Warten auf Sade

von Christoph Fellmann

Zürich, 2. Februar 2017. Yukio Mishima wurde 1925 geboren. Er nannte sich nach den japanischen Worten für Schnee und für jene drei Inseln, von denen aus der Fuji, der höchste Berg in Japan, zu sehen ist. Im Gymnasium lernte er die europäische Literatur kennen, die er später, in seinen eigenen erfolgreichen Romanen und Stücken, teilweise imitierte. 1966 schloss er sich einer national und auf die kaiserliche Tradition ausgerichteten Bewegung an, gründete eine Miliz, stürmte mit vier Kameraden das Militärhauptquartier in Tokio, nahm eine Geisel und forderte die Auflösung des Parlaments. Dann beging er Selbstmord, gemeinsam mit seinem Lover und gemäß den tradierten Regeln der Samurai.

Mit einer Kitschversion dieses Todes, mit blutroten Blüten, die der Tänzerin Kuan-Ling Tsai aus dem Mund und vor die Knie fallen, lässt Alvis Hermanis auch diesen Theaterabend am Pfauen in Zürich beginnen. Weil: "Mit seinem Freitod setzte er [Mishima] ein Zeichen gegen die Selbstaufgabe nationaler Eigenheiten, (...) eine Metapher für den Selbstmord einer Gesellschaft." Das schreibt der lettische Regisseur Alvis Hermanis im Programmheft zu "Madame de Sade", dem 1965 publizierten Stück des streitbaren Japaners. Das ist darum bemerkenswert, weil der lettische Regisseur damit die Kontroverse, die sich vor einem Jahr um seine streitbare Haltung zur deutschen Flüchtlingspolitik abwickelte, nun also auch nach Zürich trägt – in ein Stück notabene, das ansonsten so harmlos, ja geradezu verklemmt über die Bühne ruckelt, als ginge es darin um den Buchhalter Nötzli und nicht um den Marquis de Sade.

Was sich ein Mann so vorstellt

Wobei, der Marquis bleibt ja gerade weg. Das Stück spielt 1772, 1778 und schließlich 1790 im Salon von Madame de Montreuil, der Mutter von Renée, der Frau des Marquis de Sade. Die dritte historisch verbürgte Dame des Stücks ist Anne, die zweite, jüngere Tochter der Montreuil. Dazu kommen drei von Mishima hinzu erfundene Frauen, nämlich eine Baronesse, eine Comtesse sowie eine Charlotte, das von der erwähnten Kuan-Ling Tsai getanzte und gesprochene Hausmädchen. Sechs Frauen also dialogisieren hier einen Abend lang über den abwesenden, da eingekerkerten Marquis. Und das ist darum schon im Ansatz leicht problematisch, weil sich die Rollen doch akkurat so verteilen, wie sich das ein Mann des Theaters nun mal vorstellt.

Madame de Sade1 560 Tanja Dorendorf TTFotografie uFrauen in exorbitanten Roben, aber am Rande des Nervenzusammenbruchs?
© Tanja Dorendorf / T+T Fotografie

Da ist die Gattin, ihrem Mann treu ergeben. Da ist ihre Schwester, die bald eine willige Geliebte des strengen Herrn abgibt, und da ist die gouvernantenhafte Schwiegermutter, die das alles, wie man sich vorstellen kann, nicht besonders angemessen findet. Die Baronesse ist derweil eher von der frommen Sorte, während die Comtesse in gewissen, sagen wir mal: sadistischen Zügen wem wohl gleicht? Vom Hausmädchen, schließlich, war bereits die Rede. Wenn genau das hingegen bis hierhin für die Schauspielerinnen noch immer nicht gilt, dann hat das schon seinen Grund: Sie stecken nicht nur in riesigen Kostümen, sie stecken auch in riesigen Chargen. Sie sind nämlich angehalten, etwas zu spielen, das Alvis Hermanis im Programmheft den "überhöhten expressiven Stil der Wende zum 20. Jahrhundert" (1. Akt) nennt, "Kabukitheater" (2. Akt) sowie das "sogenannt realistische Theater" (3. Akt).

