Vorsicht: scharfe Kurve!

von Michael Laages

Kassel, 10. Februar 2017. Ob wohl Rebekka Kricheldorf dem Kollegen Ferdinand Schmalz ein paar praktische Tipps mit auf den Weg geben mochte – am Abend, bevor Schmalz in Kassel der "Förderpreis für komische Literatur" verliehen werden sollte? Kricheldorf bekam ihn ja vor mittlerweile schon sieben Jahren; mit dem jüngsten Stück, uraufgeführt wieder am Theater des Intendanten Thomas Bockelmann, der die Autorin schon seit seiner Intendanz am Theater in Münster begleitet und neue Stücke von ihr immer wieder in den Spielplan nimmt, müht sich Rebekka Kricheldorf aber unüberspürbar um ein anderes Profil.

Immer schon, oder wenigstens meistens, transponierte sie zentrale Themen der Gegenwart, musikalisch gesehen, in eine ganz andere Tonart, sagen wir mal: ins tendenziell heitere C-Dur – "Das blaue Licht / Dienen" aber klingt in eher schmerzhaftem h-Moll ...

Es war einmal ein Märchen

Ein Soldat kommt nach Hause. Eine Art anderer Beckmann ist das, zwar nicht mehr mit der Gasschutzbrille auf der Nase, dafür geschlagen mit einem zerschossenen Fuß, der ihn durch die fremd gewordene Welt hinken lässt. Ein Märchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm ist die Basis für Kricheldorfs Fabel, in den szenischen Übergängen erzählt der Held und Anti-Held sich die Fabel selbst, immer wieder und immer deliranter. Für einen König war der Soldat im tödlichen Einsatz; und nun, da er durch die Verwundung zu nichts mehr nütze ist, will auch der Auftraggeber nichts mehr vom Soldaten wissen – der letzte Weg ist die Rache-Passion, die das Märchen erzählt. Im Haus einer Hexe, genauer: im tiefen Brunnen dahinter, ergattert der Hoffnungslose ein magisch-blaues Licht, das ihm ein stets hilfreiches "schwarzes Männlein" erscheinen lässt. Mit dessen Hilfe wiederum hat er nun Macht über alles: über die Hexe wie den treulosen König, dessen Tochter er entführt und schließlich ehelicht. So fällt ihm dann auch das Reich zu: im lieblichen Märchen.

BlaueLicht 4 560 M Sturm uDer Soldat ist an allem schuld. Aljoscha Langel kämpft mit Tucholsky. © Marina Sturm

Im Heute und Hier und bei Kricheldorf ist die Hexe nun eine etwas anstrengend altersgeile Greisin, der der gewesene Soldat nach einiger Zeit als Haussklave nicht mehr zu Willen sein will. Nachdem er sie (dank des blauen Lichts) in ihrem eigenen Sündenpfuhl, also zwischen den Kissen des Lotterbettes, vergraben hat, macht er Station im Gasthaus "Zum Güldenen Einhorn" – und hier macht ihm der pazifistische Wirt klar, dass er (mit Tucholsky) Soldaten generell und immer für Mörder hält. An der nächsten Station hat der Soldat ein auffällig geistloses Mädchen ins Hotelbett gelockt: die Königstochter. Noch immer sind wir da in einem Text, der sich eher komisch-absurden Details verpflichtet zu fühlen scheint – dann kommt die scharfe Kurve.

Ein unerhört ambitiöses Finale

Jetzt sitzt der namenlose Soldat A schon in der Todeszelle, morgen soll er hingerichtet werden. Der vermeintliche Gefängnis-Seelsorger bringt keinen Trost; im Gegenteil: Er liest dem Gefangenen die Leviten. Die Rentnerin Lienhard habe er umgebracht und ausgeweidet, eine junge Frau entführt und schwerst misshandelt ... was mit dem friedliebenden Wirt dazwischen geschah, bleibt – nebenbei bemerkt – unerzählt. Beelzebübisch (und mit reichlich Pop-Zitaten ausgestattet, auch von den einschlägig-luziferischen "Rolling Stones") gibt sich der potenzielle Beichtvater als Gottseibeiuns persönlich aus – und hält dem soldatischen Individuum A alle Kriegsverbrechen jüngerer Zeitrechnung vor. Und das war eben immer er, der Soldat, der Täter, Tucholskys ewiger Mörder. Statt die Henkersmahlzeit zu erhalten, würde A lieber die gute alte Pfeife rauchen; aber das ist verboten. Sein "blaues Licht" kommt nicht zum rettenden Einsatz.

