Gott und die Verdauung

von Thomas Rothschild

Tübingen, 25. Februar 2017. Während auf der Bühne von dem Vorfall in Nizza am französischen Nationalfeiertag des vergangenen Jahres die Rede war, wurde bekannt, dass ein 73jähriger in Heidelberg gestorben ist, nachdem jemand mit einem Auto in eine Menschenmenge gefahren war. Näher an der Realität kann Theater nicht sein. Freuen kann man sich darüber nicht. Aber Vorsicht: nach dem Stand der Dinge gibt es keinen Hinweis auf religiösen Fanatismus oder auf einen terroristischen Hintergrund für den Heidelberger Vorfall.

"Der Nyx e.V. wurde 2003 als Zusammenschluss freier Theaterschaffender gegründet und fungiert seitdem als Plattform für genreübergreifende Projekte und Stückentwicklungen. Herzstück dieser Arbeiten sind Interviews, die als dokumentarisches Ausgangsmaterial dienen." Irgendwie kommt einem diese Programmatik bekannt vor. Dass sie gegen das auf Festivals und in mehr und mehr Spielstätten Gängige rebelliere, kann man schwerlich behaupten. "Genreübergreifend", "Projekt", "Stückentwicklung" oder "dokumentarisches Ausgangsmaterial" sind Zauberwörter, die für das Theater heute ungefähr so überraschend klingen wie "Inszenierung", "Drama" oder "literarischer Text" ein paar Jahrzehnte zuvor.

Nichts scheint konventioneller als die Subversion von gestern. Im Übrigen: was ist mit einem Begriff wie etwa "genreübergreifend" eigentlich gemeint? Die Grenzen überwindend zwischen Komödie und Tragödie (wie zum Beispiel Shakespeares "Kaufmann von Venedig"), zwischen Theater und Film (wie zum Beispiel die Prager Laterna magika), zwischen Fiktion und Dokumentation (wie zum Beispiel Kipphardts "Oppenheimer" oder Weiss‘ "Ermittlung"), oder gar so etwas wie das Tanztheater von Pina Bausch oder wie "Einstein on the Beach"? Alles Schnee von gestern.

Believe Busters2 560 Tobias Metz uLehnen sich gegen die Götter auf: Raphael Westermeier, Heiner Kock, Rolf Kindermann
© LTT / Tobias Metz

So genau aber nimmt es das Theaterkollektiv Nyx e.V. in seiner von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Zusammenarbeit mit dem Landestheater Tübingen unter dem Etikett "Believe Tank" gar nicht. In dem neuesten Output dieser zweijährigen Kooperation dienen nicht Interviews, sondern die handfesten Dialoge des arrivierten Autors Konstantin Küspert, der immerhin ein halbes Dutzend Stücke vorweisen kann und der ab der kommenden Spielzeit am Schauspiel Frankfurt als Dramaturg arbeiten wird, als Ausgangsmaterial. Und von dem Nyx-Gespann Nina Gühlstorff und Dorothea Schroeder ist nur die Letztere – als Regisseurin – übrig geblieben.

Den Glauben busten

Küspert knüpft lose an die erfolgreiche Science Fiction-Filmkomödie "Ghostbusters" von 1984 an und somit an ein typisches Produkt der amerikanischen Trivialkultur, also das gerade Gegenteil wirklichkeitsnaher Interviews. Paul ist davon überzeugt, dass die Weltgemeinschaft ohne Religion um ein Vielfaches besser wäre. "Eine Welt, die Toiletten braucht, hat keinen Gott." Das bewegt sich zwar nicht auf der Höhe der seriösen Theodizee-Debatten von Pascal bis Deschner und Dawkins, aber immerhin scheint es dem Autor ernst zu sein mit den Anklagen gegen religiös begründete Verbrechen.

Paul "rekrutiert" zunächst den gläubigen Muslim Marc, dann die Katholikin Katharina, in die er den Zweifel an Gott pflanzt und von der er köstliche Orangenmarmelade gewinnt, und schließlich den Juden Jens, um mit ihnen mittels eines Apparats, der es erlaubt, Gewalttaten der Vergangenheit zu revidieren, "Geschichte zu schreiben" und, nein, nicht Geister, sondern den Glauben zu "busten", also kaputt zu machen. Gemeinsam bewegen sich die vier in einer virtuellen Realität, deren Vorgänge sie verbal beschreiben, während Bilder auf die weiße Rückwand der Bühne projiziert werden. Spätestens beim dritten Mal freilich wird diese Reise in die virtuelle Welt redundant. Die Initiation erfolgt durch das Aufsetzen eines Plexiglashelms.

