Nicht totzukriegen

von Frauke Adrians

Berlin, 24. Februar 2017. Nicht mal das mit dem Sterben kriegen sie hin. Die Trauergemeinde aus Müttern und Töchtern, Söhnen und zweifelhaften Vätern in ihren schweren schwarzen Gründerzeit-Kostümen klatscht sich erleichtert die Friedhofserde von den Händen, denn der verlorene Sohn ist auferstanden, wenn auch bloß als Gespenst. Lachen und klatschen, und dann kann alles wieder von vorn beginnen, in alle Ewigkeit.

Gespenster anderer Art

Sebastian Hartmann hat Henrik Ibsens "Gespenster" und August Strindbergs "Vater" am Deutschen Theater Berlin zu einem Doppelhorrorskop der verkorksten Familien montiert: hier die Mutter, die hysterisch die Erkenntnis von sich weist, dass ihr Sohn so geworden ist wie sein Vater, ihr untreuer verstorbener Ehemann; dort der Vater, der wahnsinnig wird schon auf den Verdacht hin, seine Tochter könnte in Wahrheit die Tochter eines anderen sein und sich dadurch seiner Befehlsgewalt entziehen. Ein bisschen Heine soll auch mitspielen, "Deutschland. Ein Wintermärchen" und das Buch der Lieder, wohl der lyrischen Sprache wegen, die mit ihrer Musikalität einen Kontrast bietet zur schneidenden Ibsen-Strindberg-Prosa.

Gespenster3 560 Arno Declair hWer sind die Gespenster? Die Schattenrisse? Oder die zappelnden Menschlein? Philipp Thimm, Almut Zilcher, Linda Pöppel, Ben Hartmann © Arno Declair

Das fremdelt zwangsläufig und passt nicht zusammen, aber Bruchkanten sind gewollt in Hartmanns Collage. Die Mutter-Sohn-Szene aus dem "Wintermärchen" lässt Hartmann weg, die Gespenster, die er bei Heine abfragt, sind anderer Art, sie haben mit Heimweh und Sehnsucht zu tun und sind der unsterbliche Beweis dafür, dass niemand seine Prägung vollständig abschütteln kann, sei sie elterlicher oder muttersprachlicher Natur.

Ehekrisenwalzer für Cello und E-Gitarre

Linda Pöppel, die auch die Rittmeisterstochter Bertha spielt, singt mit Heine zur ausnahmsweise einmal sanften E-Gitarre von dem neuen und bess‘ren Lied, das es zu dichten gäbe. Dabei interessieren Hartmann an den Ibsen- und Strindberg-Dramen gerade die alten bösen Lieder von erdrückender Mutterliebe und ehelichem Machtkampf, die quälenden Schuld- und Pflicht-Dramen in der Familie. Er will sie herauspräparieren aus den beiden Stücken, seine Lieblingsszenen kommen wie in musikalischen Samples immer wieder vor, er bietet die Mutter-Sohn-Konstellation aus Ibsens "Gespenstern" sogar in zwei Altersklassen auf (Almut Zilcher/Edgar Eckert und Gabriele Heinz/Markwart Müller-Elmau), um ihre Überzeitlichkeit abzubilden.

Hartmanns Bühnenbild unterstreicht die Ausweglosigkeit der Endlosschleife: Eine drehbare Rampe führt aufwärts, aber letztlich nirgendwohin; die Figuren auf einem scheinbar lieblichen romantischen Gemälde im Hintergrund zeigen ihre Gesichter nicht; die auf die Wände projizierten Dorfhäuser wirken bei näherer Betrachtung eher alptraumhaft. Auch fürs Ohr bietet der Abend einiges, gelegentlich Überlautes, aber auch einen pfiffigen Ehekrisenwalzer für Cello und E-Gitarre. Faszinieren aber kann er nur dann, wenn die Schauspieler ihre Szenen auch mal bis zur Raserei ausspielen können – und bei aller Verliebtheit in seine Collagetechnik: Diese Freiheit lässt der Regisseur seinem Ensemble immer öfter im Verlauf der Inszenierung. Die nicht nur verbale Schlacht zwischen dem Rittmeister (Felix Goeser) und seiner Frau Laura (Katrin Wichmann) ist ganz großer Strindberg und hat dabei auch noch Witz. Und das Mutter-Sohn-Finale zwischen Zilcher und Eckert ist so haarsträubend überspannt, dass der Zuschauer zwischen Mitleid und Abscheu, Überlegenheitsgrinsen und Betroffenheit schwankt.

