... weil wir ihm nicht vergeben

von Michael Wolf

Berlin, 20. Januar 2017. Bernd Moss ist ein charmanter Gastgeber. Aufmerksam drückt er mir ein Glas Sekt in die Hand. "Der mit den Drehungen!", schäkert Moss mit ein paar Damen. "Ich hoffe, der reicht auch." Der richtige Sekt, der mit den Drehungen, geht zur Neige. Den Theatersekt, schnödes Mineralwasser, verschmäht das Publikum. Logisch. Ein kleiner Schwips vor dem zweiten Klingeln ist nur vernünftig. Da braucht es gar keinen Verweis auf Dionysos – bekanntlich zugleich Gott des Rausches und des Theaters. Jeder Pollesch-Abend sollte mit einem Sternburg-Export auf den Treppen der Volksbühne beginnen. Bei Castorf rate ich zu einem Viertel Riesling und den restlichen drei Vierteln in der tiefen Innentasche, für Vegard Vinge gilt: Wodka-Bull für die Dame, Lockstedter für den Herrn. (Da müssen Sie durch.)

Und Anne Lenk und Sekt? Das passt, das perlt. Alles spricht für eine gemütliche Feier im kleinen Kreis. Wir werden durch die Kammer auf eine Hinterbühne geführt. Dort setzen wir uns auf zwei gegenüberliegende Tribünen und schon gehören wir zur Familie. Wir sind keine Zuschauer mehr, sondern Gäste der Geburtstagsfeier des Patriarchen Helge.

Einige Schauspieler bleiben bis zum Schluss zwischen den Zuschauern sitzen. Bernd Moss lässt uns zu Ehren des Geburtstagskindes einen Kanon singen. Kunststücke von Kindern und eine Beamer-Show mit Kinderfotos erinnern an eigene Familienfeste. Das ist alles sehr leicht zu durchschauen und funtioniert gleichwohl. Als Michael, einer der Söhne des Jubiliars, seine Frau anbettelt: "Komm, bisschen ficken jetzt!", entfährt meiner Sitznachbarin ein tadelndes "Na!" Immersion lässt sich ganz beiläufig arrangieren.

DasFest1 560 Arno Declair hAlexander Khuon sprengt als anklagender Sohn Christian die Familienfeier © Arno Declair

Die vierte Wand ist eine Drehtür

Lenk spürt damit der filmischen Vorlage nach. Das Fest von Thomas Vinterberg ist der erste Film, der nach dem Regelwerk der Gruppe Dogma 95 produziert wurde. Das Kino sollte nicht möglichst gute Illusionen erzeugen, sondern sich selbst und seine Mittel bewusst ausstellen (Brecht ließ grüßen). Es durfte z.B. nur mit Handkameras und ohne Scheinwerfer gedreht werden. Heraus kam verblüffenderweise eine Geschichte, deren Sogwirkung keinen Schaden daran nimmt, dass ständig wer in die Kamera guckt.

Am Deutschen Theater sind die Vorzeichen genau umgekehrt. Ein Blick in die Kamera entspricht hier dem Blick ins Publikum. Aber wir gehören ja dazu. Wir sind im doppelten Sinne herzlich eingeladen, Teil des Abends zu sein, Gäste einer Party. Die vierte Wand ist hier eine Drehtür. In diesem Setting kann das Ensemble ohne schlechtes Gewissen der Spielweise frönen, in der es berlinweit ungeschlagen ist: leicht angestaubter Realismus.

Michael Gerber und Jürgen Huth erzählen herrlich blöde Altherrenwitze. Lisa Hrdina oszilliert mühelos zwischen nymphomanischer Ulknudel und verletztem Töchterchen. Ihrem arabischen Freund stellt Barbara Schnitzler als Ehefrau des Jubiliars wunderbar harmlos rassistische Fragen.

Für immer schuldig

Einzig und ausgerechnet Alexander Khuon bleibt blass. Er spielt Christian, den Sohn des Geburtstagskindes. Vor versammelter Festgemeinschaft beschuldigt er seinen Vater, ihn als Kind vergewaltigt zu haben. Es ist natürlich der Vorlage geschuldet, dass es erst seiner Schwester gelingt, die Feier endgültig zu sprengen. Jedoch: Ein bisschen liegt es auch an Khuons Spiel. Ich nehme ihm seine Figur ab, aber nicht deren Schmerz. Gestik, Mimik, Sprache – über allem liegen bei ihm Adjektive.

