Blackbird - Cate Blanchett hat David Harrower inszeniert
Weltreise für ein bisschen Müll
von Dorothea Marcus
Recklinghausen, 8. Mai 2008. Die Ruhrfestspiele Recklinghausen haben eine rührende, lange Geschichte: Einst wurden sie gegründet, weil die Recklinghauser Zeche König Hamburger Theatern im Hungerwinter 1946/47 mit Kohle aushalf und diese fortan aus Dankbarkeit für die Kumpels spielten. Seit 2005 vom profitbewussten und erfolgsorientierten Luxemburger Ex-Intendanten Frank Hoffmann geleitet, ist das Festival zur kräftig geförderten Institution mit hohem Promifaktor geworden. In diesem Jahr ist Hollywood besonders gut vertreten: zur Eröffnung standen Kevin Spacey und Jeff Goldblum auf der Bühne, nun hatte die erste Inszenierung der Oscar-Gewinnerin Cate Blanchett von David Harrowers "Blackbird" Europa-Premiere - dass ihr Mann, der Dramatiker und Drehbuchautor Andrew Upton, mitinszeniert hat, fiel bei der PR-Abteilung der Festspiele ein wenig unter den Tisch.
Sie selbst, die bekanntlich gerade ihr drittes Kind bekommen hat, verspricht hoch und heilig, zum Publikumsgespräch in ein paar Tagen selbst zu kommen. Im letzten Dezember zog das Paar von England zurück nach Australien und hat die Leitung der Sydney Theatre Company übernommen, eines der wichtigsten und größten australischen Theater. Auch Oscar-Preisträger Philip Seymour Hoffman hat dort im dieser Spielzeit eine Uraufführung von Upton inszeniert, in Australien kann man sich Theater womöglich nur leisten mit opulenten Filmgagen im Rücken.
Müll statt Glanz
Ob man den Müll auf der Bühne auch extra um die Welt geflogen hat? Von Hollywoodglanz ist in der Halle Marl nicht viel zu sehen. Die Bühne wirkt wie ärmstes Off-Theater: Plastiktüten und zerdrückte Pappbecher auf dem Boden, zwei gegenüberliegende Türen mit Neonbeleuchtung begrenzen den Raum, ein Plastiktisch, Metallschränke.
"Blackbird", von David Harrower 1995 für das Edinburgh-Festival geschrieben und da von Peter Stein uraufgeführt, ist ein bedrückendes, flirrendes und provokantes Wellmade-Play, in dem die Zuschauerperspektive auf Moral und Unmoral ständig verschwimmt, eine Art Fortschreibung von Nabokovs "Lolita". Una ist bei Cate Blanchett die hagere Schwarze Paula Arundell in Pumps und Seidenbluse, die das therapieerfahrene und beziehungsgestörte ehemalige kleine Mädchen klug und verhärmt einfängt. Ray ist der etwas heruntergekommene ältere Peter Kowitz, der Michael Douglas täuschend ähnlich sieht - ein Gescheiterter, dessen Leben auch anders hätte verlaufen können. Immerhin ist er "glücklich" verheiratet, während sie mit 83 Männern geschlafen hat.
Die gemeinsame Geschichte hat Lebensweichen gestellt: Als Una zwölf und Ray 40 war, hatten sie ein "Verhältnis" und wurden entdeckt, er kam für sechs Jahre ins Gefängnis, sie in Therapie. 15 Jahre später sieht sie ein Foto von ihm in der Zeitung und besucht ihn an seinem schlecht bezahlten Arbeitsplatz, einer schmutzigen Kantine, um ihn zu beschimpfen und zur Rede zu stellen. War es Liebe, war es Missbrauch, war es beides und wo verläuft die Grenze? Welche Bilder und Interpretationen haben sich über die Vergangenheit gelegt?
Orgasmusfragen in Zeiten von Inzestmonstern
Arundell und Kowitz umkreisen einander wie lauernde Tiere im Ring, suggestiv schrammen elektronische Klänge, manchmal klopft es unheimlich an einer Tür, ohne dass jemand öffnet. Sie rasen so schnell durch den Text, dass die Übertitelungsanlage nicht mitkommt. Zuerst glaubt er, sie will ihn töten und entreißt und zerwühlt ihre Handtasche - eine Art zweiter Vergewaltigung, denkt man, bis er seine Liebe gesteht und sie schwärmerisch in seine Erinnerungen einfällt: damals, als sie sich beim Barbecue kennenlernten, oder als sie beim Wochenendausflug am Strand spazierten und es zweimal im Hotelzimmer trieben. "Ich kann mich gar nicht erinnern, ob ich gekommen bin", sagt die frühere Zwölfjährige abgebrüht, das hört sich wie Hohn an in Zeiten von österreichischen Inzestmonstern.
Redlich bemühen sich Darsteller und Stück, Rays und Unas pädophile Liebe glaubwürdig, zart und innig erscheinen zu lassen. Zwar verließ er sie mit einem Brennen zwischen den Beinen, um ihr Schokolade zu kaufen und kam nie wieder, aber er wurde eben festgehalten. Nichts ist, wie es sich der Zuschauer zurechtlegt. Als man bereit ist, ihm seine abgefangenen Liebesbriefe aus dem Gefängnis zu glauben, küssen sich die beiden und sinken halb entkleidet auf den Boden, um Sex zu haben. "Bin ich dir zu alt?" sagt Una, als es nicht geht. Black, Stromausfall.
