Die Mauer muss weg

von Andreas Wilink

Bochum, 11. März 2017. Terror-Alarm. Salven knattern, Stimmen überschlagen sich. Aufruhr in den Straßen. Bürgerkrieg. Brennpunkt Verona. Und wir sind live dabei. Kamera ab.

Eine Mauer trennt die gegnerischen Familien und Parteien. Und nicht nur sie. Die meterhohe Barriere spannt sich die Rampe entlang und teilt das Parkett im Schauspielhaus Bochum von der Hinterbühne, wo ebenfalls ein Teil der Zuschauer platziert ist. Auf der einen Seite Montague, auf der anderen Capulet. Aber keiner soll hier sagen: Ich sehe was, was Du nicht siehst. Die Verbindung stiftet bzw. den Durchblick gewährt: die mobile Video-Kamera, die wacklig, trickfilmartig und technisch nicht immer einwandfrei (da ließe sich von den Kollegen der Berliner Volksbühne noch einiges lernen) das jeweils Verborgene hinter der Wand auf dieselbe projiziert. Angesichts der Tragödie von "Romeo und Julia" könnte man auch sagen: Geteiltes Leid ist halbe Freud'. Was für die von Marius von Mayenburg verantwortete Inszenierung allerdings schon zu viel versprochen wäre.

Grob, falsch, verrenkt

Die Mauer in den Köpfen muss weg. Dafür steht die junge Liebe. Zunächst steht verträumt Romeo (Torsten Flassig) am Seiteneingang, klampft auf der Gitarre und macht ein paar Liebes-Verse. Typ: softer Liedermacher. Da ist Mercutio (Jakob Benkhofer) mit rotzigem Bomberjacken-Charme schon ein anderer Kerl, einer, wie ihn Wolfgang Tillmans gern fotografiert und mindestens so schwul, während Tybalt, blondiert tänzelnd (Fridolin Sandmeyer), kein Messerstich zuzutrauen ist. Ein bisschen Gender-Verwirrung schadet auch nichts, weshalb Signora Capulet (Matthias Redlhammer wie eine Adele Sandrock aus dem Pütt) und die Transenrevue-Amme (Nils Kreutinger) traditionelle Geschlechter-Zuschreibung überwinden. In dieser Veranstaltung wirkt ohnehin jeder wie verkleidet.

Romeoundjulai1 560 ThomasAurin uWir feiern hier 'ne Party, und Du bist nicht dabei? © Thomas Aurin

Wenn Regie auch bedeutet, Schauspieler zu führen, Rhythmus herzustellen, über drei Stunden eine Spannung zu gestalten, so hat Marius von Mayenburg seine Aufgabe in einer Menge von Grobheiten, Falschheiten, Verrenktheiten und Geschwätzigkeiten kläglich verfehlt. Keiner im Ensemble kann die Autorität seiner Figur behaupten. Wenn es wenigstens noch Entertainment gewesen wäre ...

Wenn Sprache versagt

Es müsste doch mal wieder ganz anders aussehen und sich anders anfühlen. Merkt denn niemand, wie sehr nur noch modische Routinen, Requisiten, Codes und Haltungen bedient werden? Video-Geflimmer. Jemand haucht oder wimmert einen Song. Alles second hand. Als hätte das Sprechtheater einen beständigen Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem emotionalen Rigorismus der Oper. Grundsätzlich versagt das Gefühl in der Sprache und versagt es sich – stattdessen wird gesungen. Nichts ist entwickelt, alles wie auf Knopfdruck abgerufen. So läuft die Theater-Maschine leer.

