Gilt die Freiheit des Andersdenkenden auch für völkische Denker?

Februar und März 2017.  Die (nicht nur) Zürcher Kulturszene protestiert gegen eine geplante Veranstaltung im Zürcher Theaterhaus Gessnerallee. Unter dem Titel "Die neue Avantgarde" sollen am 17. März Marc Jongen, Sprecher der baden-württembergischen AfD und Philosophie-Dozent an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, der Publizist Olivier Kessler von der rechten Schweizerischen Volkspartei, der Kunstwissenschaftler und Journalist Jörg Scheller sowie Laura Zimmermann von der liberalen Bewegung Operation Libero "debattieren, was Kategorien wie 'liberal', 'progressiv' und 'reaktionär' heute bedeuten. Ist die Renaissance des Rechtsnationalen eine Avantgarde-Bewegung?"

 

16. Februar 2017. Ein kurzer Artikel in der Wochenzeitung Zürich (WOZ) greift die Ankündigung auf und äußert "Zweifel, ob hier ein ausgewogenes Gespräch stattfindet, bei dem ausschließlich demokratische Positionen vertreten werden".

Auf seiner Webseite (unter der Veranstaltungsankündigung) nimmt das Theaterhaus Gessnerallee Stellung zu dem Artikel: Die Veranstaltung sei keine Werbeveranstaltung irgendeiner der auf dem Podium vertretenen Positionen, "sondern ein Experiment mit der Fragestellung, inwieweit der Dialog zwischen linken und rechten und zwischen konservativen und progressiven Positionen möglich ist", heißt es dort. "Wir sind uns dessen bewusst, dass das Podium nicht ausgewogen besetzt und nicht für alle Positionen repräsentativ ist."

 

22. Februar 2017. Der Autor und Regisseur Kevin Rittberger, gegen dessen Besorgte-Bürger-Satire Peak White oder Wirr sinkt das Volk die AfD Heidelberg im Oktober 2016 zu Protesten aufgerufen hatte, wendet sich an nachtkritik.de und bittet um die Veröffentlichung eines Offenen Briefes, mit dem mehr als 500 Kulturschaffende aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gegen die Veranstaltung in der Gessnerallee protestieren.

Samuel Schwarz, künstlerischer Leiter der Digitalbühne in Zürich und Mitunterzeichner des Offenen Briefes, erläutert gegenüber nachtkritik.de: "Es ist für ein öffentlich subventioniertes Haus absolut inakzeptabel, dass die Gessnerallee ein solches Podium zusammenstellt, das einem rechtsextremen Hetzer wie Marc Jongen diesen Raum gibt – ohne erkennbar linke Gegenposition." Zwingend müssten auch migrantische/antirassistische Positionen auf dem Podium vertreten sein. So wie jetzt geplant, dürfe dieses Podium nicht stattfinden – "sondern müsste, wenn die Gessnerallee nicht einsichtig ist – meiner Ansicht nach verhindert werden."

 

26. Februar 2017. Auf seiner Webseite kündigt das Theaterhaus Gessnerallee für den 10. März, eine Woche vor dem umstrittenen Podium, eine öffentliche Diskussion an, bei der entschieden werden solle, ob die Podiumsdiskussion mit Jongen eine Woche später stattfinden solle.

 

27. Februar 2017. In einem Offenen Brief antwortet Jörg Scheller, Kunstwissenschaftler an der ZHDK Zürich und Teilnehmer des kritisierten Podiums, den Kritikern der Veranstaltung. "Anders als viele MitkritikerInnen bin ich jedoch der Überzeugung, dass die Auseinandersetzung mit Parteien wie der AfD öffentlich und direkt geführt werden muss. Wo kämen wir hin, wenn wir sagten: In öffentlichen Debatten können wir nur verlieren respektive die AfD nur gewinnen? Schätzen wir unsere Argumente und unsere Handlungsoptionen wirklich als so schwach ein?" Scheller verweist auf einen kritischen Artikel gegen Marc Jongen in der Wochenzeitung Die Zeit und den sich daran anschließenden Mail-Wechsel mit Jongen, den der Schweizer Monat online veröffentlichte.

Den Kritiker*innen seiner Artikel wirft Scheller "Verzerrungen und Diffamierungen" vor: "Sie verkürzen Aussagen, reißen sie aus dem Zusammenhang, geben sie falsch wieder. Diese Strategien sind mir aus meinem Streit mit den Rechtspopulisten nur allzu gut vertraut – was für eine Ironie und Tragik, dass sich deren 'Gegenspieler' derselben Strategien bedienen."

