Männer weinen heimlich

von Christian Rakow

Zürich, 9. März 2017. Hall liegt auf diesem Abend. Schon in den Celloklängen und minimalistischen Gitarren-Riffs, die Live-Musikerin Maartje Teussink aus der Tiefe des Bühnenraums in Richtung Parkett weht. Aber auch die Figuren sind von einem ganz eigenen Hall erfasst. Bildlich gesprochen. Es ist, als würde sich alles, was sie einander zu sagen haben, sogleich von ihnen entfernen, in die Höhe entschweben, nie zum Sprecher zurückkehren.

Ein somnambules Spiel der Verfehlungen inmitten der dunklen Raumkomposition – halb Dachboden, halb hoch aufragender Luftschutzbunker –, die Thomas Rupert in den Pfauen des Schauspielhauses Zürich gebaut hat.

Die geräumige, entortete Halbwirklichkeit des Arrangements passt bestens zu Henrik Ibsens "Wildente". Es ist das Stück der wabernden Lebenslügen. Im Zentrum: das Haus der Familie Ekdal, wo schiefe Selbstwertfantasien unter der Glasglocke gezüchtet werden. Großvater Ekdal, einst ein Leutnant, saß wegen eines Wirtschaftsskandals Jahre hinter Gittern. Jetzt greift ihm sein ehemaliger Geschäftspartner Werle (der sich im Skandal auf dubiose Weise schadlos halten konnte) finanziell unter die Arme (was keiner wissen darf). Um sich nicht dem Desaster seines Niedergangs zu stellen, geht Ekdal regelmäßig auf den Dachboden Kaninchen schießen, als sei er noch der wackere Bärentöter von einst.

Gestrüpp aus Illusionen

Ekdals studierter Sohn Hjalmar, der mit Werles Kurzzeitaffäre Gina verheiratet wurde (die Vorgeschichte ist ihm wiederum verborgen), verdingt sich leidlich als Fotograf und bastelt in seiner Freizeit an einer bahnbrechenden "Erfindung", die den Ruf der Familie wiederherstellen soll. Allein es mangelt ihm an "Eingebung". Derweil pflegt Hjalmars Tochter Hedvig eine angeschossene, flugunfähige Wildente. Dass diese Ente das Symbol der desolaten Zustände bei Ekdals ist, betont Werles Sohn Gregers, wenn er antritt, das ganze Gestrüpp aus Kleinstillusionen zu roden.

WildenteZH 3045 560 Matthias HornTödliche Lebenslügen. Marie Rosa Tietjen; hinten: Milian Zerzawy, Siggi Schwientek, Maartje Teussink, Ludwig Boettger, Christian Baumbach, Isabelle Menke © Matthias Horn

Man sieht Gregers in Ibsen-Inszenierungen oft als Fanatiker, der seine "ideale Forderung" nach Wahrhaftigkeit ungebremst auf die Ekdals niedersausen lässt. Nicht so bei Milian Zerzaway. Sein Gregers ist ein zögerlicher, lauschender, durch und durch introspektiver Mann. Ähnlich gedämpft erscheint Gregers' Gegenspieler: Der Hausarzt Relling besitzt an sich eine gute Portion erzpragmatischen Mutterwitz: "Nehmen Sie einem Durchschnittsmenschen seine Lebenslüge, so nehmen sie ihm zugleich sein Glück", sagt er. Ludwig Boettger spuckt solche Sätze in Zürich hin wie ausgelutschte Zitronenschalen. Sein Relling ist ein abgezockter, aber müde gewordener Bohemien, der lieber Schnaps als geerdete Bonmots kostet.

Man kann nicht sagen, dass diese beiden Protagonisten über das Schicksal der Ekdals streiten. Eher gleiten sie aneinander vorüber, mit wenigen Schubsern. Christian Baumbachs Hjalmar dreht derweil seine Pirouetten, anfangs noch leutselig, mit leichten Anflügen von Heinz Erhardt. Später, wenn das Enthüllungsdrama Hjalmar zusehends in Rage bringt, wuchtig in sich selbst verbissen.

Ein verlorenes Männerspiel

Regisseurin Alize Zandwijk arrangiert die Männer als durch und durch kontaktarme Monaden. In der ersten Szene fasst Gregers in düsterem Bühnennebel seinem alten Schulfreund Hjalmar minutenlang an die Schulter. Die gefrorene Pose gibt dem Abend seine Richtung vor: in ein verkniffenes, verlorenes Männerspiel. Selbst bei Virtuosen wie Hans Kremer, der den Großkapitalisten Werle mit einer Hand in der Hosentasche, die andere zum schütteren Dirigat ausgestreckt, in den Bunker zirkelt; oder bei Siggi Schwientek, dessen tatteriger Großvater Ekdal nichts von einem Leutnant a.D., aber viel von einem zerstreuten Bibliothekar hat.