Romeoundjulia 560 ThomasAurin uSofter Typ trifft Cyber-Girl: Torsten Flassig als Romeo und Sarah Grunert als Julia © Thomas Aurin

Auf dem Capulet-Fest, das sich als brünstig dekadente, techno-stumpfe Konfetti-Parade und kannibalische Body-Painting-Party aufputscht (die Nachtschatten aus dem Hades-Club waren bei Jette Steckel am Thalia Theater in Hamburg weitaus schicker), trifft Romeo seine Juliet, ein struppiges Cyber-Girl (Sarah Grunert), und hängt – in der Balkon-Szene – an der Mauer kussfertig an ihr wie Spider-Man. Immer nur Ersatzhandlungen für den emotionalen Furor, das Unbedingte, Tollkühne, den sprühenden Enthusiasmus, die Naivität des Außer-Sich- und Überwältigt-Seins. Der Rausch kommt bloß aus der Spritze.

Eine genierliche Mischung

Das martialisch mit Sirenen-Jaulen und hallendem Getrommel aufgedonnerte Killer-Spiel von Romeo, Mercutio und Tybalt wiederum zeigt in missverstandener Ästhetik eine heikle Schauder-Lust an Gewaltbildern. Und zwischendurch Einlagen wie aus einer Billig-Serie mit Schlampen- und Trulla-Tiraden. Hausfrauen-Trash, Ruhrpott-Büdchen-Slang, Pop-Pathos (u.a. mit Roberta Flacks "Killing me softly"), Satanskult und Heroinsucht mit Todesfolge (beim Beichtvater) und Gothic-Style ergeben eine genierliche Mischung. Dem Schauspielhaus Bochum, dem Shakepeare-Theater aus der Tradition von Zadek, Steckel, Haußmann bereitet diese Inszenierung Schande.

 

Romeo und Julia
von William Shakespeare
Übersetzung und Regie: Marius von Mayenburg, Bühne: Stéphane Laimé, Mitarbeit Bühne: Julius Florin, Kostüme: Miriam Marto, Musik: Matthias Grübel, Video: Sebastien Dupouey, Kampfchoreografie: René Lay, Licht: Bernd Felder, Dramaturgie: Alexander Leiffhardt.
Mit: Jakob Benkhofer, Torsten Flassig, Sarah Grundert, Nils Kreutinger, Matthias Redlhammer, Fridolin Sandmeyer, Michael Schütz.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

"Ein Fest für die Augen", das über weite Strecken die mitreißende Leichtigkeit einer Komödie habe, schreibt Ralf Stiftel in der Westfälischer Anzeiger (13.3.2017). "Die Mauer nehmen die Darsteller als sportliche Herausforderung, die erklettert werden will." Visuell hole von Mayenburg "Romeo und Julia" an die Gegenwart heran. Romeos Jugendgang grenze sich von der Elterngeneration durch Tattoos, schwarzes Leder und Rüpeleien ab. Die Jungmänner der Capulets kommen in schnieken Anzügen daher. Sehr romantisch sei die Inszenierung nicht, aber: "Großer Beifall für einen Abend, der den Klassiker sicher nicht neu erfindet, aber doch angenehm auffrischt."

"Der Abend im Großen Haus ähnelt eher einem Drogentrip als einer Gemütsreise", so Jürgen Boebers-Süßmann in der WAZ (13.3.2017). Von Mayenburg erzähle Shakespeares Tragödie als Geschichte der Faszination von Liebe und Tod: roh, wild, gewalttätig. Die Direktheit des Spiels gehe bis an die Schock-Grenze. "Eine Veroneser Gesellschaft wie eine Versammlung von Lemuren aus dem Totenreich: fratzenhafte Masken, das uneindeutige Spiel mit Geschlechterrollen – das ist zutiefst verstörend, aber eben auch verstörend gut gemacht. Ein paar mehr Ruhepunkte hätten dem Abend nicht geschadet, "und ein wenig mehr Shakespear'sche Original-Poesie auch nicht".

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beschreibt Andreas Rossmann (14.3.2017) den Abend als eine Inszenierung, "die vor dem Stück flieht, weil der Regisseur Marius von Mayenburg, wie der große technische Aufwand verrät, wohl der so vermessenen wie irrigen Annahme ist, es retten zu müssen". Vor lauter Angst, ja keine herkömmlichen Romantik-Klischees zu bedienen, verfalle von Mayenburg ins platte Gegenteil.

vor dem Stück flieht, weil der Regisseur Marius von Mayenburg, wie der große technische Aufwand verrät, wohl der so vermessenen wie irrigen Annahme ist, es retten zu müssen.