 

27. Februar 2017. nachtkritik.de weist auf einen ähnlich gelagerten Fall in Deutschland hin: Im November 2016 hatte das Theater Magdeburg den rechten Publizisten Götz Kubitschek zu einem "Politischen Salon" eingeladen – die Veranstaltung wurde im Vorfeld kritisiert und schließlich gestrichen, nachdem der Innenminister von Sachsen-Anhalt Holger Stahlknecht (CDU) seine Teilnahme als Podiumsgast abgesagt hatte. "Das Ziel, eine fundierte Kritik an den 'neurechten' Ideologien Götz Kubitscheks mittels der Podiumsgäste üben zu können, war durch das Ungleichgewicht, das durch die Absage von Herrn Stahlknecht entstanden ist, nicht mehr möglich", begründete das Theater Magdeburg.

 

2. März 2017. In der Wochenzeitung Die Zeit schreibt Anne Hähnig: die "Gegner der Zürcher Veranstaltung" argumentierten, Marc Jongen sei ein "Antidemokrat". Ein harter Vorwurf, den man "umfangreich begründen" sollte, "nachdem man mit dem Mann diskutiert" habe. Vokabeln wie "antidemokratisch" oder "rechtsradikal" seien meist nur dazu da, "es sich schön einfach zu machen". Und: Die beste Bühne für die AfD sei "bislang immer jene, die sie nicht betreten musste". Ob den der "Kompromiss", erst einmal "darüber zu diskutieren, ob überhaupt diskutiert werden darf", nicht "lächerlich" anmute. "Viele Menschen, die sich AfD-nah fühlen, werden sich wundern über so eine Debatte. Oder anders gesagt: Die Leute verstehen das Theater nicht."

In einem Kommentar auf nachtkritik.de verweist Samuel Schwarz auf einen Artikel im Zürcher Tages-Anzeiger, dem zufolge der vorgesehene Diskussionsteilnehmer Olivier Kessler nichts dabei fände, auf Veranstaltungen des "Laienpredigers" Ivo Sasek aufzutreten, dem "Vorsteher der sektenähnlichen Organischen Christus-Generation", der den Diktator Adolf Hitler "in den Rang eines Apostels" hebe.

 

4. März 2017. Die Gratis-Zeitung 20 Minuten, die meistgelesene Tageszeitung der Schweiz, zitiert Tamara Funiciello, die Präsidentin der JungsozialistInnen Schweiz, der Jugendorganisation der Sozialdemokraten: "Wer das Gespräch mit Rechten verweigert, gibt ihnen nur Futter für ihre antidemokratischen Positionen." Man müsse "die Konfrontation mit Andersdenkenden" nicht scheuen, solange keine "menschenfeindlichen Positionen vertreten" würden. In diesem Fall müsse "das Gespräch abgebrochen werden".

Der Politologe Michael Hermann, Autor des Buches "Was die Schweiz zusammen hält", sagt den 20 Minuten: "Wer etwa «Tötet Köppel»-Aktionen gutheisst, sollte auch den Mumm haben, sich den Positionen radikal Andersdenkender zu stellen."

 

7. März 2017. Das Theaterhaus Gessnerallee sagt die für 17. März angesetzte Diskussionsveranstaltung sowie die vorbereitende Diskussion am 10. März ab. In der Pressemitteilung heißt es: Nachdem nun auch für die Zusatzveranstaltung von einigen der mitdiskutierenden Kulturschaffenden zum Boykott aufgerufen worden sei, könne man nicht mehr davon ausgehen, dass ein "konstruktives Gespräch beider Lager" stattfinde. Zur Absage der Veranstaltung am 17. März heißt es, sie stelle "aufgrund der Hitze der durch sie ausgelösten Debatte" ein zu großes Sicherheitsrisiko "für die Podiumsteilnehmer*innen, unsere Mitarbeiter*innen und das Publikum" dar.

 

8. März 2017. In seiner Kolumne Experte des Monats schreibt Dirk Pilz, es sei seitens des Theaterhauses Gessnerallee naiv gewesen, der AfD eine Plattform anzubieten. Bei dem "Wertekampf", den die AfD inszeniere, gebe es für ein Theater nichts zu gewinnen. Die Haltung der Kritiker*innen zeige die geistige Verfasstheit eines Theatermilieus, "das sich auffallend schwer mit Weltanschauungen und Welthaltungen tut, die nicht der eigenen, zumeist als pauschal 'links' verstandenen Wahrnehmung entsprechen". Wobei häufig "offen" bleibe, was links im konkreten Fall bedeute. 