Was sich vor den Augen des Publikums abspielt

In "Improvisationen" hätten die Spielerinnen, schreibt der Regisseur weiter, "kreative, selbstbestimmte Verantwortung" übernommen und eine passende Körpersprache entwickelt. Andere sprechen in diesem Fall von "Probenarbeit"; zumindest aber bei Sunnyi Melles, dem aus dem Burgtheater eingeflogenen Gast, führte sie auf eine "neue Bewusstseinsebene", wie sie der "Neuen Zürcher Zeitung" diese Woche in einem Interview  sagte. Nun, all dieses Vorwissen bereitet einen außerordentlich schlecht vor auf das, was sich dann vor den Augen des Publikums abspielt, konkret auf ein Ensemble exaltiert schnappatmender, seufzender, stöhnender, am Fächer leckender Damen in exorbitanten Kleidern.

Madame de Sade2 560 Tanja Dorendorf TTFotografie uSunnyi Melles, Susanne-Marie Wrage und Friederike Wagner erreichen eine neue,
strahlend weiße Bewusstseinsebene © Tanja Dorendorf / T+T Fotografie

Das will eventuell suggestives Bildertheater sein, eventuell auch ein wenig ironisch (wobei man sich da bei diesem Regisseur wahrlich nicht sicher sein kann). Jedenfalls ist es spätestens im zweiten Akt, da sich das Geschehen mit angelernten Japanismen vermischt, gelegentlich noch unfreiwillig komisch, meist aber nur noch von quälender Peinlichkeit. Was Alvis Hermanis vorgeschwebt hat, bleibt schleierhaft. Sicher ist, dass ihm und seinen sprechenden Figurinen der ohnehin schon schwierige Text bald ganz entgleitet, all dieses Gerede über den Marquis, der kraft seiner Peitsche die Frauen zu "Heiligen" macht und sie die "Macht der Phantasie" lehrt. Da helfen auch die durchaus anschaulichen Schilderungen der Vor- und Nachmittagsprogramme des Marquis – heute würde man wohl von Sessions sprechen – nicht weiter, mit denen Mishima seinen Text, nun ja: gespickt hat.

Was man am Kaminfeuer wärmt

Wer weiß, vielleicht oder wahrscheinlich könnte dieser Text mehr hergeben als an diesem Abend in Zürich, vielleicht oder wahrscheinlich könnte an einem anderen Abend und an einem anderen Ort daraus ein Stück über die Freiheit der Lust werden. Hier aber warten die Frauen und wartet das Publikum vergeblich auf etwas, das, wenn nicht die Lust, so doch das Interesse wecken könnte. So wärmen sich, während Renée zur Stickerei gefunden hat, die anderen ihre Füße und ihr Geschlecht am Kaminfeuer. Als de Sade zuletzt doch noch vor der Türe steht, wollen sie ihn nicht mehr sehen. Der Vorhang fällt, und anstatt des Marquis treten Alvis Hermanis und seine Männer auf. Der Applaus ist ein Streicheln, kein Peitschen.

 

Madame de Sade
von Yukio Mishima
Regie, Choreografie und Bühne: Alvis Hermanis, Kostüme: Juozas Statkevicius, Choreografie: Kuan-Ling Tsai, Licht: Gerhard Patzelt, Dramaturgie: Geoffrey Layton.
Mit: Friederike Wagner, Sunnyi Melles, Lisa-Katrina Mayer, Susanne-Marie Wrage, Miriam Maertens, Kuan-Ling Tsai.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

"Der Mensch als Wesen, das sich selbst in Ketten legt, um ein wenig an ihnen zu zerren; unsere Gesellschaft als ein sadomasochistischer Komplex, in dem wir durch Subordination zu dem werden, was wir sind: Das wären wohl die Take-away-Einsichten dieses Abends", schreibt Andreas Tobler im Tagesanzeiger (4.2.2017). Wegblenden müsse man, dass es ausschliesslich Frauen sind, die sich hier für uns als Beispiele zu unterwerfen haben. "Das lässt diesen Abend letztlich doch reaktionär, um nicht zu sagen: frauenfeindlich wirken", so Tobler. Abgesehen davon entstehe "nie eine Einheit, nur selten eine Konzentration, aber dafür vieles, was die abschätzige Bemerkung 'Laientheater' verdient".

