Die Welt als GIF und Verstellung

von Esther Slevogt

Berlin, 14. Februar 2017. Richtig aufgefallen ist die Sache im vergangenen Sommer, als mich durch die digitalen Kanäle plötzlich verstärkt sternübersäte Fotos von Leuten mit Hasengesichtern oder zierlichen Mauseöhrchen und Nagerstupsnäschen erreichten. Bald fand ich selbst Gefallen daran, mein Gesicht in die Smartphone-Kamera zu halten und mich in ein Alice-in-Wonderland-lookalike Kaninchen zu verwandeln, rosa Herzen als Sprechblasen auszustoßen, mir digitale Blumenkränze aufzusetzen oder Videoschnipsel zu produzieren, in denen ich als Manga-Figur mit verzerrter Stimme wiedergeboren werde.

kolumne 2p slevogtSnapchat heißt die App, die das ermöglicht, und die naive Freude einer analog Sozialisierten wie mir daran ist natürlich auch ein bisschen peinlich. Doch ist diese App unter anderem auch deshalb der Rede wert, weil sie die tägliche Bilderflut tsunamihaft explodieren ließ. Wer einmal auch nur eine halbe Stunde lang die Snapchat-Stories der Medienriesen von CNN bis Fox oder National Geographic, sich von Angebot zu Angebot wischend, durchstöbert hat, muss den Eindruck von einer Welt bekommen, gegen die ein apokalyptisches Hieronymus-Bosch-Wimmelbild wie ein meditatives Mark-Rothko-Farbfeld wirkt. (Und hier spricht natürlich schon wieder die analog Sozialisierte.)

Das Leben, wie es niemals war

Das sind Collagen aus immer nur wenige Sekunden langen Videoschnipseln, die grafisch verfremdet werden können, immer ein wenig amateurhaft aussehen und dem Zuschauer in der Masse das donnernde Leben zeigen, wie es niemals war. Gestern zum Beispiel, da konnte man in die Bilderfluten der Grammy-Verleihung in Los Angeles tauchen und darin untergehen wie im Wasser, das gerade aus dem kalifornischen Oroville-Staudamm bricht und bereits Hunderttausende in die Flucht getrieben hat.

Auf CNN war im Dauerloop immer nur derselbe Zehnsekundenclip von einer Flutwelle zu sehen, die sich hinter der Staumauer springfluthaft über der Landschaft erhebt. Immer und immer wieder. Dann sah man kurz die schwangere Beyoncé als goldene Freiheitsstatue (oder Jungfrau Maria mit barockem Strahlenkranz) bei der Grammy-Gala singen, in giftgrüner Robe glitzerte Adele durchs Bild, Rapper rappten mit animierten Hasenohren oder die Jungs von Twenty Pilots standen plötzlich nur in Boxershorts auf der Bühne und nahmen ihre Trophäe entgegen. Dann wieder im Dauerloop Donald Trump, wie er seinem Staatsgast aus Kanada, dem jungen Justin Trudeau, bei der Begrüßung fast den Arm abreißt. Sonst nix. Immerzu dasselbe Bild, tausendfach reproduziert und multipliziert. Die Welt als GIF und Verstellung.

Dem Vorgang das Bekannte nehmen

Und dann fällt einem plötzlich wie eine Erinnerung an oder aus uralten Zeiten der V-Effekt ein, den Brecht dereinst gegen das totale Eintauchen in Illusion und Einfühlung erfand, als Mittel gegen die von ihm so gehasste passive bürgerliche Kontemplationssucht, die das totale Eintauchen in die politische Katastrophe nicht hatte verhindern können, der er entronnen war – weil das Theater keine Impulse zum Eingreifen in die vorgefertigten Zustände zu geben vermochte. Oder eine Vorstellung davon, dass Eingreifen überhaupt möglich ist.

"Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen", heißt es bei Brecht zum Beispiel. Damit wurde aus seiner Sicht erreicht, daß der Zuschauer die Menschen auf der Bühne nicht mehr als ganz unänderbare, unbeeinflußbare, ihrem Schicksal hilflos ausgelieferte dargestellt sehen würde und auf diesem Weg auch die Welt als veränderbar erkennbar werden sollte. Aber das Selbstverständliche und Bekannte ist inzwischen bereits via App-Filter zu verändern, die mir zum Beispiel Hasenohren am Kopf verpassen. Bevor ich dann trotzdem in der Bilderflut untergehe, gegen die heute kein Verfremdungskraut mehr zu wachsen scheint. (To be continued).

 

Esther Slevogt ist Redakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de und außerdem Miterfinderin und Kuratorin der Konferenz Theater & Netz. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?

 

Zuletzt schrieb Esther Slevogt in ihrer Kolumne über die Signalkraft der Hamburger Elphilharmonie.

 

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