Es stimmt ja: Ungeklärte Vaterschaften sind, ebenso wie väterliche Allgewalt per Gesetz, in Westeuropa ein Problem von gestern, und die Syphilis, die den Sohn wie den Vater ins Grab bringen wird, ist hier selten und noch seltener tödlich. Aber Familien-Konstellationen von ähnlich verheerender Wirkung wie bei Strindberg und Ibsen sind zeitlos. Nicht totzukriegen. Das bringt Sebastian Hartmanns Stückcollage auf den Punkt – auch wenn nicht alle ihre Puzzleteile passen.

 

Gespenster
nach August Strindberg / Henrik Ibsen / Heinrich Heine
Regie und Bühne: Sebastian Hartmann, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Musik: Ben Hartmann, Philipp Thimm, Video und Licht: Rainer Casper, Videoanimation: Tilo Baumgärtel, Dramaturgie: Claus Caesar.
Mit: Edgar Eckert, Felix Goeser, Gabriele Heinz, Markwart Müller-Elmau, Linda Pöppel, Katrin Wichmann, Almut Zilcher.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Das Theater selbst ist hier im Wiedergängermodus", schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (27.2.2017). Anders als die frühen Arbeiten Hartmanns präge diesen Abend nicht die Lust an der Demontage, auch nicht die Selbstverliebtheit ins Opernhafte, sondern ein leiser melancholischer Zug. "So viel Poesie und Zartheit bei aller Dunkel-Drastik gibt es nicht oft." Die vielen Einzelteile fügten sich "zu einem Gesamtgebilde".

Die "Strindberg- und Ibsen-Zombies" bei Hartmann "wirken wie Wiedergänger eines wuchtigen Genregemäldes", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (27.2.2017) und lobt den Abend in der Tendenz: "Neben tollen Schauspielerleistungen gelingen Hartmann spektakuläre Bilder." Einwände hat die Kritikerin gegen die inhaltliche Ausrichtung. Hartmann lasse "Urszenen“ durchspielen: "der zwischengeschlechtliche Machtkampf, die Mutter-Kind-Beziehung, die Schuld". In ihnen "mutieren die Ehekrieger, Krankheitsvererber und Wahrheitsverdrängerinnen also gleichsam zu sozialkontextfreien letzten Instanzen: eine These, über die sich streiten lässt."

"Die Textcollage ist sprödes Kopftheater, das sich allerdings auf teilweise betörende Weise auf der Bühne entfaltet", findet hingegen André Mumot auf Deutschlandradio Kultur (24.2.2017). Statt wilder Verlebendigung herrsche im Gespensterreigen düstere Ziellosigkeit. Die Collage werfe jede Menge Rätsel auf und noch mehr Fragen, fasziniere und überfordere. "Zugleich aber macht sie eben doch klar, dass wir in den Dramen des Realismus keinen Halt finden ohne Handlung, ohne Identifikation."

"Das verkrampft Ödipale nervt ein bisschen, dass der Sohn unbedingt noch schnell die Mutter vergewaltigen muss", gibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (1.3.2017) zu bedenken. "Oft aber ist dieser Abend zart und poetisch, witzig und bilderstark. Ein Märchen aus einer gar nicht so fremden Welt." An anderer Stelle ist in der Kritik von "einem düster-romantischen Abend über familiären Horror und seine ewige Wiederkehr" die Rede.

Kommentare  
Gespenster, Berlin: unrund
Ein Abend, über den ich noch nachdenken werde, der auf jeden Fall nachwirkt. Das Ganze ist leider weniger als die Summe seiner Teile: für sich genommen sind die vier Elemente Bühne/Video, Schauspiel, Musik, Text jeweils stark, letzteres vielleicht am wenigsten. Aber für mich verbinden sich diese Elemente nicht wirklich, liegen wie Schichten über- und nebeneinander, wodurch diese Inszenierung die unrundeste von Hartmann am DT ist. Ich glaube nicht, daß das so gewollt war, es ist schlicht passiert. Es fehlt mir die letzte Vollendung, die die einzelnen Elemente einfach verdient hätten. Die Bühne ist umwerfend und clever, der Einsatz der Projektionen noch mal 'ne Schippe drauf zu Berlin, Alexanderplatz. Die Musik beeindruckt. Der Text: nun ja. Warum die Einsprengsel von Heines Wintermärchen? Aber schließlich die Schauspieler: hier muß ich einfach Katrin Wichmann hervorheben, zum Niederknien. Und Almut Zilcher habe ich lange nicht mehr so gut gesehen, berührend, verstörend.
Gespenster, Berlin: für Anhänger schwarzer Romantik
Das Deutsche Theater Berlin begeht das Karnevals-Wochenende in der Jecken-Hochburg an der Spree mit einer düsteren, melancholischen Familienaufstellung.