Oder doch?

BlaueLicht 3 560 M Sturm uOpfer-Täter am Boden: Aljoscha Langel als namenloser Soldat A © Marina Sturm

Plötzlich nämlich ist der Teufel weg und das "schwarze Männlein" da – und es hat außer guten Ratschlägen auch einen Baseballschläger mitgebracht. Endlich aussteigen soll der Opfer-Täter: aus der Geschichte, wie sie über ihn und wie er sie über sich selbst erzählt, aus dem posttraumatischen Belastungssyndrom. Soll der auf diese Weise geläuterte Beinahe-Gehenkte nun aber losziehen und aller Welt seine Wahrheit in die Schädel hämmern? Kricheldorf verpasst der Märchen-Paraphrase dieses unerhört ambitiöse Finale. Ob sie das kleine Stück allerdings so nicht reichlich überladen hat? Nach dem gelegentlich leicht geschwätzigen Parlando der ersten drei Szenen jedenfalls legt sich mächtig viel Bemühen um Bedeutung über die letzten beiden – in den philosophischen Schlachtordnungen zwischen Schuld und Verantwortung, Individuum und Kollektiv, Ohnmacht, Macht und sinnstiftender Gewalt im Finale.

Dass die Autorin aber überhaupt nach Positionen sucht zu vielen ungelösten Fragen der kriegerischen, unmenschlichen Gegenwart – wen soll das stören?

Ein Wechselbalg

Schirin Khodadadian erzählt in der Uraufführung ein Kammerspiel mit Horizont; schon weil Ulrike Obermüller eine verspiegelte Rückwand hinter den verschlossenen Kasten montiert, in den Soldat A zunächst eindringt. In diesem Spiegel bleiben wir (die Gesellschaft, um deren Haltungen es geht) immer mit im Bild. Je zwei Rollen sind obendrein zusammengelegt: Greisin und Prinzessin, Teufel und Wirt. So steht's auch bei Kricheldorf. Wie aber schon deren Sprache (und damit der Text) sich nicht wirklich leicht tut mit der Kurvenfahrt zwischen Eröffnung und Finale, fällt auch der Inszenierung dieser radikale Wechsel in Stimmung und Ton eher schwer.

Besonders deutlich wird das bei Jürgen Wink, der gerade die finstersten Teufelspassagen in die Leichtigkeit des Berufszynikers zu zwingen versucht. Auch für Rahel Weiss wird der Wechsel von schräger Alter zu tumber Maid zum Kraftakt. Aber gerade das scheint das Ziel der Doppelbesetzung: Kontrast zu schaffen. Aljoscha Langels geschunden-passionierter Rache-Held und Artur Spannagels aalglatt-schwarzer Mann sind letztlich ja auch "alter ego"-Visionen einer Figur.

Das Stück ist ein Wechselbalg. Was sich zu Beginn so leicht anhört, will zum gedanklichen Schwergewicht werden. Das bleibt der zentrale Konflikt in Rebekka Kricheldorfs neuem Stück – auch für weitere Inszenierungen.

 

Das blaue Licht / Dienen
von Rebekka Kricheldorf
Uraufführung
Regie: Schirin Khodadadian, Bühne und Kostüme: Ulrike Obermüller, Musik: Katrin Vellrath, Dramaturgie: Thomaspeter Goergen.
Mit: Aljoscha Langel, Artur Spannagel, Rahel Weiss, Jürgen Wink.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-kassel.de

 

Kritikenrundschau

"Kricheldorf seziert das aufgeladene, übersexualisierte, sprachliche, popkulturelle Angebot von heute geradezu", schreibt Maja Yüce in der Hessisch Niedersächsischen Allgemeinen (13.2.2017). Schirin Khodadadian bringe das Stück "nicht nur dramatisch, sondern auch mit groteskem Humor und einigen Pop- und Rockmusik-Zitaten auf die Bühne", wobei für die Rezensentin manches weniger plakativ hätte sein dürfen. Aber: "In einem postfaktischen Zeitalter der alternativen Wahrheiten, in dem kaum etwas hinterfragt wird, ist die Inszenierung aktueller denn je", so Yüce. Und: "Am Ende bleibt die Gewissheit, so schlimm es auch im Märchen oder auf der Theaterbühne zugeht, die Wirklichkeit ist noch schlimmer."

 

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