Kommentare  
Romeo und Julia, Bochum: Zustimmung zur Kritik
Was kann man zur Ehrenrettung sagen? Dass das Programmheft und das Interview mit den Verantwortlichen besser ist als das, was man zu sehen bekommt? Dass sich die Schauspieler/innen (allen voran Sarah Grunert und Torsten Flassig) in manchen Momenten gut geschlagen haben? Kann man argumentieren, dass man trotz allem oder gerade wegen allem über Umwege die wenigen schönen Stellen Shakespeare-Text wieder goutiert, die dann die Schauspieler/innen auch gut rüberbringen? Dazu gehört auch die überzeugend inszenierte Ineinssetzung von Liebes- und Todessehnsucht. Aber ansonsten stimmt es schon, dass mit den Musik-, Slapstick- und Sporteinlagen der Gesamteindruck verwässert wurde und man sich ständig überlegt hat, ob man nicht besser geht.
Romeo und Julia, Bochum: Tradition ist geduldig
Die Shakespeare-Tradition des Schauspielhauses Bochum begann nicht erst mit Peter Zadek, wie Herr Wilink schreibt, sie begann Jahrzehnte früher, mit Saladin Schmitt und Hans Schalla! Schon vergessen? Diese Tradition hält viel aus!
Romeo und Julia, Bochum: keine Idee
Also ... vieles nicht gelungen... aber vor allem das symbolllllische Bühnenbild macht den Abend kaputt... selten so geärgert!
Darüberhinaus: Keine inhaltlich Idee zu sehen, keine Führung von Figuren zu erkennen, von einer Interpretation ganz zu Schweigen. Manchmal möchte man tatsächlich wissen, wie die Vorbereitung zu so einer Arbeit aussieht, wenn das Ergebnis dann das obige ist...
Doch auch andere Arbeiten des Regisseurs wie z.B. Viel Lärm um Nichts an der Schaubühne kranken doch eben an diesem Fakt: Regie ist halt auch ein Beruf. Das ewige Missverständnis, das jeder aus dem künstlerischen Stab das Zeug zur selbigen hat, lässt sich hier wieder mal deutlich erkennen. Schade um das großartige Stück.
Romeo und Julia, Bochum: Wilink animiert
Eine Kritik, wie diese von Herrn Willink, tut nicht weh sondern animiert mich eher, mir den Abend anzusehen! (…)
Romeo und Julia, Bochum: Shakespeare-Tradition
@2. Kommentar von Daniel Spitzer. Gott sei Dank gibt es noch Theaterfreunde, die über die bemerkenswerte Shakespeare-Tradition des Schauspielhauses Bochum in der Ära Saladin Schmitt und Hans Schalla Bescheid wissen!!
Romeo und Julia, Bochum: "Stück Plastik" ist grandios
Also "Stück Plastik" von M.v.M. an der Schaubühne inszeniert ist grandios!
Romeo und Julia, Bochum: Kritik hat in vielen Punkten Recht
Es gibt einige, wenige Szenen, die anmutig und berührend sind.

Aber leider muss man dem Autoren der Kritik in vielen Punkte Recht geben.

