Was hat Willy Loman eigentlich falsch gemacht?

von Dorothea Marcus

Köln, 11. März 2017. Wie ein schwarzes Loch – oder eine überdimensionierte Designerlampe – hängt ein gigantischer Quader über dem Esstisch des Willy Loman. Wasser sickert von außen ein, ein lockender Todesweiher. Nur unter dem Tisch scheint es zunächst trocken zu bleiben: das Irrationale dringt in ein bürgerliches Mittelstandsambiente ein, das im schwarzen Riesenraum der Fabrikhallenbühne des Depot 1 wie eine winzige beleuchtete Insel wirkt.

Ein atemberaubendes Bühnenbild hat Thomas Dreißigacker da für Rafael Sanchez' Inszenierung geschaffen, das gekonnt mit Assoziationen von Alltag und Angst spielt, von Enge und Weite, Kontrollbedürfnis und kosmischem Nichts. Und da sitzt also Martin Reinke als graugesichtiger, grauhaariger, großmäuliger Vertreterknecht Willy Loman nun im winzigen Lichtschein. Außen ist alles drohende Düsternis, während die Live-Trompete von Pablo Giw krächzt und klopft.

12164 handlungsreisender 560 tommy hetzel uMartin Reinke (rechts) ist Willy Loman, Benjamin Höppner (links) sein Bruder Ben © Tommy Hetzel
Es hätte alles so schön werden können an diesem Abend, liest sich Arthur Millers 1949 uraufgeführtes Drama "Tod eines Handlungsreisenden" doch über weite Strecken immer noch wie ein Abbild heutigen Selbstoptimierungszwangs. Und droht uns dann nicht trotz aller irdischer Hamsterradanstrengungen bald das totale Vergessen, das Versinken im Nichts?

Im Dschungel des Kapitalismus

Doch bereits mit den ersten Zwiegesprächen Willy Lomans und seiner liebenden Linda macht sich ein kleines Unbehagen breit: etwas zu mädchenhaft allgemein spielt Birgit Walter die aufopferungsvolle Loman-Gattin, die aber doch streng die Arbeitsumsätze abfragt. Etwas zu forsch spielen die Söhne Biff (Sean Mc Donagh) und Happy (Thomas Müller) die optionsparalysierten, gefühlsverdorrten Mittdreißiger von heute, die Frauen flachlegen und geknechtet sind von väterlicher Erfolgserwartung. Als leutselige Schlagerstarfigur mit Karnevalsperücken-Langhaarfrisur macht Benjamin Höppner leider auch den erfolgreichen Bruder Ben etwas zu lächerlich, der sich im Dschungel des Kapitalismus mit Diamantenraubbau erfolgreich geschlagen hat.

Wie Geister huschen die Figuren des Dramas im Hintergrund hin und her und warten auf ihr Auftreten. Und doch können sie sich, wenn sie dann da sind, oft nicht recht zwischen Karikatur und körperlichem Psychologismus entscheiden. Immer wieder droht Banalität im metaphysischen Bühnenraum. Wenn sich Happy Nase an Nase mit seiner Mutter anlegt oder sich mit "Miss Forsythe" (Ines Marie Westernströer) besäuft, dann wirkt das mitunter, als würde man sich aus einem Baukasten von Konflikt- oder Coolness-Gesten bedienen und nicht genau entschieden haben, wie tief man in die Figur hineingehen will.

12162 handlungsreisender 560 tommy hetzel uMittelständisches Untergangsszenario: mit Thomas Müller, Martin Reinke, Benjamin Höppner, Seán McDonagh  © Tommy Hetzel

Verblüffend dagegen das stringente Selbstbelügen von Willy Loman an diesem Abend. Martin Reinke spielt ihn wie ein zunehmend ramponiertes Stehaufmännchen: energetisch, lärmend lustig, nie das System hinterfragend. Das treibt ihn im Angesicht des allgemeinen Erfolgsfetischismus zum Versagen – während er sich im verzweifelten Slapstick in der Krawatte verheddert oder seine Stimme zum Überschlag bringt, sich abwechselnd selbst erniedrigt und überhöht.

