amerika wieder groß zu machen“, wird er nach vorne an die Rampe geschoben und fühlt sich sichtlich unwohl in seiner Haut. Mit ängstlichem Blick sucht er Halt, bevor das Licht ausgeht und die Bühne im Dunkel versinkt.

Bis zu diesem Showdown mit pessimistischer Pointe plätschert der Western-Plot recht betulich dahin: einige Westerntanz-Einlagen und stark überzeichnete Figuren wie der alkoholsüchtige Lokaljournalist und der tatenlos zusehende Sheriff lockern den Abend auf.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/01/29/der-mann-der-liberty-valance-erschoss-hakan-sivas-mican-macht-sich-gedanken-ueber-den-zustand-der-demokratie/
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