Mutter Courage und ihre Kinder - Am Hamburger Thalia Theater inszeniert Phillip Becker einen braven Brecht
Gefühlschoräle mit Gewusel
von Katrin Ullmann
Hamburg, 27. Januar 2017. "Nehmt's mich mit!" ruft sie am Ende. Der Krieg geht schließlich weiter und damit auch das Geschäft. Kreuz und quer durch Europa hat Mutter Courage ihren Karren gezogen – allzeit bereit für einen Handel. Auch nach fast 20 Jahren ist sie's noch, als sie ihre drei Kinder an den Krieg verloren hat und auch ihre Hoffnung. Doch dass die Protagonistin am Ende nicht zur Einsicht kommt, nichts "lernt aus ihrem Elend", gerade das sei "die bitterste und verhängnisvollste Lehre des Stücks", bemerkt Bertolt Brecht in seinen Notaten.
Im Thalia Theater sitzt Gabriela Maria Schmeide am Schluss erschöpft in der Bühnenmitte. Und kurz glaubt man, sie hätte tatsächlich aufgegeben. Lag doch eben noch die tote Tochter (Lisa Hagmeister) in ihren Armen, zuckte da nicht gerade eine leise Spur der Verzweiflung durch ihr Gesicht. Doch da hebt sie ihren Arm und ihre Stimme und man weiß: Sie wird weitermachen. Denn im Krieg floriert der Handel – "statt mit Käse ist's mit Blei".
Gabriela Maria Schmeide (li.) hat als Mutter Courage nicht viel Zeit zu trauern (re.: Lisa Hagmeister) © Krafft Angerer
Regisseur Philipp Becker hat das Brecht'sche Exildrama von 1939 auf die Bühne des Thalia Theaters gebracht. Mit seiner ersten Arbeit an diesem Haus eröffnet er auch die Lessingtage, die dieses Jahr im Zeichen des 500-jährigen Reformationsjubiläums stehen. Höchstvermutlich erklärt das die Wahl des Stücks – ein originärer Regieansatz findet sich an diesem Abend nicht – schließlich spielt das Drama im Dreißigjährigen Krieg, einem Glaubenskrieg, einer Spätfolge der Reformation.
Bettina Pommer hat eine schlichte, dunkelgraue Bühne entworfen. Fast bleiern wirkt diese Holzfläche, der Form nach eine Arena, auf ihrem rückseitigen Schutzwall ist das sechsköpfige Musikerensemble platziert. Und die großartige Gabriela Maria Schmeide kämpft darin, mit Worten und mit ruhiger Entschlossenheit. Im schlichten Kittelkleid (gegenwartsferne Kostüme: Katharina Müller) führt sie durch die zwölf Bilder, singt, kommentiert und moderiert.
Mutter Courage ohne Courage inszeniert: mit Gabriela Maria Schmeide © Krafft Angerer
Meist steht sie baumfest in der Bühnenmitte, nichts kann und wird sie erschüttern. Weder der Tod ihres jüngeren Sohns Schweizer Kas (Julian Greis) noch der ihres älteren, Eilif (Paul Schröder). Ohne ihre Stimme zu erheben, führt sie fordernde Verhandlungen mit Feldhauptmann (Victoria Trauttmansdorff), Feldwebel (Matthias Leja) oder Koch (André Szymanski). Sie weiß, was sie tut und tun muss – zumindest solange Krieg herrscht. Nur als dieser kurzzeitig eine Pause einlegt, da gerät sie ins Wanken. Da tastet sie sich mit unsicherem Schritt über die Bühne, ist instabil, fast orientierungslos. Es ist ein einfaches, ein (über)deutliches Bild, das Philipp Becker da benutzt. Doch es funktioniert. Und an einem Abend, an dem sich der Regisseur offenbar dem schonenden Nacherzählen verschrieben hat, freut man sich über eine solche Irritation.
Ehrfurcht vor der Staubschicht
Meist jedoch wirken Beckers Szenen zu gestellt, künstlich konstruiert: Da strebt ein etwa 30-köpfiger Chor (der zwischendurch die eigens komponierten, sehr getragenen Choralkompositionen von Johannes Hofmann interpretiert) als spiralförmiger Massenauflauf über die Bühne, da stellen sich Courage's Kinder in den Windschatten ihrer Mutter, während die Feldherren am vorderen Bühnenrand debattieren, da tänzelt Yvette Portier (Victoria Trauttmansdorff) wieder und wieder barfuß im Kreis. Auf diese Bilder folgen Paul-Dessau-Lieder, auf diese dann ins Publikum gerichtete Gefühlschoräle, später wieder Massenszenen mit Gewusel.
Das Brecht'sche Drama erzählt sich trotz aller Schauspielerleistung nur schleppend und vor allem ganz ohne Schrecken. Sind wir noch im Thalia Theater oder erwachen wir gleich im Berliner Ensemble? Regisseur Philipp Becker hält allzu ehrfüchtig vor der Staubschicht inne – er hat sich noch nicht einmal einen Staubwedel besorgt.
Mutter Courage und ihre Kinder
von Bert Brecht, Musik von Paul Dessau
Regie: Philipp Becker; Musik / Komposition Choräle: Johannes Hofmann; Bühne: Bettina Pommer; Kostüme: Katharina Müller: Choreografie: Graham Smith.
Mit: Julian Greis, Lisa Hagmeister, Matthias Leja, Gabriela Maria Schmeide, Paul Schröder, André Szymanski, Victoria Trauttmansdorff.
Musiker: Carolina Bigge (Schlagwerk, Bandleitung), Eva Barta (Klavier, Cello), Anita Wälti (Trompete, Flügelhorn), Natascha Protze (Flöte, Piccolo-Flöte, Klarinetten), Kerstin Sund (Gitarren), Arne Straube (Akkordeon, Orgel, Cello) Kammerchor Altona & Gäste;
Chorleitung: Uschi Krosch.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.thalia-theater.de
Redaktioneller Hinweis: Im letzten Absatz wurde am 29.1.2017, 13:15 Uhr ein Satz zu den urheberrechtlichen Bedingungen von Brecht-Inszenierungen gestrichen.
Kritikenrundschau
Becker setze auf Emotionen, meint Heide Soltau vom NDR (28.1.2017). "Das Theater kann über Bilder, Sprache und Musik Eindrücke vermitteln, die über das Rationale hinausgehen. Es kann Erlebnisräume öffnen und darüber Gedanken anstoßen. Und das hat diese Inszenierung geschafft - mit einer großartigen Gabriela Maria Schmeide." Ihre Mutter Courage werde man nicht vergessen.
"Becker ist ein überaus präziser, ernsthafter, gleichzeitig arg braver Abend gelungen", findet Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (30.1.2017). Er habe "sich dafür entschieden, den Text sehr wörtlich zu nehmen" – das "lässt die Idee eines wirklich eigenen Zugriffs vermissen." Zumindest wird man sich an diese solide Inszenierung aber als "Abend großer Schauspielkunst" erinnern.
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(Sehr geehrter Herr Festersen, natürlich haben Sie, was die Kürzungen bei Brecht betrifft, Recht. Der Satz wurde gestrichen. MfG wb)
Ich bin überwältigt von der Spannung. Waaaaaaaaaauuuuuuueeeee