Das Konzept funktioniert nur selten. Die Dramaturgie ist gerade im zweiten Teil ziemlich schlampig. Eine Führung der Schauspieler ist nur selten zu erkennen.
Romeo und Julia, Bochum: stürzte nach der Pause ab
Wirklich neu war die Mauer-Idee nicht aber trotzdem gut. Fühlte mich anfänglich geradezu katapultiert und war sogar bereit die mangelhaft Tonführung zu überhören, stürzte dann aber nach der Pause derart tief ab, dass ich eingeschlafen bin – wie beim Tatort!
Romeo und Julia, Bochum: falsche Wortwahl
Tut mir einen gefallen und hört doch mal mit dem ständigen rumgeheule auf von wegen Haußmann, Steckel, Zadek etc. Ich kanns nicht mehr hören. Die Zeiten sind vorbei. Dann schaut euch alte Videoaufnahmen von damals an wenn euch das besser gefällt. Dann könnt ihr in euren Wohnzimmern applaudieren und jubeln und vor Freude in Tränen ausbrechen. Einfach der alten Zeiten wegen.
Und hört auf von Schande oder Ehrenrettung oder ähnlich geistiger Diarrhoe zu sprechen. Die Inszenierung muss euch nicht gefallen, aber die Wortwahl lässt wirklich zu wünschen übrig... Eine SCHANDE ist es vielleicht, dass Trump gewählt wurde. Oder, dass die AfD und die NPD existieren. DAS ist eine Schande. Aber nicht wenn eine Inszenierung von Romeo und Julia nicht den längst überholten Geschmack eines "Kritikers" trifft.
Die Wortwahl eurer Aussagen und besonders der Kritik von Herrn Wilink ist zum Teil wirklich unverhältnismäßig.

So, und jetzt noch viel Spaß beim Shit-Stormen!
Romeo und Julia, Bochum: schießt übers Ziel hinaus
...über den abend kann man sicher trefflich streiten, auch wenn sich über geschmack ja eigentlich nicht so gut streiten lässt. dennoch: solche kritiken braucht kein mensch. (...) schiesst dabei weit übers ziel hinaus.
Romeo und Julia, Bochum: erfrischend
War ein schöner Abend mit erfrischender Interpretation des Themas.
Romeo und Julia, Bochum: Geschmacklosigkeit
Seit 12 Jahren sind wir begeisterte Besucher des Schauspielhauses Bochum. Zur Premiere "Romeo und Julia" am 11.3. haben wir unsere 16-jährige Tochter (ist ziemlich tough, sieht auch gern mal 'nen Horrorfilm) mitgebracht.
Die nächste Lektüre in ihrem Leistungskurs Englisch ist "Romeo und Julia".
War eine schlechte Idee, unsere Tochter mitzunehmen, sie wollte schon während der Vorstellung gehen. Jugendliche sind da kompromisslos und echt.
Eine derart überfrachtete, an Geschmacklosigkeit und Brutalität nicht zu überbietende Inszenierung haben wir noch nicht gesehen.
Besonders überflüssig war die Masturbations-Szene Mercutio an Romeo.
Wir sind, da wir in der 1. Reihe saßen, aus Respekt vor den Schauspielern erst in der Pause gegangen. Wir hatten dann zum Glück noch einen schönen Abend im "Tanas".
Die Kritik von Andreas Wilink spricht mir aus der Seele!
Romeo und Julia, Bochum: nur zum Kindermärchen
Na die Hauptsache ist ja auch, dass das Essen schmeckt.
Die Augen zu öffnen, für das, was draußen auf den Straßen passiert, wäre ja auch ne Nummr zu anstrengend. Und außerdem sinnlos, denn Gewalt, Missbrauch und Brutalität gibt's ja nur im TV und nicht auf den Straßen Bochums.