"Hermanis verhandelt nicht, sondern verbandelt: Theaterstile und Theaterkulturen", schreibt Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (4.2.2017). "Er macht mit Mishimas Vorlage Harakiri." Drei Akte, drei unterschiedliche Manierismen und hochartifizielle Spielweise: Im zweiten Akt werde die Grundschwäche dieser Versuchsanlage klar. Einzig Sunnyi Melles' Madame de Montreuil als "aus der Geschichte ins Heute verbannte, (...) in ein grosses, grotesk geblähtes satanisches Hermanis-Theater relegierte Sarah Bernhardt" rette den Abend. "Alles Übrige, man kann es kurz machen, nimmt sich aus wie ein dramatischer Ermüdungsbruch durch Ambition."

In einer ersten Kritik für den SRF befindet Andreas Klaeui (3.2.2017): Am spannendsten sei der erste Teil, der expressionistische, weil er "Mishimas Künstlichkeit einen eigenen, faszinierenden Ausdruck der Künstlichkeit entgegensetzt". Der Kabuki-Teil zeige vor allem, dass "man sich eine jahrhundertealte Theatertradition nicht in ein paar Probewochen aneignen kann", und auch der dritte Teil bleibe "mehr Zitat als wirklich gelebte, innerlich bewegte Spielform". Insgesamt ergebe sich am Ende der Eindruck "eines ästhetischen Rauschs, aber einer inneren Leere, einer inhaltlichen Langeweile".

"Schauspielerisch und technisch sind sie virtuos", lobt der SRF (4.2.2017) in einer weiteren Kritik das Ensemble. Jedoch: Das auf der Bühne vorgeführte Gerede lasse mehr und mehr kalt. "Als Lesetext, gespickt mit Ungeheuerlichkeiten, Komik und Satire, mögen die Lust/Leid-Pirouetten über de Sade ja noch funktionieren. Als Theater wirken sie, jedenfalls in der Inszenierung von Regisseur Alvis Hermanis und seinem Team, bald mal nur noch einschläfernd."

"Warum Alvis Hermanis dieses Theaterstück so faszinierend findet, dass er es nach 1993 (in Lettland) nun zum zweiten Mal inszeniert, erschließt sich an diesem Abend kaum", schreibt Bettina Schulte in der Badischen Zeitung (4.2.2017). "Opulenz und Schauspielkunst ersetzen nicht die gedankliche Durchdringung eines Stoffes." Alvis Hermanis sei zweifellos ein großer Bilderzauberer, aber seine aufwendige Inszenierung in Zürich begnüge sich mit Oberflächenreizen.

"Mishimas verbal-erotisches Konversationsstück über den abwesenden, weil im Gefängnis sitzenden Marquis ist bei Hermanis eine Ausstattungsorgie mit Rokoko und Kimono, gewaltigen Allongeperücken, Kabuki-Theater und spitzen Kampfkunstschreien, die aus schmachtenden Mündern dringen", schreibt Hubert Spiegel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.2.2017). "Sechs Schauspielerinnen, darunter Sunnyi Melles und Friederike Wagner als Schwiegermutter und ungeliebte Ehefrau de Sades, brillieren in einer Inszenierung, die massenhaft schöne Bilder produziert, aber nie auch nur andeutet, worauf sie eigentlich hinauswill."