Sein Kontrahent Jörg Pose dagegen steht als Vergewaltiger schließlich allen Blicken ausgesetzt in der Mitte des Raums: "Ihr werdet immer meine Kinder sein." Das bedeutet, dass er immer schuldig bleiben wird. Und zwar auch, weil wir ihm nicht vergeben. Er schluchzt, bebt, heult erbärmlich – aber nicht erbarmenswürdig. Seine Frau wird von ihrer eigenen Tochter weggeschickt, weil sie ihre Kinder nicht geschützt hat. Der ältere Teil der Familie schlägt sich auf die Seite des Patriarchen und verlässt den Raum. Wir aber bleiben sitzen. Und beziehen Stellung.

Hier kippt der Abend kurz vorm Ende noch mal. Zum Glück, zum Unglück. Anne Lenk macht es uns nicht leicht, geurteilt zu haben. Als Teil der Festgemeinde sind wir Richter über diesen Mann. Da steht er und friert in unserer Mitte. Mehr allein geht nicht.

 

Das Fest
von Thomas Vinterberg und Mogens Rukov
für die Bühne bearbeitet von Bo hr. Hansen
Deutsch von Renate Bleibtreu
Fassung von Anne Lenk und David Heiligers
Regie: Anne Lenk, Bühne: Halina Kratochwil, Kostüme: Sibylle Wallum, Musikalische Leitung: Leo Schmidthals, Licht: Marco Scherle, Dramaturgie: David Heiligers.
Mit: Jörg Pose, Barbara Schnitzler, Alexander Khuon, Lisa Hrdina, Camill Jammal, Anita Vulesica, Thorsten Hierse, Franziska Machens, Bernd Moss, Jürgen Huth, Katharina Matz, Michael Gerber, Damian Fink, Josefine Jellinek, Lea Metscher, Leosander Scheithauer.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Das suggerierte 'Mittendrin' bleibt als Fake spürbar", auch wenn man sich immer mal wieder ein Klingenfeldt-Hansen unters Publikum mische, schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (22.1.2017). So würden eher Kindergeburtstags- als "Fest"-Assoziationen wach, wenn der Toastmaster dazu auffordert, wechselweise sich selbst oder das Glas zu erheben. Fazit: "Der Abend schnurrt wirklich grundsolide ab, bleibt aber in etwa so nachhaltig wie der Schluck Sekt, mit dem er begonnen hatte."

"Unerbittlichkeitstheater" mit vielen Tränen hat Dirk Pilz für die Berliner Zeitung (23.1.2017) erlebt. Alles ist "so einfühlungsecht wie irgend möglich" eingerichtet. "Wir sollen vergessen, im Theater zu sitzen, wir sollen Mitfühler, Mitmacher, Mitspieler sein, theoretisch." Während die Film-Vorlage die Schuldfrage beunruhigend offen lasse, gerate dieser Abend in den "Sog der Eindeutigkeit".

Für Elisa von Hof in der Berliner Morgenpost (21.1.2017) dauert es etwas lang, bis diese Feier "in Schwung kommt". Wer den Film kenne, werde von dem Abend "nicht überrascht", befindet die Kritikerin. "In Lenks Version ist man bloß mittendrin, im Kreis rund um die Bühne (Halina Kratochwil) wie um einen Boxring. In dem zerstört sich diese Familie, auch ohne Fäuste."

 

 

Kommentare  
Das Fest, Berlin: hautnah dabei
"Das Fest" von Thomas Vinterberg ist ein Meisterwerk: intensiv, mit packender Dramaturgie, zurecht 1998 mit dem Großen Preis der Jury auf dem renommiertesten A-Festival in Cannes ausgezeichnet. Er war der Anfangs- und zugleich schon Höhepunkt der dänischen Dogma-Bewegung.