WildenteZH 2507 560 Matthias HornSchwache Augen, aber voller Durchblick: Marie Rosa Tietjen als Hedvig. Hinten: Christian Baumbach, Siggi Schwientek, Milian Zerzawy, Isabelle Menke © Matthias Horn

Die behutsame Dekonstruktion der Ibsen'schen Diskursträger hat Methode. Denn mit einem Mal wirken die Ekdal'schen Frauen, die in dem Drama wesentlich als Leidende der männlichen Zuschreibungen vorkommen, um Einiges aufgewertet. In einem faszinierenden Mix aus Bodenständigkeit und gelenkigem Witz pariert Isabelle Menke als Gina die Anwürfe ihres Gatten Hjalmar. Er plustert sich, sie lässt die Luft raus, er tobt, sie tänzelt. Punchline um Punchline, lauter Treffer.

Kompromisslose Wahrheit

Und die Hedvig von Marie Rosa Tietjen! Das fast schon erblindete Mädchen, um das der Ehestreit kreist, kommt als präraffaelitische Erscheinung daher. Langes Haar, dünnes weißes Kleid. Wie die junge Kate Bush. Vorsichtig tastet sie sich die Wand entlang. Aber wenn Tietjen die Stimme erhebt, dann steht die Zeit still, dann fräst sich eine raue, kompromisslose Wahrheit in die Dialoge, dann funkelt ein subversiver Humor, der all das Sinnen der Kerls um sie herum verblassen lässt.

"Das ist alles so komisch hier", sagt sie zur Pause, noch ehe sich der Plot komplett verdunkelt. Und sie selbst sorgt dafür, dass dieser kühle, schwebende Abend in seinen besten Momenten echte Tragikomödie wird. Kurzum: Mit leichten Akzentverschiebungen steuert Zandwijk das Drama gen Ausgang aus dem Wildenten-Puppenheim. Passend für eine Premiere einen Tag nach dem Weltfrauentag.

 

Die Wildente
von Henrik Ibsen
Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel
Regie: Alize Zandwijk, Bühne und Kostüme: Thomas Rupert, Musik: Maartje Teussink, Licht: Markus Keusch, Dramaturgie: Karolin Trachte.
Mit Hans Kremer, Milian Zerzawy, Christian Baumbach, Isabelle Menke, Marie Rosa Tietjen, Anne Eigner, Ludwig Boettger.
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

Alize Zandwijk suche nicht nach einer angestrengten Aktualisierung, die man sich in unserer Welt der alternativen Wahrheiten ja unschwer vorstellen könnte, sondern bleibe in einem zeitlosen, etwas vagen Rahmen, so Andreas Klaeui im SRF (10.3.2017). "Was die Regisseurin über den stimmungsvoll illustrierten Moment hinaus will, bleibt unbestimmt." Das Ensemble hole aus den Figuren alles raus – aber auch das bleibe im breiten Angebot an Spielweisen und Haltungen unverbindlich. "Grosse Momente hat dann vor allem Hedvig, die Schauspielerin Marie Rosa Tietjen: Sie birst beinahe vor innerem Drängen und Sehnen, das nicht aus ihr raus kann. Da ist was von der tragischen Verbohrtheit und Rettungslosigkeit dieser Ibsen-Figuren zu spüren, das dem Abend im Ganzen abgeht."

"Das Schattentheater mit Soundtrack, welches uns die Niederländerin Alize Zandwijk zu Beginn ihrer ersten Inszenierung am Zürcher Schauspielhaus beschert, ist von dunkler, eigenwilliger Schönheit," schreibt Katja Baiger in der Neuen Zürcher Zeitung (abgerufen: 11.3.2017). Gekonnt übersetze die Regisseurin das an Symbolen reiche Drama in die Bühnensprache. "Im Laufe des zweieinhalbstündigen Abends geht die eingangs so wunderbare Magie verloren. Das zunächst zauberhafte Umhergehen Hedvigs droht auf einmal – von Rock-Balladen untermalt – kitschig zu werden."

"Die arglos naturalistische Inszenierung der niederländischen Regisseurin bleibt zwar dem Text und dem Handlungsrahmen von Ibsens 1885 uraufgeführtem Gesellschaftsdrama sehr treu, versäumt aber über weite Strecken, ihre Schauspieler so zu führen, dass sie zu Teilnehmern werden," schreibt Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (abgerufen: 11. 3. 2017). "Wie eine brave Schul-Interpretation klopft diese Inszenierung Ibsens Stück ab, ohne je zum Inneren zu gelangen. Ein schwacher Abend, der mit sich und den Gewissensfragen des Stücks nicht zu Ende gekommen scheint. Und doch: Für dieses eine, natürlich empfindende und handelnde Kind, für diese Hedvig, lohnt der Zürcher Theaterabend." Marie Rosa Tietjen spielt ihre Rolle dem Eindruck des Kritikers zufolge "mit sorgfältiger Anstrengung. Alle anderen spielen nur mit angestrengter Sorgfalt".

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