Im mörderisches System mitspielen

Was hat Willy Loman eigentlich falsch gemacht, fragt man sich ständig, wenn man dem sympathisch alternden Wuschelkopf Reinke im hängenden Anzug so zusieht, hat er doch nur daran geglaubt, dass durch Arbeit Aufstieg möglich ist. Aber er hat eben auch an das Äußere geglaubt, an die Kraft der hohlen Motivationsphrasen. Und er hat versucht, in einem mörderischen System mitzuspielen bis zur letzten zwangsoptimistischen Selbstverleugnung. Hätte er doch hinter die Oberflächen geschaut. In Rafael Sanchez' Lesart des Stoffs vergisst man schnell, dass Arthur Miller hier eigentlich die Kehrseite des amerikanischen Traums der schönen neuen Welt beschrieb. Zu gut funktioniert das Stück als Analogie auf kapitalistischen Fortschrittswahnsinn.

Schön ist es, wenn Willys Halluzinationen einsetzen und er einfach am Tisch sitzen bleibt, während um ihn herum blaues Licht den Raum erweitert, sich das Wasser auf einmal in den Wänden spiegelt und jeder Fußtritt in der Bühnenpfütze an der Wand abgründige Strudel auslöst. Wenn die Söhne, die in der Gegenwart ihren Vater verächtlich belügen, mit Baseballcaps spielen, wie er in der Vergangenheit für sie der Größte war. Großartig ist es, wie der Musiker mit klackernden, kratzenden Soundeffekten auf der Trompete die Grundbedrohung legt.

Flucht vor dem Nichts

Doch in der Schlüsselszene, als Biff den Glauben an den Übervater verliert, wälzen sich Willy und Geliebte wieder fast ein wenig zu pflichtschuldig im Wasser – zu irgendwas muss man es ja ins Depot 1 gekarrt haben. Biffs Klopfen an der Hoteltür hallt wie Höllenschläge. Aber so recht nimmt man ihm die Traumatisierung dann trotzdem nicht ab. So schwankt der Abend stets zwischen großer Symbolik und fast boulevardesk schlichter Ausführung. Zum Schluss entkleidet sich der gescheiterte Willy bis auf die hängende Feinripp-Unterhose. Bruder Ben lockt in die Ferne, doch Willy fällt – ins Wasser.

Eine konzentrierte, dichte Inszenierung, ganz anders etwa als zuletzt das bildergewaltige Einfallstheater von Robert Borgmann in Stuttgart. Sanchez hebt das berühmte Vertreterdrama auf eine höhere, endzeitliche Ebene, die oft frösteln lässt. Willy Lomans Weg in den Suizid ist hier letztlich, widersprüchlicherweise, eine Flucht vor dem Nichts. Vieles ist an diesem Abend ist stimmig – nur leider nicht immer die schauspielerische Stringenz.

 

Tod eines Handlungsreisenden
von Arthur Miller
Regie: Rafael Sanchez, Bühne: Thomas Dreißigacker, Mitarbeit Bühne: Hedda Ladwig, Kostüme: Maria Roers, Musik: Pablo Giw, Musiker: Pablo Giw.
Mit: Martin Reinke, Birgit Walter, Sean McDonagh, Thomas Müller, Winfried Küppers, Benjamin Höppner, Ines Marie Westernströer.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspielkoeln.de

 

Kritikenrundschau

Willy Lomans Driften zwischen Wahn und Wirklichkeit wirke in Sanchez' Inszenierung noch fiebriger, so Christian Bos im Kölner Stadtanzeiger (13.3.2017). Martin Reinke, seit 27 Jahren am Schauspiel Köln, sei nun endlich im richtigen Loman-Alter. "Selbstredend ist die Inszenierung auch ein Geschenk an ihn", aber das gebe er ans Publikum zurück, lasse es vor Mitleid mit dem Prügelknaben des Kapitalismus dahinschmelzen, ohne um seine Sympathie zu buhlen. "Am Ende Jubel für alle Beteiligten, Standing-Ovations für Martin Reinke."

"Jede Aufführung dieses Dramas steht oder fällt mit ihrem Hauptdarsteller, und hier bietet Köln einsame Klasse auf: Martin Reinke", schreibt Hartmut Wilmes im Bonner General-Anzeiger (13.3.2017). Reinke führe Willy traumhaft sicher über den Grat zwischen "Verblendung und bitterer Erkenntnis, zwischen Aufgekratztheit und tödlicher Erschöpfung". Thomas Dreißigackers Bühnenbild sei der erste Geniestreich in Rafael Sanchez' Inszenierung: in der Mitte nur eine kleine Lichtinsel. "Martin Reinke aber badet wenig später in verdienten Ovationen, denn sein überragendes Spiel krönt einen schlüssigen Abend."

 

 

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