Anne Lenk und ihr Dramaturg David Heiligers machen bei ihrer Adaption fürs Theater viel richtig. Sie setzen das Publikum mitten ins Geschehen dieser zwar perfekt durchgeplanten, aber völlig aus dem Ruder laufenden Familienfeier. Dieses Konzept, hautnah dabei zu sein, wurde zuletzt schon mehrfach in diesem Haus ausprobiert, z.B. bei „Väter und Söhne“ und „Untergang des Egoisten Fatzer“, passte aber noch nie so gut wie bei diesem Kammerspiel über eine Familie, die sich auf engstem Raum versammelt hat und den unter den Teppich gekehrten Wahrheiten nicht länger ausweichen kann.

Die zweite glückliche Entscheidung dieses sehenswerten Abends war, dass Lenk/Heiligers an ihrer Fassung trotz einiger Freiheiten (vor allem im ersten Teil) ziemlich nah am Original bleiben.

Hierin unterscheiden sie sich deutlich von der letzten „Das Fest“-Inszenierung, die in Berlin zu sehen war, nämlich Christopher Rüpings Stuttgarter Gastspiel beim Theatertreffen 2015.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/01/20/das-fest-sehenswerte-adaption-des-herausragenden-dogma-films-von-vinterberg-am-deutschen-theater/
Das Fest, Berlin: das Theater ist wichtiger als sein Kritiker
Bitte, wenn man "ich" sagt, muss das einen Grund haben. Hier hat es nur den Grund, immer auf sich selbst zu verweisen, (...). Es ist ja auch immer der einfachste Weg, mal eben "ich" hinzuschreiben. Nehmt euch nicht so wichtig, das Theater ist wichtiger als der Kritiker. Und bitte, redigiert ihr nicht mehr?
Das Fest, Berlin: warum "Ich" gesagt wird
Lieber Harald Scholz,

von Eitelkeit bin ich keinesfalls frei. Das Ich in meinem Text hat allerdings seine guten Gründe.
Nehmen wir den Satz:
„Ich nehme ihm seine Figur ab, aber nicht deren Schmerz.“

Ich wollte diesen Satz schreiben, weil er den Vorbehalt gegenüber Khuons Spielweise noch mal besser beschreibt als die vorherigen.

Nun brauche ich für diesen Satz ein Subjekt. Ich könnte „Ich nehme ...“ schreibe oder auch
„Wir nehmen ...“ oder „Man nimmt ...“

In beiden Fällen würde der Satz beiläufiger klingen und weniger auf mich als Autoren verweisen. Ich habe mich dennoch dagegen entschieden.
Ich glaube, wer „Wir“ oder „Man“ schreibt, denkt eigentlich „ich“. Ich halte es für unaufrichtig „Wir“ oder „Man“ zu schreiben. Insbesondere an dieser Stelle wäre alles andere als "Ich" m.E. sogar unfair gewesen. Und zwar, weil eben „ich“ – ein Kritiker mit einem Namen, den man in Kommentaren kritisieren darf – einen Schauspieler kritisiert. Und nicht eine anonyme, pauschale Instanz wie "Man" oder "Wir".

Viele Grüße
Michael Wolf
Das Fest, Berlin: Ich sagen reicht nicht, beschreiben Sie!
Aber Herr Wolf, es reicht nicht zu sagen, dass Sie einem Schsuspieler die Figur nicht abnehmen und das mit "ich" begründen,das sagt doch nichts. Sie müssen das begründen können, indem Sie die Spielweise beschreiben, die Figur analysieren usw. Das ist das Handwerk,und das vermisse ich hier - einfach "ich" sagen, besagt eben nichts. Beschreiben Sie genau,wie sie spielen, dann können Sie vielleicht auch ich sagen.
Das Fest, Berlin: mit keinem Wort
Sehr geehrter Herr Wolf,

Schade, dass Sie mit keinem Wort den Schauspieler Jamal erwähnen, der den Michael gespielt hat. Ich persönlich war sehr angetan von dessen Spiel und der Rollenanlage. Auch und vorallem im Gegensatz zu der Vorlage im Film.

