Auf dem Albtraum-Dampfer

von Steffen Becker

Stuttgart, 18. Februar 2017. Das Dienstmädchen breitet seine Arme aus, schaut verträumt in die Ferne, hinter ihr baumelt ein Rettungsboot der SS Titanic. Aber es erschallt ein Nebelhorn und nicht Celine Dion. Nicht Leonardo di Caprio hält sie in den Armen, sondern ein kaputter Trinker. Und die dunkle Schiffswand ist "nur" ein Symbol für Ausweglosigkeit: Am Ende "Eines langen Tages Reise in die Nacht" ist die Familie Tyrone ertrunken im Meer ihrer Traumata.

Eine schrecklich kaputte Familie auf der Drehbühne

Armin Petras bringt Eugene O'Neills autobiografisches Stück in Stuttgart als verschachteltes Psychogramm auf die Bühne. Schon die Raumgestaltung ist sinnfällig: Die Drehkonstruktion präsentiert auf der einen Seite als bürgerliche Fassade der Familie ihr Sommerhaus in Form einer herrschaftlichen Treppe. Sie scheint ebenfalls der Titanic entlehnt (das Stück spielt im Jahr des Schiffsunglücks). In diesem Ambiente halten die Protagonisten noch die Contenance. Die Familie eines frustrierten Großschauspielers, seiner Morphin-süchtigen Frau und ihrer missratenen Söhne ergeht sich allenfalls in passiv-aggressiven Herzlichkeiten. Die Rückansicht ist deutlich ärmlicher – ein Garten mit Spinden und dominiert von einer Neonreklame. Hier beginnt das Gezänk um den Geiz des Vaters, die Lungenkrankheit des jüngeren Sohnes, den Alkoholismus des Älteren und die Gründe für die Drogensucht der Mutter. Die Schiffswand schließlich ist Ort der Geständnisse und Zusammenbrüche.

eines langen tages reise 44440 560 thomas aurin uVor dem Untergang der Titanic: Edgar Selge als Vater Tyrone. Im Hintergrund Peter Kurth als Mutter. In der Projektion: Manolo Bertling als lungenkranker Sohn © Thomas Aurin

Bühnenbildner Aleksandar Denić bezeichnete in einem Interview seine Werke als begehbare Albträume. Er sei sehr glücklich, wenn jemand nach der Aufführung sage, er habe beim Zuschauen die Orientierung verloren. Ganz so verworren wird die Reise in die Nacht dann nicht, aber die Inszenierung von Petras hat Lust an Irritation und Doppelbödigkeit.

Das "Da stimmt was nicht"-Gefühl

Über der Szenerie liegt ein permanentes "Da stimmt was nicht"-Gefühl. Petras provoziert es unter anderem durch seine Darstellerwahl: Peter Kurth spielt die Mutter Mary. Sorgt für ein paar Höhöhös, als es darum geht, was für ein schönes Mädchen diese Mary mal war. Die Besetzung erweist sich aus anderen Gründen als Volltreffer. Als sedierte Frau, die in ihren langsamen Sätzen Liebe und Verachtung verbindet, überzeugt er durch hohe Sensibilität und Klamauk-Resistenz. Der jedoch kaum kaschierte Berg von einem Mann betont optisch gleichzeitig die Kluft zwischen der Mutter-Figur und ihrer Familie. Ihr Bühnen-Tod: Sie verschwindet einfach.

Edgar Selge als Vater Tyrone agiert gewohnt exaltiert. Das Publikum liebt ihn als exzentrisches Energiebündel – und bekommt es in guter Form. Sein Bühnen-Tod ist ein künstlerischer. Der einstige Shakespeare-Mime Tyrone hatte sich die Rechte am "Graf von Monte Christo" gesichert, 6000-mal gespielt und darüber komplett seinen Shakespeare verloren. Aus den Spinden des Bühnenbildes klaubt er sich am Rande des Nervenzusammenbruchs seinen Ex-Fundus zusammen und steht schließlich grotesk behangen mit Othello-, Hamlet- und Romeo-Fetzen da (Szenenapplaus).

eines langen tages reise 44447 560 thomas aurin uOhne Rettungsboot: das Dienstmädchen (Julischka Eichel) und die morphiumsüchtige Mary (Peter Kurth) © Thomas Aurin

Die Söhne hat Petras ebenfalls gegen den Strich besetzt. Peter René Lüdicke als der ältere James ist unwesentlich jünger als sein Bühnenvater Selge. Ihr Streit ums Taschengeld und wer das Sagen hat im Haus wirkt so noch einen Tick unwirklicher, als er im Angesicht des totalen Familiendesasters ohnehin ist. Sein Bühnen-Tod: Er säuft und brüllt sich kaputt. Umgangssprachlich kann man sagen: Lüdicke spielt sich den Arsch ab. Weniger wäre an manchen Stellen aber mehr gewesen. Bleibt der jüngere Bruder Edmund, der die Biografie des Autors O’Neill spiegelt. Nach chaotischen Jahren als Wanderarbeiter ist die Gesundheit ruiniert. Petras' Irritation: Manolo Bertling spielt mit freiem Oberkörper und in offenkundig guter körperlicher Verfassung. Umso eindringlicher bringt er die Verzweiflung des Charakters durch Gesten der mühsam gezügelten Nervosität zum Ausdruck. Sein Bühnen-Tod: Bluthusten und der Trotz, kein billiges Sanatorium zu besuchen.