Kommentare  
Madame de Sade, Zürich: Kabuki hin oder her
Also ich weiß jetzt nicht, ob Mishima das so schriftlich hinterlassen hat als Begründung für seinen zelebrierten Freitod wie im Programmheft Hermanis das nach dem Kritikerbericht s.o. schreibt. Einem Künstler fallen da eventuell - vor allem - wenn er sehnsüchtig nach der Vergangenheit ausgerichtet ist - andere Metaphern ein als sich gänzlich aufzuschlitzen nach allen Regeln der alten, geadelten Kunst. Wahrscheinlich hat Hermanis mit Mishima telefoniert und weiß deshalb genau, warum der also diesen Freitod gewählt hat. Aus den Briefen de Sades aus dem Gefängnis kann man aber möglicherweise schließen, dass er auf weniger als 26 Jahre davon gekommen wäre, wenn es seine Schwiegermutter nicht gegeben hätte. Und aus ihren Antworten wie offensichtlich vor allem ihren unterlassenen Handlungen kann man durchaus auch schließen, dass sie vor allem nicht ertragen haben könnte, dass dieser Mann ihrer Tochter vertraute, bzw. dass ausgerechnet ihre Tochter es geschafft hatte, etwas wie eine vertrauliche Nähe mit ihm zu pflegen, ohne sich gleichzeitig von ihm unterdrücken zu lassen. Was dieser schlimme Mann ausgerechnet der in ihren Augen zumindest Unwürdigeren als der Montreuil herself gestattet hat. Das kann man als spießig besorgt um Heil wie Seelenheil der Tochter und Sehnsucht nach Handarbeitsruhe im Salon interpretieren. Aber durchaus auch als Eifersucht und Neid, von in dem Falle weiblicher Machtgier, mangelndem Selbstwertgefühl und einer gewissen Bösartigkeit dem jüngeren Schönen , sexuell mütterlicherseits Unkontrollierbaren gegenüber, getrieben... Ich glaube nicht, dass es Mishima um die Spießigkeit einer gluckenhaft auf ihre verheiratete Tochter achtgebende Gräfin ging, als er das geschrieben hat... Kabuki hin oder her.
Madame de Sade, Zürich: Qualitätspresse?
Erst steht in der NZZ ein völlig unkritisches Porträt zu Sunnyi Melles anlässlich dieser Hermanis-Inszenierung, dann schreibt dieselbe Journslistin eine Kritik zur Aufführung und beklatscht Melles. Das will Qualitätspresse sein? Unabhängige Presse? Und ihr wundert euch, wenn man euch nicht mehr glaubt? Ist ja kein Einzelfall, gerade nicht in der Schweiz.
Madame de Sade, Zürich: Kritik-Kriterien
@na schau: haben Sie denn die Aufführung gesehen? Mit welchen Argumenten belegen sie, dass Frau Melles zu Unrecht 'beklatscht' wurde? Schildern Sie doch bitte mal Ihre Eindrücke der Aufführung. Was hat Ihnen am Spiel von Frau Melles nicht gefallen? Wie fanden Sie die Inszenierung? Die anderen SchauspielerInnen auf der Bühne? Was hat Ihnen der Abend erzählt?
Oder gehören Sie einfach nur zu denen, die über Dinge reden, von denen sie keine Ahnung haben?
Übrigens: eine Kritik ist immer die subjektive Meinung des Kritikers. Das hat nichts mit unabhängig oder abhängig zu tun. Eine Kritik ist ein Richtwert. Wie der Abend wirklich ist, kann ich nur rausfinden, wenn ich mir die Mühe mache, ihn mir selbst anzusehen. Wenn ich dann ganz anderer Meinung bin als der Kritiker, hat der Kritiker dann gelogen? Nein! Ich bin nur ein anderer Mensch mit einem anderen Werdegang und deshalb vielleicht auch mit einem anderen Blickwinkel auf das Bühnengeschehen. Den Wahrheitsgehalt der Schweizer Presse an einer Kritik fest machen zu wollen, ist in etwas genauso sinnvoll wie die Frage: wer war zuerst da? Das Ei oder der Rabe? Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun, Sie verstehen?
Madame de Sade, Zürich: Boulevardmittel
Man kann schon Verschiebungen feststellen, wie Kritik praktiziert wird. Früher galt der Grundsatz: Wer ein Porträt im Vorfeld schreibt, schreibt danach nicht die Kritik. Ein Porträt ist meistens eine distanzlose Textsorte, das kritische Porträt gibt es kaum im Feuilleton, erst recht nicht als Vorschau auf eine Premiere, das wäre auch unsinnig. (...) Die Praxis ist aber nicht einzigartig, auch bei der anderen großen Zeitung auf dem Platz Zürich gibt es vermehrt Fälle, in denen Kritiker zum Beispiel mit einer Band ein Interview führen, dann zum Konzert fahren und es total großartig finden, gefolgt von einem weiteren Interview danach. Das sind alles astreine Boulevardmittel. Schlimm daran ist nur die Prätention der Qualitätszeitung.
Madame de Sade, Zürich: schlechte journalistische Praxis
Nicht nur in Zürich, auch in Berlin, München und Wien ist das übliche Praxis!
Vorbericht und Kritik, ein und derselbe Schreiber(in).
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