Gut gelauntes Klagelied

von Shirin Sojitrawalla

Frankfurt, 4. März 2017. Die Erkenntnis, dass man aus Liebe nicht stirbt, hat schon manch ein Leben gerettet. So gesehen, verläuft auch für die Figuren in diesem Stück alles glimpflich. Zwar kommen sie vor Liebe um, aber eben nicht ums Leben. Patrick Marbers Stück "Drei Tage auf dem Land" fußt auf Iwan Turgenews 1872 uraufgeführtem fünfaktigen Sommerwahnsinn "Ein Monat auf dem Lande", der die Liebe als flatterhaftes Wesen karikiert und die Menschen in all ihrer Selbstbezogenheit desavouiert. Darin ist das Stück durchaus ein Vorläufer der späteren großen Dramen von Anton Tschechow, der das Spiel mit dem manisch aneinander Vorbeilieben auf die meisterliche Spitze trieb.

Elegie in Schmerz und Musik

Turgenew begegnete seinen Figuren und ihrer Art, das Leben zu verplätschern mit weit mehr Abstand und größerer Spottlust. Patrick Marber hat das Sommerstück des Russen gut gekürzt und sprachlich gekonnt ins Heute gebürstet. Beim Schlussapplaus in Frankfurt, es war die deutschsprachige Erstaufführung, wirkte der Londoner Autor ziemlich pleased, vielleicht auch weil man in dieser Inszenierung nicht verstehen muss, was gesagt wird, um zu verstehen, um was es geht.

DreiTageAufDemLande 560 BirgitHupfeld u"Drei Tage auf dem Lande", Andreas Kriegenburgs Remise im Birken-Look  © Birgit Hupfeld

Andreas Kriegenburg zelebriert die Befindlichkeiten des Stückes nämlich mit mächtigen Bildern, unmöglichen Bewegungen und viel Musik, er tunt damit Marbers 2015 uraufgeführtes Stück geradezu. Das Leben, die Liebe und der Schmerz werden an diesem Abend in allen möglichen Tonarten besungen ("The man I love", "Somewhere over the rainbow", "What a wonderful world", "Mad world" etc. pp.). Dabei schickt Kriegenburg das Stück auf den Boulevard und erliegt gleichzeitig seinem elegischen Zauber. Dieses Hin und Her bildet den Antriebsmotor des Abends.

Hippiekommune clownesk

Die Bühne begrenzt eine Art Remise, an deren von Rost überzogener Fassade der Lack abblättert, so dass das Muster der Front aussieht wie Birkenstämme. Durch das mit Stühlen vollgerümpelte Gebäude erreicht man den Garten. Ein Durchgang und ein Dazwischen, was sich schön zur Gangart der Inszenierung fügt: dem Wiegeschritt. Die Gefühle schwanken, und nicht selten verfallen die Figuren in genau so einen Wiegeschritt, der sie sehnen, taumeln, stürzen lässt.

"Lieben Sie nie und lassen Sie sich nicht lieben – nur dann sind Sie sicher!", lautet eine der Lektionen, die das Stück erteilt. Kriegenburg stellt die Liebe in all ihrer Lächerlichkeit zur Schau. Der russische Landadel wirkt bei ihm anfangs wie eine Hippiekommune, in der es passieren kann, dass die krakeelige Lisaweta (Verena Bukal) ihren Schlüpfer auf den Frühstückstisch packt, weil sie meint, sonst vor Hitze umzukommen. Nicht viel später imaginieren die beiden Buddys Arkadij (Isaak Dentler) und Rakitin (Felix Rech) Kiff-Touren im VW-Bulli. Die Liebe ist dabei in den ersten drei Akten nicht vielmehr als ein echt guter Witz. Das ist die meiste Zeit ziemlich amüsant, auch weil Kriegenburg den Leichtsinn immer wieder akrobatisch und clownesk meistert. Da rutscht Natalja in einen Spagat wie in eine Malaise, während sich Rakitin ihr in kerniger Nonchalance entgegenstreckt. Die ebenso komische wie traurige Gesellschaft, die hier ausgestellt wird, trinkt Limonade, schlägt Rad und ihre Zeit tot.

