Inferno - Steffen Jäger inszeniert am Vorarlberger Landestheater in Bregenz ein Auftragswerk von Rafael Spregelburd
Die Hölle ist ein Auftragswerk
von Petra Nachbaur
Bregenz, 23. Februar 2017. "Eine Stadt ist eine heilige Schrift." Zur Untermauerung dieser Ansage dient den zwei schrulligen Damen, die den Ahnungslosen in Rafael Spregelburds Inferno heimsuchen, eine Tablet-Pantomime. Mit der digitalen Straßenkarte zoomen sie Santiago de Chile heran: "San Pablo, San Bernardo, Santo Domingo, Santa-Lucía, Avenida Salvador, Seminario, Santa Rosa, Compañía de Jesús, Providencia, Universidad Católica".
Eine Universität haben die knapp 30.000 Bregenzer*innen keine, dafür neben dem Vorarlberger Landestheater das Theater Kosmos mit seinem Schwerpunkt auf Gegenwartsdramatik; 2016 spielte man hier die österreichische Erstaufführung von Rafael Spregelburds "Alles". Außerdem den Bregenzer Frühling, der internationales Tanztheater in die zwischen Zürich und München gelegene Festspielstadt am Bodensee bringt und jedes Jahr ein Stück des Aktionstheater Ensemble produziert (zum Beispiel Jeder gegen jeden, das beim nachtkritik.de-Theatertreffen 2017 reüssierte).
Hieronymus Bosch als Bindeglied
Das Landestheater wiederum wertet seine Präsenz als solides Zweispartenhaus mit stimmig positionierten Auftragswerken auf. Zwei solcher Neuproduktionen bezogen sich bereits auf Der Garten der Lüste von Hieronymus Bosch, Nummer drei ist nun das neue Spregelburd-Stück, der schon den sieben Todsünden nach Hieronymus Bosch je ein Drama widmete. In "Inferno", Spregelburds Blick auf die rechte Innentafel des Bosch-Triptychons "Die Hölle", erläutert der verschrobene Damenbesuch bei Kaffee, Kuchen und Bibel sein Projekt: Das bebrillte Himmelfahrtskommando macht sich zur Aufgabe, Felipe, der nicht weiß, wie ihm geschieht, anhand der sieben Tugenden vor der Hölle zu bewahren, oder besser: aus ihr zu befreien.
Denn: Nach einem unautorisierten, aber wirkungsmächtigen Massenmailing aus Rom sei alles (alles!) Hölle. David Kopps einmal alarmierter, dann wieder um Coolness ringender Felipe versucht zu folgen, weniger der Erlösung als des Begreifens oder auch der Story wegen. Sein Job sind Reisetipps. "Hier ist die Hölle los!" hieß es bislang bloß am Telefon aus der Redaktion. Jetzt aber sieht der Schreiber sich konfrontiert mit einem Auftrag anderen Kalibers: Da sind ein bis drei Gäste (ein Mann hat sich zum Frauengespann dazugesellt; postulierte An- und Abwesenheit der Figuren weicht von der Wahrnehmung des Publikums ab). Und diese Gäste verklickern Felipe – als zu notierenden Text! – diverse Geschehnisse rund um ein Drehbuch, eine Erzählung, die dazugehörigen rivalisierenden Autoren und deren Protagonist*innen. Es geht um ein Schreckensregime, Quälerei, Denunziation und Mord.
Brutalität und Tapferkeit
Keine Tasse geht in Steffen Jägers Inszenierung zu Bruch, wenn das Porzellanservice herhalten muss, um Grausamkeit und Willkür nachzustellen und um den melodramatischen Sprechgesang von Bo-Phyllis Strube zu Laura Mitzkus an der grasgrünen Ukulele zu illustrieren. Mit voller Wucht wird die Gabel in den Gugelhupf gerammt, und Luzian Hirzel macht ein wimmerndes Schmerzgeräusch. Der Foltertod dreier Männer – wiewohl rein fiktiv, in konkurrierenden Plots von "Drehbuch" und "Erzählung", welche allerdings auf Tatsachen beruhen oder zumindest beruhen könnten – nimmt Gestalt an durch eine beiläufige Geste: das Ineinander-Stellen von drei Teilen Schmutzgeschirr.
Die herbeigesprochenen Film- und Romanheld*innen samt Nebenfiguren und sich verselbständigenden Handlungssträngen ziehen sich, unter zeitweiliger Präsenz ihrer ebenfalls aus dem Hut gezauberten Schöpfer, durch alle sieben Gesänge bis zur letzten Tugend, der Tapferkeit. Tapferkeit verlangt dieser Kosmos an Gestalten auch den vier Schauspieler*innen ab, die mit Grandezza und Lust an der Überzeichnung den verschachtelten Pfaden Spregelburds folgen und das Rollenspiel-im-Spiel zelebrieren.
Genüsslich betreiben sie den Wandel der Identitäten auch mittels Kostümierung und Perücken (Aleksandra Kica). Missionarisch unterwegs und oft in Schwarz, erinnern die weiblichen Darsteller*innen an Zofen à la Genet und manifestieren ihre Verwandlungen in der ganzen Bandbreite von Sex-Shop-Dress bis Kittelschürze. Zu stumm projizierten Filmausschnitten aus The Big Sleep / Tote schlafen fest (USA 1946) zitiert das gemischte Doppel auf Sabine Freudes Bühne nicht nur die Gesten des Leinwandpaares, sondern auch die Requisiten – und trägt himmlische Kopien von Bogarts/Bacalls Kleidung.
Zum Schluss – nach einem kurzen Videoausflug ins Freie – legt sich ein erschöpfter Felipe, erstmals und endlich wieder allein, auf den langen Tisch und schlüpft unter eine dünne Decke. Wohlverdiente Erholung nach dem ganzen Höllenchaos? Scheint so, einen Moment lang. Da zieht er sich das grünliche Tuch ein Stück weiter herauf – und schon nehmen wir ihn nicht mehr im Bett wahr, sondern auf dem Obduktionstisch. Jäger wählt für den Schluss des Stücks eine schlüssige Lesart, die seinen spielerischen Zugang mit den bizarren Elementen und den auch musikalischen Pointen von Marvin Gaye bis Roy Orbison auf elegante Weise abfedert. Spregelburds Stück, das Leichtigkeit und Entsetzen so alptraumwandlerisch ausbalanciert, wird so auf beklemmende Weise lebendig.
Inferno
von Rafael Spregelburd
Regie: Steffen Jäger, Bühne: Sabine Freude, Kostüme: Aleksandra Kica, Dramaturgie: Dorothée Bauerle-Willert.
Mit: Luzian Hirzel, David Kopp, Laura Mitzkus, Bo-Phyllis Strube.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
landestheater.org
Kritikenrundschau
"Regie und Ausstattung tun ihr Bestes, das Werk modern auf die Bühne zu bringen", heißt es auf Vorarlberg online (24.2.2017). Alle vier Darsteller arbeiteten intensiv und mit hohem körperlichem Einsatz. Dass sie in unterschiedliche Rollen schlüpfen, mache die Schwäche aus. "Die inhaltlichen Sprünge der Darsteller zwischen den unterschiedlichen Figuren sind unpräzise und machen es dem Zuschauer sehr schwer, der Geschichte zu folgen." Zurückhaltender und höflicher Schlussapplaus.
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