Sonst aber eine durchaus schöne Kritik und ich bin mit dem meisten d`accord.
Das Fest, Berlin: Macht des Verdrängens
Was Anne Lenk meisterhaft (kaum gestört durch ein paar unnötige Schlenker, etwa eine etwas platte Liebesgeschichte und eine unnötige Rassismusparodie) vorführt, ist die Stärke der kollektiven Illusion, die Macht des Verdrängens, den Zwang des Weiter-So. Das Familiengefüge, das immer schon Gesellschaft in nuce bedeutete, muss stabil gehalten werden, eine Stabilität, die manchem – wie der eisigen Großmutter (Katharina Matz), die lange, nachdem die Familienmehrheit Christian recht gegeben hat, ihn als Nestbeschmutzer geißelt – wichtiger ist, als Wahrheit, Gerechtigkeit und das Eingeständnis von Schuld. Die Dynamik, die Logik, mit der die Ordnung immer und immer wieder hergestellt wird, mit der Christian zunächst versucht wird, wieder einzunorden und, als das nicht gelingt, ausgeschlossen wird, führt der Abend mit einer Sachlichkeit, Präzision und unbestechlichen Beobachtungsgabe vor, die frösteln macht. Wenn etwa Jörg Pose als Vater, Rückenwind spürend, seinem Sohn vermeintlich wohlwollend ins Gewissen redet, gerät dies zu einer Fallstudie in passiv-aggressiver Unterdrückungsmechanik. Das Räderwerk funktioniert noch, die Maschinerie des schönen Scheins lässt sich nicht so leicht stoppen.

Als sie dann doch ins Stocken gerät, der Vater bloßgestellt ist und die Wahrheit ans Licht kommt, braucht es nicht lange, den Apparat neu zu justieren. Jetzt ist halt der Vater der Außgestoßene, schließen sich die Reihen. Der kleine Bruder, der gerade noch den Netstbeschmutzer an einen Baum fesselte, attackiert den neuen Paria, die freundlich misstrauische Schwester (Lisa Hrdina), die soeben noch die Lügenkeule schwang, gibt sich als solidarische Mitstreiterin und der beste Freund des entlarvten, weint Krokodilstränen und gibt sich schockiert. Wieder wird mit Sekt angestoßen, die Ordnung ist wiederhergestellt, das wir und sie neu definiert, Gut und Böse wieder im Lot. Und wir, die Zuschauer? Wie sind Teil des Ganzen, wir freuen uns über den Triumph der Wahrheit und die Schande des Täters, sind erleichtert, dass wir auf der richtigen Seite sind. Und diese Auf-einer-Seite-Sein, das ist es doch, was Ordnung schafft, oder? Die Sicherheit zu wissen, woran man ist. Das wohlige Gefühl, Teil zu sein der Gemeinschaft, des Guten, Wahren, Richtigen. Ganz so wie am Anfang. Darauf einen Sekt, schließlich ist es gerade wieder so schön gemütlich.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/01/21/das-wird-bestimmt-gleich-wieder-gemutlich/
Das Fest, Berlin: intelligente Antwort
Lieber Michael Wolf,
ich danke Ihnen für diese intelligente Antwort. Die Meinung eines Kritikers ist immer eine subjektive. So erscheint für mich als Leser die Beschreibung der Wahrnehmung eines Kritikers durch Wörter wie "Ich" glaubwürdiger als "Man" oder "Wir".

Beste Grüße

Daniel Rothaug
Das Fest, Berlin: abgehandelt, nicht verhandelt
Natürlich sind Kritiken subjektiv, allerdings doch nicht von Anfang bis Ende! Mir fehlt es in diesem Text von dem etwas albernen Anfang an (worum geht es da eigentlich? Eine ziemlich launige Passage an prominenter Stelle, die nichts über den Theaterabend erzählt und viel über den Autor) bis zum Ende auch nur der Versuch, Textteile objektiver zu gestalten und klassisch journalistisch zu arbeiten, also tatsächlich eine genaue Beschreibung der Inszenierung zu leisten sowie eine Analyse. Worum es gehen soll inhaltlich, und ob das irgendwie interessant ist für Theater und Welt, das wird ja allenfalls hemdsärmig-nebenbei abgehandelt. Nicht verhandelt. Schiere Subjektivität ist doch kein Grund, einen Text zu lesen, denn ich lese ihn ja nicht wegen Herrn Wolf, sondern wegen der Künstlerinnen und Künstler, wegen des Theaters.
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