Das hätten wir auch gekonnt
Das Drama kippt erneut, als ein kleines Mädchen in den Raum tritt, das Ray anspricht wie einen Geliebten - wahrscheinlich ist er eben doch nur ein jämmerlicher Kinderschänder. Fast zu technisch und kalkuliert wirken diese Umschwünge. Zu flackerndem, grünen und blauen Neonlicht leben die beiden ein wenig zu hektisch die extremen Gefühlsschwankungen aus, verfolgt sie ihn schreiend, bis sie ihn am Ende in den Fängen hat - Cut, Ende, nach 70 etwas anstrengenden Minuten.
Eine durchaus gediegene, gut gespielte Inszenierung, die aber auch jedes deutsche Stadt-, Off- und Privattheater prima hinbekommen hätte, wenn auch mit besserem Bühnenbild. Das arme Theater einer reichen Hollywood-Schauspielerin aus Australien ins Theaterland Deutschland einfliegen zu lassen, wirkt ziemlich absurd. Aber vielleicht muss man sich seiner Errungenschaften auf diese Weise immer mal wieder vergewissern.
Blackbird
von David Harrower
Gastspiel der Sydney Theatre Company bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen
Regie: Cate Blanchett und Andrew Upton, Bühne: Ralph Myers.
Mit: Paula Arundell, Danielle Catanzariti und Peter Kowitz.
Sydney Theatre Company
www.ruhrfestspiele.de
Kritikenrundschau
"sba " schreibt unter Zuhilfenahme der dpa-Meldung auf Zeit online (13.5.2008) Folgendes: Das Dreipersonenstück sei "eine Herausforderung für die Regisseurin und ihr Ensemble". Blanchett stelle sich "ganz in den Dienst des Dramatikers und seines Textes", sie präpariere "die fragende Grundhaltung von 'Blackbird' heraus". Peter Kowitz als Ray habe "die verstörende Energie, die sich mit den gegebenen Gesetzen nicht zufriedengibt, über die Rampe" gebracht. Paula Arundell habe "in Mimik und Gestik in vitalistischer Hollywoodmanier" übertreiben, sie sei "der Subtilität des Stücks nicht immer gewachsen". Blanchett habe gezeigt, dass sie mehr sei, "als eine makellose Mainstream-Schauspielerin". Sie habe sich als "engagierte, ernstzunehmende Theaterfrau" erwiesen, auch wenn ihr "Blackbird" nicht "die bohrende Tiefe und erotische Energie der Uraufführung von Peter Stein 2005" erreicht habe.
Vasco Boenisch hat gewartet mit seiner Kritik in der Süddeutschen Zeitung (13.5.2008) bis Cate Blanchett ihr Versprechen wahrmachte und nach Marl zu Besuch kam. Vier Bühnen in Sydney, Gastspiele im ganzen Land – das ist die Sydney Theatre Company, die Blanchett seit diesem Jahr gemeinsam mit ihrem Mann Andrew Upton leitet. Blanchett, schreibt Herr Boenisch, sei im "Grunde ein Theatetier", sie besuchte die Schauspielschule ihres heutigen Theaters, spielte Ophelia, Hedda Gabler und Nina in der "Möwe" und steht für Filme nur noch drei Monate im Jahr zur Verfügung, heißt es zumindest. Und sterben würde sie am liebsten, so sagte sie es in Marl, "in einem Probenraum", berichtet Herr Boenisch. 2009 werde sie in einer achtstündigen Fassung der "Rosenkriege", inszeniert von Benedict Andrews, wieder selbst auf der Bühne stehen. In Recklinghausen habe sich der Filmstar als "kluge Künstlerin" gezeigt, "die sich gleich im ersten Satz als Fan von Peter Stein" auswies, wegen ihm hatte sie Blackbird überhaupt erst kennengelernt, und betonte, "wie wichtig ihr ein respektvoller, analytischer Umgang mit dem geschriebenen Wort" sei. Der eigentlichen Besprechung widmet Herr Boenisch nur zwei Absätze: die Schauspieler hielten "die Atmosphäre in sensibler Ambivalenz". Unas überlegene Lässigkeit kippe "blitzschnell in zornige Hysterie, in zittrige, aber auch sehnsüchtige Erinnerungen". Ray emanzipiere sich "vom Getriebenen zum Rechtfertiger seiner einstigen Liebe". Manchmal wünsche man sich "in Blanchetts eindringlicher, fast filmisch präzis durchgearbeiteter Inszenierung etwas weniger routinierte Perfektion und etwas mehr Durchlässigkeit".
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ziemlich gediegene kritik.
Davon abgesehen sind weder Cate Blanchett noch ihr Ehemann Besitzer der Sydney Theatre Company und müssen ebenso wie alle anderen mit einem Budget haushalten. Das ist ja schließlich kein Privatzirkus, den sie sich halten, insofern können die Gagen, die Cate Blanchett bezieht, doch herzlich egal sein.
Und letztlich könnte es doch auch so sein, dass die Australier gerne kommen, um einmal ein anderes Publikum kennenzulernen?
Die Sprache, nämlich nicht amerikanisch und nicht britisch eben australian english... und man konnte es hören!
Blanchett war ja dann doch noch da, auch nicht wie bei der Oskarverleihung, aber auch nicht in australischen Müllsäcken gekleidet