 

9. März 2017. Die Zeitungen kommentieren die Absage begeistert. Der Schuldige am Desaster, wenn nicht Feind der demokratischen Spielregeln, ist schnell ausgemacht: Es sind die Kritiker*innen der Diskussion, die "unter Erpressung" die Veranstaltung verhindert hätten. Beweise für diese "Erpressung" werden einstweilen nicht vorgelegt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt vom generellen diskursiven Übergewicht der Linken am Theater und zeiht die Kritiker*innen der Feigheit vor dem Feind.

Der Teilnehmer des abgesagten Podiums Jörg Scheller stößt in der Neuen Zürcher Zeitung in dasselbe Feigheits-Horn und bezichtigt die Kontrahenten abermals, sie würden sich mit ihrer Sehnsucht nach Reinheit und Bekenntnis die Denkfiguren, wo nicht Methoden ihrer rechten Gegner aneignen.

Der Schriftsteller Raphael Urweider und die Regisseurin Laura Huonker, beide hatten den Protest gegen die Veranstaltung unterzeichnet, äußern sich im Zürcher Tages-Anzeiger zustimmend zu Absage. Urweider: "Das Podium schien mir nicht als Diskurs, [sondern] als sensationsgeiles Politspektakel angelegt: Links und nett ist langweilig, also mal das Böse einladen."

Im Freitag erläutert Max Glauner,  warum Rechtspopulisten die Schweiz gern als "Vorbild für Resteuropa hinstellen", und kritisiert dann den Umgang der Gessnerallee mit dem Podium scharf: "Dass Jongens Auftritt und die Vorabdiskussion nun mit trotzigem Unterton von den Veranstaltern mit dem Argument abgesagt wurden, die Sicherheit der Veranstaltungen könne nicht mehr garantiert werden, ist eine intellektuelle Bankrotterklärung sondergleichen".

Im Klein Report dem "Mediendienst der Schweizer Kommunikationsbranche" schreibt Regula Stämpfli, Auswahl der Teilnehmer und Zielsetzung des Podiums seien "äusserst seltsam" gewesen. "Die Herren und die einzige Dame hätten darüber geredet, was «liberal», «progressiv» und «reaktionär» heute bedeuten – als wären die heissen politischen Zeiten eine Frage der Linguistik." Es entspreche der " postmodernen Beliebigkeit", dass "antidemokratische Positionen" wie die von Jongen nicht "einfach menschenfeindlich sind, sondern «umstritten»". Die Gessnerallee könne mit "unendlich vielen Themen" den "politischen Diskurs" bereichern. Auf den "braunen Bruder im Norden" zu setzen, habe "nichts mit Meinungsfreiheit, dafür alles mit dem Aufmerksamkeitsmarkt zu tun".

 

10. März 2017. Die Operation Libero fordert die linken Podiumsverhinderer auf, den von ihnen gerne zitierten Rosa Luxemburg-Satz von der Freiheit des Andersdenkenden ernst zu nehmen und auf die wirklich anders Denkenden, die AfD, anzuwenden.

In einem Gespräch mit dem Zürcher Tages-Anzeiger zeigt sich Marc Jongen als Wolf, der Kreide gefressen hat. Er begnügt sich mit einem stillem Triumph darüber, dass die Antifaschisten sich der Methoden der von ihnen nur imaginierten Faschisten bedient hätten.

 

11. März 2017. Gegen die Behauptung, sie hätten die Podiumsdiskussion zwischen Rechten und Liberalen in der Zürcher Gessnerallee mit Gewalt verhindern wollen, wehren sich die linken Podiumskritiker und kündigen neue Aktionen gegen Diskussionen mit AfD-Vertretern an.

Der Star der Schweizer Theater-Szene Milo Rau schreibt auf der Website des Zürcher Tages-Anzeigers: Was sich in Zürich ereignet habe, sei "ein Schauspiel beispielloser Lächerlichkeit": "Es reichte, dass ein zweitklassiger rechter Denker am Horizont ¬auftauchte, um die intellektuelle Szene der Schweiz in Besserwisserei und Angst implodieren zu lassen." Wo solle denn das Böse "dekonstruiert werden, wenn nicht im Theater?" Man müsse den "Kampf annehmen, wo man ihn findet". Er, Milo Rau, habe im Radio live mit einem AfD-Führer gesprochen. "Sogar mir gelang es, mit ein paar Nachfragen das komplett widersprüchliche politische Programm der AfD zu dekonstruieren." Die gefürchtete Jongen-Partei habe sich als das offenbart, was sie sei: eine "spiessige Skandal-Partei".

(jnm)

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