Roadmovie ans Meer

von Gerhard Preußer

Düsseldorf, 21. Januar 2017. "Faust (to go)" - Faust zum Mitnehmen? Faust auf die Hand, im Laufschritt zu verzehren? Nein, die Schauspieler nehmen ihre Inszenierung mit von Ort zu Ort. Ein Klassiker-Projekt, das das Laufen lernt.

Das Faust-Projekt ist Teil der Offensive, mit der Wilfried Schulz, der neue Düsseldorfer Schauspielintendant, der Vertreibung des Theaters aus dem Schauspielhaus durch immer wieder verzögerte und in Frage gestellte Renovierung mit einer verstärkten Verankerung des Theaters in der Stadt begegnen will. "Wenn die Zuschauer nicht ins Schauspielhaus kommen können, kommt das Theater eben zu den Zuschauern" ist die Maxime. Dezentralisiertes Theater ist vielleicht aber auch die Anpassung an eine Gesellschaft ohne Zentrum.

Mediale Mischung machts

Raus aus den Schauspielhäusern, hinein in die Fabrikhallen, Bunker, Kirchen. Es war einmal ein Theater, das entdeckte die Räume. Aber das Düsseldorfer "Faust"-Projekt folgt nur scheinbar dieser Tradition. Der reale Raum ist obsolet, viel attraktiver ist der virtuelle Raum. Das Bühnenbild ist klappbar, transportabel, eine Bretterbude überall aufzuschlagen, dazu vier Leuchttische, zwölf Scheinwerfer und ein Projektor (Bühne: Irina Schicketanz). Kirche, Freizeitstätte, Psychiatrie, Schule, Gericht, Kulturkreis, Künstlerverein und Industrieclub sind die bisher geplanten Orte.

Jedoch nicht charakterisierende Räume werden gewechselt, sondern Zuschauergruppen. Das ist die Gegenwart: der Raum schnurrt zusammen zur Bedeutungslosigkeit. Space, der virtuelle Raum, ist das System, in dem wir nach Bedeutung suchen. Der Thespiskarren transportiert eine Projektionsfläche für Videos.

Fausttogo1 560 Sebastian Hoppe uFaust als Projektionsfläche: Stefan Gorski, Torben Kessler vorne auf der Bühne, raffiniert die Videos
dazugemischt © Sebastian Hoppe

Die Anforderung, einen Klassiker sowohl mit lokalem als auch aktuellen Bezug zu inszenieren, erfüllt Robert Lehnigers Inszenierung problemlos. Sie beginnt mit ein paar Sentenzen des Beschleunigung-Theoretikers Paul Virilio, gesprochen vom Darsteller des Faust (Torben Kessler) im Video. Der Fortschritt ist die Katastrophe. Die Menschheit hat sich einen unbewohnbaren Augenblick erschaffen. Dann beugt sich eine Mannschaft von Pathologen in Schutzkleidung über die Klassiker-Leiche Faust, die nun aufersteht und die Greisenmaske sich vom Kopfe zieht. Was folgt, ist eine unterhaltsam raffinierte Mischung aus Live-Video, vorproduziertem Video und gegenwärtigem, leibhaftigem Spiel. Nur die 8-Uhr-Abendglocken, pünktlich zu Mephistos erscheinen, und einmal ein akkordisches Orgelgrollen erinnern daran, dass die Premiere in der protestantisch-nüchternen Christuskirche in Düsseldorf-Oberbilk stattfindet.

Gretchens Timeline

Zeigt uns Faust, wer wir sind? Eilige, Getriebene, Unzentrierte. Ja, so muss es sein. So ist die Auskunft immer schon gewesen. Und was macht der Unbehauste nun? Mietet sich ein Wohnmobil. Mit diesem Gefährt bereist er Düsseldorf, man erkennt das "Pudelparadies", den "Mephisto"-Schuhladen. In der Schüler-Szene gibt Faust echten Düsseldorfer Schülern Autogramme und Mephisto (Stefan Gorski) macht im Wohnwagen Studienberatung für Schülerinnen, die Kommunikationsmanagement studieren wollen.

Fausttogo2 560 Sebastian Hoppe uCennet Rüya Voß als Gretchen, links im Bild: unbezopft energieversprühend © Sebastian Hoppe

Alles echte Videos. Und in Echtzeit texten Lieschen (Anya Fischer) und Gretchen SMS-Nachrichten auf ihren Handys über das schändliche Bärbelchen, dass nun schwanger ist. Auch die Walpurgisnacht ist nur eine virtuelle Ausschweifung: auf der Videoprojektionsfläche winden sich kunstvoll verzerrt die beiden Damen, die sonst Gretchen und Marthe spielen, doch davor stehen Faust und Mephisto mit vorgeschnallten Miniscreens auf den Augen und begrapschen die Luft, die sie für Frauen halten.

Ewige Unbedingtheit des Gefühls

Solche medial gewitzten Kalauer gibt es viele, wirklichen Gewinn aus der munteren Medienmischung aber zieht nur Cennet Rüya Voß als Gretchen. Ein untypisches Gretchen, klein, rund und Energie versprühend, gelingen ihr Tonfälle und Gesten, die aus dem bekannten blond-bezopften Unschuldslamm eine junge Frau machen, ohne dass Goethes Sprache dabei irgendwie altertümlich wirkt.

Auch in der Kerkerszene, als sie im Bühnenkasten versteckt unter einer Dusche kauert, aber in Großaufnahme auf der Projektionsfläche sichtbar wird, gelingt ihr diese Gratwanderung zwischen unsentimentaler Reflektiertheit und Unbedingtheit des Gefühls. Zum Schluss wird sie von Faust über den Asphalt einer Autobahnraststätte geschleift, bleibt liegen, kriecht zurück und Faust läuft von großen Projekten träumend ins Meer. Gerichtet oder gerettet wird hier niemand. Faust II kann folgen.

"Faust" ist für drei Jahre Abiturthema in NRW. Das lässt sich kaum ein Theater hier entgehen: Faust-Inszenierungen in Bonn und Düsseldorf schon in der letzten Spielzeit. Nun schon wieder Düsseldorf: mobil und absolut schüleradäquat.

Faust (to go) – eine mobile Inszenierung
von Johann Wolfgang Goethe
Regie und Video: Robert Lehniger, Bühne und Kostüm: Irina Schicketanz, Musik: Daniel Murena, Dramaturgie: Beret Evensen.
Mit: Torben Kessler, Stefan Gorski, Cennet Rüya Voß, Thiemo Schwarz, Anya Fischer.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.dhaus.de

 

Kritikenrundschau

"Die Christuskirche als Spielort erwies sich als Volltreffer. Wenn Gretchen ihre berühmte Frage stellt, wirkt das in diesem Setting natürlich sehr stimmig. Zudem eröffnet der Ort viel Spielraum", lobt Florian Sawatzki von der Westdeutschen Zeitung (22.1.2017). "Schräge Einlagen mit viel Düsseldorfer Lokalkolorit auf der Leinwand und klassische Spielszenen im kargen Bühnenbild mit drei beleuchteten Tischen halten sich bei 'Faust to go' die Waage. Beide Elemente werden meist auf raffinierte Weise miteinander kombiniert, was von den fünf Schauspielern oft ein sekundengenaues Timing erfordert." Die mutige wie ambitionierte Idee sei am Ende aufgegangen.

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