Das nächste Mal die Tochter auch nur zum Kindermärchen mitbringen, da geht's noch gesittet zu, oder viel mehr wird da die Gewalt gut kaschiert und fällt nicht so auf.
Romeo und Julia, Bochum: glaube kein Wort
Ich glaube der Kritik kein Wort. Seit Herr Wilink den 'Purpurstaub' von Sebastian Hartmann so schlecht besprochen hat, stehe ich seinen Texten äußerst skeptisch gegenüber. Meist empfinde ich total gegensätzlich. Deshalb freue ich mich auf den Abend in Bochum umso mehr!
Romeo und Julia, Bochum: Einstellungen
@14: Das ist auch die richtige Einstellung. Denn es wäre fatal, seine Meinung von einer Kritik eines Einzelnen beeinflussen zu lassen, vor allem dann, wenn man es mit Kritikern zu tun hat, die ihre Eindrücke zu subjektiv schildern und, zu privat werden und ihre persönliche Abneigung einen zu großen Stellenwert einräumen (...)
Ich konnte mit dem Abend sehr viel anfangen!
Romeo und Julia, Bochum: so schwul?
Da mir als bisheriger Nicht-Zuschauer des Stückes der Kontext nicht zu hundert Prozent klar ist, wünsche ich mir genauere Angaben über die Bezeichnung "mindestens so schwul". In der Definition, die ich kenne, bedeutet schwul sein, als Mann vor allem homosexuelle Neigungen zu verspüren. Der Text impliziert, es gäbe noch andere Bedeutungen des Adjektives. Sollten diese auf eine bestimmte Verhaltensweise, eine Mundart oder ein Aussehen ausgelegt sein, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass hier eine Diskriminierung homosexueller Menschen vorliegt. In diesem Fall bitte ich, den Text in der Kritik zu korrigieren.
Sollte diese Formulierung in einem anderen Kontext nicht diskriminieren, bitte ich, sie auch in diesen Kontext zu setzen.

(Werte*r Weimann,
ja, es gibt noch mehr Bedeutungen des Wortes schwul. Zum Beispiel gibt es eine schwule Kultur. Die wurde von vielen Künstlern jeweils sehr unterschiedlich geprägt. Wolfgang Tillmans ist einer von ihnen, der in den 90er Jahren ein bestimmtes Bild von mal beiläufig, mal provokativ inszenierter Männlichkeit pägte, das der Kritiker hier aufruft.

Davon abgesehen scheint Mercutio in von Mayenburgs Interpretation tatsächlich schwul sein zu sollen – vgl. Kommentar #12. Aber sehen Sie es sich doch an und sagen Sie uns Ihre Sicht des Abends.