Einen Auftritt lang lichterloh lieben 

Franziska Junge als Hauptleidtragende Natalja spielt dabei die Klaviatur der Hysterie hoch und runter und wirkt am Ende wie ein Gespenst ihrer selbst. Die von Verena Bukal in all ihrem Aberwitz hervorragend ausgestattete Lisaweta mausert sich derweil zum leuchtenden Zentrum dieses Abends, an dem Felix Rech als Rakitin mit lässiger Verführungskraft und weit schweifender Traurigkeit protzen darf, Peter Schröder als Bolschinzow hemmungslos liebäugelt, Oliver Kraushaar als mad doctor einen Hexenschussheiratsantrag hinlegt und all die anderen zumindest einen glänzenden Auftritt lang lichterloh lieben.

Nach der Pause sehen wir von der anderen, der Gartenseite, auf das Gebäude. Das Tempo scheint noch gemächlicher und die Figuren wirken jetzt beinahe wie Irrenhäusler – irr geworden an der Liebe. In ihren weißen und hellen Kleidern bilden sie eine geschlossene Gesellschaft, in der sie abwechselnd Patienten und Pfleger sein dürfen. Das Weltgeschehen draußen kommt ihnen eh nur als Randbemerkung in den Sinn. Die dekadente Menschenschar kreiselt lieber um sich selbst und ist vollauf mit Enttäuschungen und sonstigen Täuschungen sowie dem Begehren nach einem anderen Selbst beschäftigt. Kriegenburg gießt das in ein gut gelauntes Klagelied, das sich als Zwischending aus Sommernachts-Sex-Komödie und Seelenschmerz-Stillleben entpuppt: kind of funny, kind of sad. Das muss man erst mal hinkriegen.

 

Drei Tage auf dem Land
von Patrick Marber
nach Iwan Turgenews "Ein Monat auf dem Lande"
Deutsch von John Birke
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie und Bühne: Andreas Kriegenburg, Kostüme: Irina Spreckelmeyer, Dramaturgie: Claudia Lowin, Musik: Christoph Iacono.
Mit: Isaak Dentler, Franziska Junge, Alexandra Lukas, Heidi Ecks, Verena Bukal, Felix Rech, Michael Benthin, Owen Peter Read, Oliver Kraushaar, Peter Schröder, Carlos Praetorius, Elena Packhäuser und Quentin Ritts / Ben Schmitt.
Dauer: 3 Stunden und 30 Minuten, eine Pause

www.schauspielfrankfurt.de

 

Kritikenrundschau

Einen "durchgehend spannungsvollen Dreistundenabend", hat Kerstin Holm gesehen und schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (6.3.2017): "Die großartige Regie von Andreas Kriegenburg übersetzt den Text in derben Witz, alle Temperaturstufen von Hysterie, aber auch in abgründige Seelenlandschaften."

"Reese, der seinen eigenen Abschied nicht direkt zelebriert, aber auch nicht beiseite lässt, mag es offenbar, wenn Kreise sich schließen", schließt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau aus ihrem Premierenbesuch. "Turgenjews Stück ist kein Meisterwerk, Marbers auch nicht, Kriegenburgs wie die vorzeitige Ablieferung eines Juni-Späßchens. Ein Zeitvertreib, auch mit der Hilfe und manchmal auf Kosten großer Gefühle, schließlich ein Zuendebringen auf sämtlichen Ebenen, dessen letzte zwanzig Minuten arg ausfransen." Die "entschlossene Ziellosigkeit" der Inszenierung entspreche den entschlossen unentschlossenen Figuren und sei "das Konsequenteste, was Kriegenburg für dieses vorerst letzte Frankfurter Mal bietet", so von Sternburg: "Im Laufe des Abends wird das natürlich bei aller Liebe ein Problem."

Den Textwust der Vorlage habe Patrick Marber gut gelüftet, "hat aus den Befindlichkeits-Suaden ein herrlich witziges Well-made-Play geformt, das Turgenjews Text treu folgt, aber halt doch etwas völlig Neues ist", schreibt Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (9.3.2017). Doch Kriegenburg und Well-made-Play, das gehe kaum zusammen, und tatsächlich nutze der Regisseur die luzide Dialogstruktur vor allem als Gerüst, in das er viele schöne Absonderlichkeiten hineinhängen könne. "Am Ende ist man also doch bei Tschechow, bei mehliger Melancholie, bei äußerster Verzweiflung in lichter Atmosphäre, bei Menschen, die tatenlos rasen, weil das Herz es ihnen befiehlt."

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