Körper in der Dunkelkammer

von Gerhard Preußer

Dortmund, 11. Februar 2017. Zeit und Licht: Zusammengeballt werden sie für uns durch die Fotografie. Sie reduziert die Wirklichkeit auf Licht und schrumpft die Zeit auf einen Augenblick, den ausdehnungslosen Moment. Das Theater aber braucht Zeitdauer, es entwickelt die Dinge im Nacheinander. So hat die Fotografie bisher im Theater nur eine Hilfsfunktion, für Presse und Marketing. Kay Voges, der Dortmunder Schauspielintendant, macht nun aus der Fotografie eine Theaterkunst. Theater lebt von geteilter Gegenwart, von der flüssigen Gleichzeitigkeit von Darstellern und Publikum. Fotografie aber fixiert, ist geteilte Vergangenheit. Die Lösung des Widerspruchs ist live-Fotografie.

Hell Hupfeld 2 560 uAufnahmen aus der Gegenwart - oder sofort Vergangeheit? Die Bühne in "hell/Ein Augenblick"
© Birgit Hupfeld
Das "lebendig" geschossene Bild erscheint Sekundenbruchteile später "tot" auf dem Bildschirm. Das ist das Arbeitsprinzip von Voges’ neuer Produktion "hell - ein Augenblick". Sie ist das kleine Gegenstück zu Voges' zum Theatertreffen geladenen Monumentalwerk "Die Borderline-Prozession". Dort wird man befeuert mit Massen von Bedeutungsmaterial in jeglicher Codierung. Hier nun wird alles diätetisch reduziert. Die Zeit stockt, das Licht leuchtet nur kurz und plötzlich.

Zugleich lebendig und tot 

Der Saal ist dunkel. Tröstlich leuchtet nur das Notlicht. Hinten dämmert ein Bühnenkasten, daneben, viel größer, zwei Projektionsflächen (Bühne: Pia Maria Mackert). Ein Blitz. Es werde Licht. Aber nicht den biblischen Text hört man, während im Bühnenkasten Adam und Eva im Schattenriss erscheinen, sondern die Schöpfungsgeschichte des jüdischen Lichtmystikers Isaak Lucia.

Hell Hupfeld 3 560 uVerwandlung ins Schwarz-weiße. mit: Ekkehard Freye, Uwe Rohbeck, Marcel Schaar
© Birgit Hupfeld

Voges und seine Mannschaft kombinieren wieder Bilder mit gesprochenen philosophischen und literarischen Texten, deren Verbindung mit den technisch reproduzierten visuellen Eindrücken manchmal nur lose, manchmal suggestiv, gelegentlich völlig opak ist. Der Fotograf Marcel Schaar nimmt dabei im dunklen Bühnenkasten Fotos einzelner Schauspielerinnen, Schauspieler oder Schauspielerpaare, mit oder ohne Requisiten auf, die unmittelbar auf den Projektionsflächen erscheinen, zunächst nur in einem raffiniert verfremdeten Schwarz-Weiß. Was man im Blitzlicht nur schemenhaft erahnen konnte, sieht man dann in penetranter Überdeutlichkeit. Jede Pore ein schwarzer Punkt, eine Grafik punktscharf wie ein Kupferstich.

Radikaler Sterbemonolog

Ein Bild kann man nicht verstehen. Ohne Kontext erklärt es nichts. Diese Kontexte werden geschaffen durch Texte. Sie entwickeln sich thematisch von der Befragung des Selbstbildes (zu Portraits der Schauspieler) über emphatisch-erotische Augenblicke (zu "Jetzt! Jetzt!"-Jubel eine schnelle Serie von Detailaufnahmen sich nähernder Liebespaare) zu Erinnerungen (ein Nietzsche-Text über das erinnerungslos glückliche Tier zu Bildern eines Mannes mit Teddybär oder einer Frau mit Geburtstagskuchen). Schließlich zum Tod.

Hell Hupfeld 4 560 uStarke Bilder: Körper in unterschiedlichen Konstellationen und dazu Christoph Schlingensiefs Sterbemonolog © Birgit Hupfeld

Der stärkste Text ist dabei Christoph Schlingensiefs entwaffnend schlichter, aber radikal ehrlicher Sterbemonolog. Dazu zeigt der Fotograf auch die stärksten Bilder. Hinten im Kasten winden sich kaum erkennbar zwei Schauspielerinnen auf dem Boden, aber vorne sieht man in abgemischten Rottönen, eine verwischte, abstrahierte Folge von Konstellationen menschlicher Körper in einem immer wieder stillgestellten Verzweiflungskampf.