MfG, Georg Kasch / Redaktion)
Romeo und Julia, Bochum: was schwule Kunst ist
Nein, lieber verehrter Georg Kasch, "schwul" hat keine andere Bedeutung und bedeutet in der Bedeutung "homosexuell" erst seit dem Beginn des 19. Jhdts. Das wofür wir es verwenden bis heute.
"Schwule Kunst" bedeutet etwas vollkommen anderes als "schwul". Nämlich eine Kunst, die entweder von Schwulen gemacht wurde/wird undoder explizit Homosexualität formal undoder inhaltlich thematisiert undoder meint extra/bevorzugt für homosexuelle Rezipienten abzielendes Kunsthandwerk.
Mit einer Zweideutigkeit der Homosexualität wird heute in den Künsten, aber auch im Theater besonders gern gespielt. Das tut man besonders gern - weil besonders sicher in Richtung Publikumserfolg, mit Shakespeare-Stücken.
Weil man weiß, dass Shakespeare eben nur männliche Ensembles zur Verfügung hatte und trotzdem gleichzeitig so unglaublich stark heterosexuelle Liebe und entsprechende Liebesverwirrungen darstellen konnte. Dies vor allem auf der Grundlage von unerreicht starken Texten, die solche Darstellung gestatteten...
Es ist doch so: Wenn also der Mercutio wirklich in der Inszenierung, wie Kommentartor*in Vogelsang behauptet, "auf Romeo" eindeutig dargestellt masturbiert, würde ich das ebenso als Geschmacklosigkeit empfinden und es wäre mir vollkommen gleich, ob ich da in der ersten oder welcher Reihe immer säße, ich würde halt sofort gehen.
Wissen Sie warum? Ich glaube nämlich, dass Mecutio so angelegt war von Shakespeare, dass er tatsächlich tiefe Gefühle für Romeo entwickelt hatte. Und dass es zu seinen unglücklichsten Erfahrungen zählte, dass man, wenn man sich als Homosexueller in einen heterosexuellen Mann verliebt, das eine sehr unglückliche Liebe ist. Vor allem, wenn der sich gerade immer wieder so leidenschaftlich in junge, schöne Frauen verliebt und einem das auch noch schwärmerisch anvertraut. Und vielleicht masturbiert man dann auch. Aber nicht auf den, für den man tiefe Gefühle entwickelt hat. Eine vordergründig gezeigte Masturbation auf Romeo ist also im Grunde ein Ausdruck von Homophobie. Sie verrät die Tiefe der Figur an oberflächliche Triebhaftigkeit. Und sie verrät Shakespeare als Autor von wirklichem Format, dem nichts Menschliches fremd war - auch nicht die Verwirrung des Menschen durch seine eigene Triebhaftigkeit - und der uns Zeugnisse von großer Schönheit dieser Haltung zum Menschen als solchem hinterlassen hat. Sie verrät auch die jüngere Generation, die sich in der Kraft ihrer ersten Liebe(n) als gesellschaftlicher Schubkraft versichern will. Es verrät die ältere Generation, die auch einmal jung war und alle Verwirrungen von Trieb und Liebe kennt und im Leben ohne Theater mehr oder weniger gut gemeistert hat, und die bei "Romeo und Julia" ins Theater geht, um sich zu erinnern oder auch korrigieren zu können in ihren Ansichten- Es verrät auch das Theater. Weil wirklich gutes Theater genau das alles nicht verrät. - Bitte sehen Sie mir die moralische Härte in dieser Sache nach. Und schauen Sie vielleicht einmal wegen der Herleitung des Begriffes "schwul" in einem sehr guten Etymologischen Wörterbuch, notfalls unter "schwül" nach, das weitet wirklich den Blick aus dem Schwulsein in die Welt, die außerhalb des eigenen Diskursspektrums liegt.
Ich glaube auch nicht, dass die Bochumer ohne Marius von Meyenburgs "Romeo und Julia"-Interpretation nicht wüssten, was es in ihrer eigenen Stadt alles an Elend gibt, von dem die Liebe nur schmählich ablenkt, weshalb sie ins Theater flüchten...
Romeo und Julia, Bochum: Romeo und Julia, V. Akt, Schluss
Herr DR, Skalpell.
Shakespeares`Tragödien erinnern und mahnen.Romeo und Julia:V.Akt Schluss Fürst Escalus, Montague, Capulet... FÜRST:
"Ein trüber Frieden zieht herauf, das Licht
Des Tages trauert und verhüllt den Schein.
Gehen wir und halten streng Gericht
Wer zu bestrafen ist, wem zu verzeihn
Denn solch ein Paar saht ihr noch nirgendwo
Wie Julia und ihren Romeo."
(Übersetzung: Frank-Patrick Steckel)
Romeo und Julia, Bochum: gewaltige Differenz
Ich war gestern in der Mayenburgschen Inszenierung von "Romeo und Julia" im Schauspielhaus Bochum. Die Nachtkritik von Andreas Wilink hatte mir Angst gemacht. Selbst wenn Wilink gern den Giftzahn ausfährt, war zu befürchten, ein entstelltes oder gar geschändetes ("Schande") Shakespeare-Werk zu sehen. Selten war die Differenz zwischen Wilinks Beurteilung und meiner Meinung und der des fast ausverkauften Hauses so gewaltig.
Ich erlebte einen spannenden, stimmingen Abend, der durch neue Akzentuierungen den wohlbekannten Stoff zeitgemäß erscheinen ließ, ohne die Tiefe der Liebestragödie zu ignorieren. Natürlich kann man Details hinterfragen, aber das ist doch bei (fast) jedem Theaterabend so.
Das vorzügliche kleine Ensemble zeigte eindrucksvoll die unterschiedlichen Figuren. Der Abstand von Matthias Redlhammer zu Adele Sandrock ist mindestens so groß wie der von Andreas Wilink zu Alfred Kerr oder Benjamin Henrichs.
Romeo und Julia, Bochum: Liebes-Zurichtung
Von der Zurichtung des Liebesgefühls.
Eine tragödische Inszenierung eines Marius von Mayenburg im Schauspielhaus zu Frankfurt in der Bochumer Aufgussfassung.