Petras' Spiel mit doppelten Böden erstreckt sich auch auf die Verästelungen der Geschichte. Das Hausmädchen Cathleen (Julischka Eichel) lässt er zunächst übertrieben prollig in Anspielung auf die irische Herkunft des Hausherrn antreten. Als sie den älteren Sohn vor der Schiffskulisse umsorgt, legt Eichel den Schalter um und erscheint als melancholisch-sanfte Verliererin im Kampf Alkohol gegen Liebe: Auch auf den Nebenkriegsschauplätzen gleicht die lange Reise in die Nacht dem Gang durch ein Labyrinth. Das Gros des Publikums fand jedoch den Ausgang: Lautstarker Applaus für eine im positiven Sinne gruselige Inszenierung eines zeitlos bedrückenden Stoffs.

 

Eines langen Tages Reise in die Nacht
von Eugene O'Neill
Deutsch von Michael Walter
Regie: Armin Petras, Bühne: Aleksandar Denić, Kostüme: Michael Graessner, Musik: Miles Perkin, Choreografie: Berit Jentzsch, Video: Rebecca Riedel, Licht: Felix Dreyer, Dramaturgie: Bernd Isele.
Mit: Manolo Bertling, Julischka Eichel, Rebekka Irion/ Fanny Kampmann, Robert Kuchenbuch, Peter Kurth, Peter René Lüdicke, Edgar Selge, Céline Seifarth, Miles Perkin.
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 


Kritikenrundschau

"Ein reines Schauspielglück" hat Rainer Zerbst für "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (18.2.2017) an diesem Abend im Schauspiel Stuttgart erlebt. Zumindest in den Partien der Eltern: Peter Kurth agiere "subtil, feinnervig und robust zugleich" als Mutter Mary Tyrone. Auch Edgar Selge als Vater hat den Kritiker durch "leise, vielschichtige Töne" bezaubert. "So fein, intim hat man eine Inszenierung von Petras selten gesehen." Allerdings verfalle Petras mit den anderen Figuren "wieder in den Fehler, Gebrüll mit Dramatik zu verwechseln". Damit verliere seine "Aufführung innere Substanz, die sie über weite Strecken brillant in Szene setzt."

Für plausibel hält Nicole Golombek in den Stuttgarter Nachrichten (19.2.2017), die Entscheidung, Peter Kurth die Rolle der Mary spielt: "Es gibt kaum einen Satz in dem Drama, in dem Mary nicht versucht, ihrer Umgebung etwas vorzumachen.“ Solche eine Besetzung sei zumal dann verständlich, wenn man wie Regisseur Armin Petras nicht auf ein psychologisch fein ziseliertes Theater aus sei, "sondern mit dem Familiendrama vor allem davon erzählen will, wie Migration Menschen beschädigt und wie Menschen an kapitalistischer Wachstumslogik scheitern, am Versuch, etwas zu erreichen, jemand zu sein." An dem dreistündigen Abend werde nicht versucht, einen Sündenbock zu finden. "Petras und Denic lassen alle Vorwürfe, mit denen die Figuren sich malträtieren, ins Leere laufen, geben auch den kapitalistischen Verhältnissen, dem System Mitschuld an der Katastrophe."

Unbedingt sei das ein Abend für Schauspieler, konstatiert Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (19.2.2017). Petras entwickle seine Inszenierung zwischen Realismus, Illusionismus, Traum und Tod gebe noch jene folkloristisch angereicherte Romantik dazu, die seine Arbeiten so oft begleite. Vieles, nicht alles gehe auf. "Die stärksten Momente sind aber die, in denen Petras für das Unglück das Feld von guten Ideen räumen lässt: Vater und Sohn einfach atemberaubend hilflos, während sie die Mutter oben herumgeistern hören." Gekonnt sei vieles, wie die zarten musikalischen Einlagen. "Trotzdem verharmlosen die Abschweifungen, sind eine verallgemeinernde Besänftigung und unverbindlich wie das verlöschende Ende."

Die Inszenierung biete das, was zur Zeit zum Kampfbegriff gegen den Trend zur Performance geworden sei: Schauspielertheater. "Sensibel bis abgründig. Vor allem erfreulich klischeearm", schreibt Otto Paul Burkhardt in der Südwest Presse (20.2.2017) Armin Petras habe den modernen Klassiker klug eingerichtet. "Anfangs eine wunderbare Elegie – mit melancholischem Soundtrack. Vielleicht gegen Ende mit allzuviel elends-behauptendem Geschrei."

"Dass die weibliche Hauptrolle männlich besetzt ist, ist einer der seltenen überraschenden Momente", schreibt Judith Engel in der taz (21.2.2017). Man werde den Eindruck nicht los, dass der Abend "eine etwas konservative Hommage an erstklassige, aber selten überraschende Schauspielkunst" sei. So facettenreich die Leistung der SchauspielerInnen sein möge, sie täusche nicht darüber hinweg, "dass noch mehr an diesem Stück fragwürdig wirkt", so Engel: Es werde von Petras auf ein autobiografisches Familiendrama reduziert. Der Bezug zu einer Gegenwart, "in der die ganze Welt die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der USA verfolgt", werde durch eine "geschichtliche Blase" ersetzt.

Exaltationen gebe es in Petras' Inszenierung immer wieder, befindet Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (24.2.2017) – "Nummern, Extempores, Brüllausbrüche, atmosphärische Störungen". Aber offenbar auch "viel Leerlauf, Herumgestehe, melancholische Traumvideobilder auf dem riesigen Holzspiegel, der wie ein Brennglas über dem Treppenaufgang hängt". Petras baue plötzliche Tempi- und Stimmungswechsel, Stil- und Ironiebrüche ein, "als schrecke er im letzten Moment vor der eigentlichen Seelenanalyse zurück". So finde der Abend nie zu einer stimmigen Tonart, trotz der Leistungen von Peter Kurth und Edgar Selge.

 

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