Believe Busters1 560 Tobias Metz uIm unheiligen Krieg: Raphel Westermeier, Rolf Kindermann, Heiner Kock, Susanne Weckerle
© LTT / Tobias Metz

Küsperts legt den Figuren Argumente in den Mund, die sich kaum widerlegen lassen. Aber diese Argumente kommen gegen die Evidenz des physisch Präsenten nicht an. Die Religionsbekämpfer werden ins Unrecht gesetzt durch den Entzug menschlicher Attribute in ihrer Science Fiction-Ausstattung à la "Metropolis" und, ähnlich wie Gregers Werle in Ibsens "Wildente", durch ihren kompromisslosen Übereifer.

Küsperts bisweilen allzu schlichte Dialoge kommen stets direkt zur Sache. Zwischendurch werden teils poppige, teils witzige Wortmeldungen aus den Social Media eingeblendet. Paul erhält seine Instruktionen von einer anonymen Stimme übers Telefon. Als er gescheitert ist, betet diese Stimme für Paul. Gehört sie gar Gott? Wir haben verstanden: in der Stadt von Ernst Bloch und Jürgen Moltmann sollen wir belehrt werden, dass auch Atheismus Religion sei. Wer‘s glauben will ...

 

Believe Busters
Uraufführung
von Konstantin Küspert
Regie: Dorothea Schroeder, Bühne; Thomas Rustemeyer, Kostüme: Andreas Hartmann, Video: Patrick Grossien, Videosounds: Stephan Schmidt, Dramaturgie: Stefan Schnabel.
Mit: Heiner Kock, Raphael Westermeier, Susanne Weckerle, Rolf Kindermann.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.landestheater-tuebingen.de

 

Kritikenrundschau

Man sehe bei dieser Uraufführung "ein bis in feinste Details choreografiertes Schauspiel", "ein vital-variables Spiel", "eine aberwitzige Premiere, schnell, flott, voller Humor und Persiflage und bei allem Slapstick dennoch tiefsinnig", schreibt Christoph Holbein im Schwarzwälder Boten (27.2.2017). Die Inszenierung gebe "dem Wortwitz des Autors Raum" und lasse die Schauspieler "in einer punktgenau gesetzten Körperlichkeit der Bewegungen pointiert agieren."

"Küspert betreibt ein klein wenig Religionsvergleich, spielt mit den jeweiligen Klischees, bringt religiösen Fanatismus auf die psychologisch-individuelle Schiene, erklärt die kruden Gedankengänge von Extremisten und macht daraus eine lustige Ghostbusters-Filmparodie, anregend und frech", schreibt Kathrin Kipp in den Reutlinger Nachrichten (28.2.2017). Das Ensemble liefere großes Kino, agiert ziemlich glaubhaft – ist aber natürlich auch sehr parodistisch unterwegs.

Peter Ertle vom Schwäbischen Tagblatt (27.7.2017) hat bei dieser Aufführung immer mal wieder das Gefühl, "wir seien im Kinder- und Jugendtheater". Was ihn etwas "ratlos" lässt, obwohl er einräumt, dass es "gut gespielt, stellenweise lustig und bis zum Schluss spannend" sei. Wenn die Botschaft von Konstantin Küsperts Stück sein sollte, dass "der Glaubenshasser selbst ein fanatisch Gläubiger" sei, "wäre es wenig und nicht sehr relevant". Vielleicht tue man dem Stück aber "unrecht, wenn man überhaupt nach einer Botschaft sucht. Und es sollte hier einfach die Religion und die zum Fanatismus neigende menschliche Psyche theatralisch thematisiert werden."