Ich habe gelernt von Gerhard Stadelmaier, dass es sich bei Romeo und Julia um ein dünnes Rein-Raus-und-Zack-Zack-Stück handelt, das schwächste Stück von Shakespeare. Gleichzeitig als Liebe-Hass-Tragödie größtes Gefühlstheater, ein Abgrund von Sehnsucht bis in den Tod, seit 1597 ein Maß für Liebeskunst und Feindschaft. Eine einzige Heraufforderung. Daran ist dieser sich Autor, Dramaturg, Übersetzer nennende Regiebeauftragte an seiner Mauer, die er Bühnenbild nennt, popkulturell und dem Grunde nach gescheitert. Und dies nicht grandios. Vor diesem Marius von Mayenburg, der sich in Bochum und Frankfurt erdreistete, eine eigengedachte depravierte Sprachfassung vorsprechen zu lassen, ist öffentlich zu warnen. Da wird die heute multimediale Hydraulik des Maschinentheaters in den Möglichkeiten aller Möglichkeiten angeworfen, dass dem Zuschauer zum Stückestart Hoffnung gemacht wird. Wer das beherrscht, hat gut inszenieren.

Nehmen wir das einen kurzen Moment hin von der wohlwollenden Seite, die sich bei dem zwei Seiten-Theater eigentlich verbietet. Aber, der Anfang ist wie aller Anfang in der Menschenwelt mit Neugier unterlegt.Die Natur hat da weniger Ungefähres, da sind die Dinge einfach da. Auf der Bühne ist die Wand zwischen den Capulets und den Montagues da und dann die zweiseitig so geschaffenen Komplizenpublikums auch da. Soviel da ist selten. So weit, so erwartungsvoll.

Jede Mauer lässt fragen, was ist dahinter, was sichtbar, was verborgen. Das nutzen Regie und Bühnenbild. Doch sie nutzen es aus. Die Phantasie des Zuschauers ist ihr Trick, nichts zu phantasieren, sondern mit bloßem Videoschein der Projektion (der technisch gut gemacht ist, wofür be- und gezahlt wird) zu duplizieren. Da wird dann Südkorea wie Nordkorea. Man ist von der anderen Seite kurz beeindruckt und versichert sich des gegenseitigen Respekts. Alles Diplomatie ohne Fortschritt, kein Unterschied außer bebildertem Schein. Das Stück tritt von allem Anfang an auf der Stelle. Das ist auch schon das Ende. Das allerdings ärgert und wird nur mehr herbeigesehnt. Auf das man wieder in die dieselgeschwängerte Stadtluft der Kleinmetropole entlassen wird. Ein tieferes Durchatmen war selten.

Doch vorher erfordert die Tragödie ein Bemühtes auf und ab von und zu und über der Bühne, auf der die Mauer das Drahtseil ist, dass keines Netzes und doppelten Bodens bedarf, weil wenig spielerische Höhe erreicht wird. Die Inszenierung zeigt, auch aus geringer Fallhöhe stürzt man tief. Die shakesperesche Sprachwortmusik: verhunzt, verzerrt, vergrätzt. Die Schauspieler: spielleere Automatendarsteller, staksende Genderfiguren, läppische Zombielebendigkeiten. Der Zuschauer: getäuschter Liebender, reduzierter Seelenwanderer, aufgebrachter Steuerzahler. Mit zunehmender Spielzeit wird die artifizielle Darstellungsdramatik zum Ärgernis, das man auf sofortiger Stelle mit dem Osterfeuer austreiben möchte.

Oh Juliet wie habe ich Dich geliebt., über alle Jahrhunderte wirst Du sein. Bochum und Frankfurt zum Trotz. Das war nichts und da wird auch nichts bleiben.
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