Untersuchung der Sehgewohnheiten

Bettina Lieder darf nun singen, den Song "This picture" der Gruppe "Placebo": "You can’t stop growing old". Dann folgt - etwas Religionskitsch muss bei Ex-Messdiener Voges sein - der Auftritt eines schwarzen Engels und einer gehörnten Frau. Nach vorne getragen wird ein nackter Mann. Er wird abgelegt wie Jesus nach der Kreuzabnahme. Dazu dröhnt - wie in "Borderline" – Musik von Gustav Mahler, diesmal der Schluss der 8. Sinfonie: "Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan". Schließlich wollte Voges ja eigentlich Goethes "Faust" inszenieren, musste dieses Projekt aber wegen der Verzögerung bei der Renovierung des Schauspielhauses verschieben. Schlussbild: ein lebloser Christus in der Pose der Grablegung, mit technischer Dornenkrone.

Man erlebt einen langsamen Seh- und Denkabend. 100 Bilder in 100 Minuten. Völlig neu im Format, eher konventionell in der Thematik, mal trivial, mal ergreifend, mal penetrant. Dass die Fotos live vor unseren Augen hergestellt werden und gegenwärtig anwesende Schauspielerinnen und Schauspieler zeigen, ist weniger ein optischer Gewinn als eine Untersuchung der Mittel des Theaters und der Sehgewohnheiten der Foto-Junkies, die wir alle sind. Ein Theateressay, ein Angebot zur Reflexion des Verhältnisses von Bild und Abbild, eine Sammlung von Text- und Bildfragmenten über Lebenslicht und Lebenszeit. Sehen und Denken, darauf kommt es schließlich an.

hell/ein Augenblick
von Kay Voges mit Baumann/Kerlin/Schulz/Seier & Ensemble
Regie: Kay Voges, Bühne: Pia Maria Mackert, Kostüme: Michael Sieberock-Serafimowitsch, Vanessa Rust, Komposition & Live-Arrangement: T.D. Finck von Finckenstein, Live-Photographie: Marcel Schaar, Dramaturgie: Dirk Baumann, Alexander Kerlin, Anne-Kathrin Schulz.
Mit: Andreas Beck, Raafat Daboul, Ekkehard Freye, Björn Gabriel, Frank Genser, Caroline Hanke, Marlena Keil, Bettina Lieder, Carlos Lobo, Uwe Rohbeck, Marcel Schaar, Uwe Schmieder, Julia Schubert, Yaroslava Sydorenko, Friederike Tiefenbacher, Merle Wasmuth.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.theaterdo.de

 

Kritikenrundschau

Der Aufwand, der betrieben worden sei, löse sich leider in keiner Form auf der Bühne ein, urteilt Alexander Kohlmann im Deutschlandradio Kultur "Fazit" (11.2.2017). "Denn wir verfolgen in erster Linie Schauspieler, die sich in Kostümen fotografieren lassen – und das ist trotz der nur etwas mehr als anderthalb Stunden dauernden Performance ziemlich schnell verdammt langweilig." Dazu läsen andere Schauspieler an zwei Mikrofon-Ständern "Texte, die irgendwie etwas mit Vergänglichkeit zu tun haben – und der Schönheit des Augenblicks", so Kohlmann: "Je länger diese Aufstellung dauert, desto deutlicher wird, das Live-Fotografie und Theater zusammen nicht funktionieren, jedenfalls nicht, wenn wie hier die an ein Uhrwerk erinnernde Präzision des Ablaufs den Schauspielern jede Möglichkeit raubt, die Bühne zu erobern, auszubrechen, zu spielen."

"Wieder gelingt Kay Voges ein unvergleichlicher Abend. 'hell' ist nicht überwältigend wie die 'Borderline Prozession', aber von meditativer Intensität und melancholischer Schönheit", schwärmt Ralf Stiftel im Westfälischen Anzeiger (13.2.2017). "Wieder stellt das Theater existenzielle Fragen in einem szenischem Essay. Und wieder fordert es die Wahrnehmung des Besuchers heraus mit einer Konstruktion, die scheinbar den Grundregeln von Schauspiel widerspricht."

"Kay Voges hat es sich auf die Fahne geschrieben, die Möglichkeiten des Theaters in jede Richtung hin auszuloten"; schreibt Arnold Hohmann in der Westfälischen Rundschau (13.2.2017). Das mache aus "Hell" "zumindest einen interessanten Versuch, der jedoch an seine beiden Vorgänger nicht ganz heranreichen kann", so Hohmann: "Vielleicht liegt es daran, dass es dort immer auch Szenen und Schicksale gab, bei denen man sich einhaken konnte. Hier lebt der Abend allein von Zitaten und der Gleichförmigkeit des Ablaufs. Es bleibt die Majestät der Bilder."

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