"Der Inszenierung gelingt es auf diese Weise überzeugend, zwischen ans Alberne grenzender Komik und dem beklemmenden Ernst des Grundthemas Religionsterror hin- und herzuschalten, ohne dass die Sache auseinanderfällt," so Armin Knauer im Reutlinger General-Anzeiger (28.2.2017). Allerdings gelinge es der Vorlage nicht so überzeugend, diese Balance zu halten. Insgesamt "eine sinnige Analyse – nur wäre es nicht nötig gewesen, dass man sie so plakativ und wie mit dem Holzhammer eingetrichtert bekommt."

Kommentare  
Believe Busters, Tübingen: was hatten Sie denn erwartet?
Sehr geehrter Herr Rothschild,

Sie scheinen sich ja mächtig geärgert zu haben über unsere Selbstbeschreibung, dass die darauf die Hälfte Ihrer Kritik verwenden. Dass Sie sich dann auch noch ärgern, dass sie das grade als „Schnee von gestern“ Diffamierte gar nicht zu sehen bekommen, spricht jedenfalls nicht für einen besonders kühlen Kopf. Was hatten Sie denn für ein formales Experiment erwartet, als Sie zu einer „UA von Konstantin Küspert“ anreisten?

Zugegeben unsere Selbstbeschreibung klingt etwas nach Antragsprosa. Wissen Sie warum? Weil wir seit 2003 freies Theater machen und dazu braucht man was? Genau, Geld. Dass Sie unsere Arbeit nur wegen eines einzigen Satzes derartig runtermachen spricht nicht für Ihre Seriosität und auch nicht für Ihre Seherfahrung – denn wie ja auch von Ihnen zitiert: wir sind seit 2003 am Start.

Im Übrigen lade ich Sie herzlich ein am 17.6. wieder nach Tübingen zu kommen, da machen wir ein „Game-Theater“, das ist grade total hip. Gar kein „Schnee von gestern“, nein, nein, nein.
Leider haben wir die Erfahrung gemacht, dass ein Autorenname zugkräftiger ist, als ein spannendes Format. Gerade deswegen sind wir so gespannt, ob Sie auch ohne „UA von Konstantin Küspert“ zu uns kommen. Vielleicht haben Sie sich ja auch bis dahin darauf besonnen, dass das Medium für dass sie arbeiten, nachtKRITIK heißt und nicht nachtRUMNÖRGELEI.
Believe Busters, Tübingen: Format spannender?
Könnte es sein, dass nicht ein Autorenname spannender ist als ein spannendes Format, sondern dass es in der Regel spannender ist, was aus einem einzelnen Menschen als Form eines nur durch ihn selbst ver-und bearbeiteten Inhalts kommt, als ein kollektiv ausgedachtes undoder bespieltes Format? Format ist etwas anderes als eine Kunst gewordene Form. Format ist etwas, was auf Normierungen zurückgreift undoder etwas normieren möchte. Es gibt Menschen, die so etwas spannend finden, sich als Prozess zu vergegenwärtigen. Aber ich verstehe sehr gut, wenn sie in der Regel anderes spannender finden, sich zu vergegenwärtigen.
Believe Busters, Tübingen: schade
Eine leider wirklich sehr seltsame Kritik, liebe Redaktion. Über die Inszenierung erfahre ich kaum etwas. Eher wirkt es, als möchte der Kritiker kundgeben, dass er mal die "Wildente" gelesen und von Einstein on the Beach gehört hat. Und die gesamten ersten drei Absätze sind auch völlig substanzlos. Über die Schauspieler, die Figuren, Publikumsreaktionen, Gedanken erfahre ich nichts. Schade bei den schönen Inszenierungsfotos im Text.
Believe Busters, Tübingen: Bedauern
Liebe(r) Audi, Sie sprechen zwar nicht mich, sondern die Redaktion an, aber wenn, was ich geschrieben habe, (auf Sie) so wirkt, wie Sie es formulieren, muss ich das mit Bedauern zur Kenntnis nehmen. Der Autor ist der letzte, der seine eigenen Äußerungen beurteilen könnte, und wenn ich mich nicht verständlich machen konnte, liegt die Schuld allein bei mir. In ein Rechtfertigungsritual, das nur peinlich sein kann, will ich nicht eintreten. Es freut mich immerhin, wenn die in der Tat schönen Fotos und vielleicht die Kritiken aus der regionalen Presse wenigstens teilweise entschädigen konnten.
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