Der Abend ist vor allem für Anhänger schwarzer Romantik geeignet, die Freude daran haben, wie das Ensemble in dunklen Roben des 19. Jahrhunderts über die Bühne schreitet und weitere Fragmente deklamiert, während im Hintergrund Bilder verwunschener kleiner Hexenhäuser oder ähnliche Motive an die Wand projiziert werden.

Für alle anderen wird dieses "spröde Text-Sampling", wie es Deutschlandradio Kultur treffend nannte, spätestens zur Hälfte sehr eintönig.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/02/25/gespenster-depressive-collage-von-sebastian-hartmann-nach-ibsen-strindberg-und-heine-am-deutschen-theater-berlin/
Gespenster, Berlin: Blogkritik
Sebastian Hartmann verquirlt die drei Ebenen zu einem sich überlagernden und mischenden Geistertanz in Schwarz. Die Bühne fasst er ein mit einer halbkreisfürmigen Rampe, die je nach Lesart ins Nichts führt oder in der Drehbewegung stets zurück zu ihrem Anfang. Das traute Heim wird in monströsen Riesenprojektionen zum albtraumhaften Spuk (Video: Rainer Kasper), Ben Hartmann und Philipp Timm spinnen schwebend-klaustrophobische Klangflächen, deuten zum Ehekrieg auch mal einen düster-kargen Walzer an und lassen ihre Crescendi immer wieder abbrechen und neu ansetzen, während auf einem surreal anmutenden Gemälde, gesichtlose Figuren in eine schwarze Sonne starren. Dazu öffnet und schließt sich der Raum, verdunkelt und erhellt sich die Bühne, ein Kreislauf mit Spruch, in dem nichts vorankommt, weil keiner auszubrechen vermag aus der Spirale überlieferter Schuld- und Verantwortungsmechanismen. Die Jungen wiederholen die Sünden der Alten, der Albtraum endet nicht – nicht in der kleine, persönlichen Familie und nicht in der größeren von Nation oder Heimat.

Ein düsterer Reigen entspinnt sich, aus dem auch der Tod – etwa in der absurd-bitteren Schlussszene, in der der gerade Verstorbene wieder aufersteht und man ihn gespenstisch lachend – auch dies ein Grundton des Abends – aufnimmt in den Geisterzirkel. Collagenhaft kommt der Abend daher und darin liegt auch sein Problem: Viel Zeit lassen sich einige isolierte Schlüsselszenen – die Auseinandersetzung der Eheleute bei Strindberg und die mehrfach wiederholte Konfrontation des eine Lebenszeit Verdrängten zwischen Mutter und Sohn – werden damit zu eigenen Stückminiatiuren, die ein wenig fremdeln mit der gespenstisch albtraumhaften Rahmung. So hat der Abend immer mal wieder Sand im Getriebe, fällt die Spannung ab und löst sich die atmosphärische Dichte auf, nur um mühsam wieder hochgefahren werden zu müssen. So bietet sich ein uneinheitliches Bild, das Hartmann nicht ohne Bruchstellen zusammengesetzt bekommt. Und doch sind es gerade diese langen sich hochschaukelnden exemplarischen Konfliktpassagen, die dem Geistertanz Leben einhauchen, ihn mit Realität aufladen, seine Abstraktion mit konkreter Wirklichkeitserfahrung belegen. Denn das Spiel aus Macht, Schuld, Erwartung und Druck ist familiär wie gesellschaftlich keines, das der Vergangenheit angehört, auch wenn einiger der Konfliktpunkte Ibsens oder Strindbergs zumindest in der westlichen Welt nicht mehr im Mittelpunkt stehen. Die Familie als Individualitätverkleinerer und Möglichkeitsverweigerer, als In-Bahnen-Lenker und Scheuklappenaufsetzer und damit als Miniatur einer zunehmend wieder normativer auftretenden Gesellschaft ist eben keine Illusion, sondern für mehr als eine Generation nie etwas anderes gewesen als Lebenswirklichkeit. Klatschen wir uns also die Erde von den Händen und stellen wir uns den Untoten. Tun wir es nicht, gesellen wir uns ihnen bald hinzu.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/02/26/geisterstrudel-im-walzertakt/
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