Der Rechtsstaat als Zombiefilm

von Leopold Lippert

Wien, 18. März 2017. Eine amorphe Masse schiebt sich langsam an die schummrig beleuchtete Rampe des Burgtheaters. Sieben Schauspielerinnen, in fahle Stofffetzen gezwängt, blass geschminkt mit blutroten Lippen und aschblonden Haarresten (Kostüme: Victoria Behr), erzählen mit einer – soghaften – Stimme vom Trojanischen Krieg. Sieben Frauen berichten von der geopferten Tochter: Iphigenie, die von Agamemnon "wie eine Ziege" am Blutstein getötet wird, für gute Winde. In Antú Romero Nunes' Orestie ist der Erinnyenchor ein untoter Zombiehaufen, der je nach Lichteinfall gespenstisch, gar furchterregend, oder eben ganz schön trashig wirkt.

Rachlustige, bluttriefende Körper

Die gefährlich lächerliche Heimsuchung ist eine Ambivalenz unter vielen an diesem großartigen Abend, und es ist Nunes' Verdienst, dass sie alle unaufgelöst bleiben. Auf der leeren, leicht nach hinten ansteigenden Bühne von Matthias Koch sinniert man geschraubt über Recht und Gesellschaft. Gleichzeitig wirft man raschelnde Goldfolienkleider über, oder setzt blonde, übergroße Lady-Gaga-Perücken auf. In dieser Orestie wird über weite Strecken beeindruckend chorisch erzählt und abgewogen. Gleichzeitig ereignet sich ein bedrückend dionysischer Blutrausch, der hochdramatisch auf die Betroffenheit der Zuschauer*innen setzt. Nunes gibt dem gesprochenen Wort ausreichend Raum (Übersetzung von Peter Stein). Aber er lässt auch rachlüsterne, bluttriefende Körper spektakulär aufeinander los.

Orestie 560 ReinhardWerner uDie tollen Sieben: Caroline Peters, Maria Happel, Aenne Schwarz, Sarah Viktoria Frick, Irina Sulaver, Andrea Wenzl und Barbara Petritsch. © Reinhard Werner

Dass dieses Changieren zwischen abstrakter Rechtsphilosophie und theatraler Körperlichkeit funktioniert, liegt auch an den Schauspielerinnen, die nahtlos und vor allem uneitel vom Chor zum Individuum und wieder zurück übergehen. Im ersten (und längsten) Teil der Trilogie ist das vor allem Maria Happel als Agamemnon, der triumphal aus dem Krieg zurückkehrt, um gleich darauf von seiner Frau Klytaimestra mit der Axt geschlachtet zu werden. Happels Agamemnon hat ein Männlichkeitsproblem: ein manischer Despot, der unsicher auf viel zu hohen Plateauschuhen umherstakt und salbungsvoll verkündet: "Bescheidenheit ist die größte Göttergabe."

Durch Leiden lernen

Da wo ein Phallus sein sollte, ist bei diesem Agamemnon eine leere Stoffbeule: Eigentlich eine Lachnummer, wie gemacht für "die" Happel, um nach altbewährter Manier den Clown zu geben. Doch Happel nimmt die wachsende Panik des Tochtermörders ernst. "Im Übrigen bin ich keine Frau, die man verzärteln muss", sagt sie, und es ist kein billiger Witz, sondern die zaghafte Selbstversicherung des Staatsmannes unter öffentlicher Beobachtung, der gleich voll Hybris über den Purpurpfad in sein Haus und damit in den Tod zappeln wird.

Orestie2 560 ReinhardWerner uIm Affektsturm: Maria Happel, Barbara Petritsch, Caroline Peters, Aenne Schwarz, Andrea Wenzl, Irina Sulaver und Sarah Viktoria Frick. © Reinhard Werner

Dem Gesetz des Zeus gehorchend – "Durch Leiden lernen: Tun, Leiden, Lernen" – folgt ein Racheakt dem anderen, die Blutlache wird größer und größer, und am Ende wird Orestes (Aenne Schwarz) die eigene Mutter Klytaimestra (Caroline Peters) getötet haben. Auch bei diesem finalen Mord lässt Nunes unterschiedliche Affektregimes aufeinanderprallen: Erst liebkost Klytaimestra zärtlich den hinter einer übergroßen Kindsmaske versteckten Orestes, und mit Sprühregen und Streicherscore (Musik: Thomas Kürstner und Sebastian Vogel) wird melodramatische Suspense aufgebaut. Man beginnt ernsthaft zu zweifeln: Er kann doch nicht seine Mutter! Doch er kann, und augenblicklich wird aus dem Melodram ein B-Horrormovie, in dem Orestes ein blutig triefendes Stück Mutterherz aus seinem gierig verzerrten Mund auf den Bühnenboden plumpsen lässt.

Die letzte Ambivalenz

Der Auftritt von Athene (Irina Sulaver) im kurzen dritten Teil ist dann keine eindeutige Zeitenwende von der Blutrache zum Rechtsstaat, sondern das aufgesetzte Erscheinen eines deus ex machina, der ausgerechnet vor einem samtroten Theatervorhang seine "Satzung die für alle Zeiten gelten soll" verkündet. Nunes' Fazit ist ein ernüchterndes: Selbst wenn aus den Erinnyen nun Bürger*innen werden, die sich schnell bei Herbert Fritsch ausgeliehene bunte Ballkleidchen überwerfen, bleibt die Versöhnung zwiespältig. Denn auch im neuen Rechtsverständnis sitzen "Angst und Schrecken stets als Wächter vor den Herzen": Unversehens beginnt sich Hass breitzumachen, und schon hetzt einer gegen den anderen, "schmerzgequält und ohne Hoffnung". Diese letzte Ambivalenz ist jene der Demokratie, in der aus dem Rechtsstaat ganz schnell ein Zombiefilm werden kann.

 

Die Orestie
von Aischylos
Deutsch von Peter Stein
Regie: Antú Romero Nunes, Bühne: Matthias Koch, Kostüme: Victoria Behr, Musik: Thomas Kürstner und Sebastian Vogel, Chorleitung: Bernd Freytag, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Klaus Missbach.
Mit: Sarah Victoria Frick, Maria Happel, Caroline Peters, Barbara Petritsch, Aenne Schwarz, Irina Sulaver, Andrea Wenzl.
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.burgtheater.at

 


Kritikenrundschau

Nunes Inszenierung "ist solide und setzt optisch ganz auf Antikenfantasie: mythologische Kleistergesichter, -gewänder und Landschaften", schreibt Margarte Affenzeller im Standard (online 19.3.2017). "Nichts an dieser präzisen Arbeit scheint verkehrt, das Publikum folgte gebannt und mucksmäuschenstill wie selten. Jedoch bleibt sie allzu brav und reiht sich trotz der klug gedachten Frauenbesetzung ganz in tradierte Bilder ein."

"Eine furiose griechische Familienaufstellung", so kündigt Die Presse (20.3.2017) schon im Titel Norbert Mayers Besprechung dieses Abends an. Nunes verstehe es, "in beeindruckender Weise Text und Handlung so zu verdichten, dass man die Details gar nicht kennen muss, um dennoch einen Gesamteindruck von diesem überwältigenden Stück Weltliteratur zu bekommen." Höchste Wertschätzung erfährt die Chorarbeit; das gemeinsame Sprechen besitze eine "hypnotisierende Wirkung".

"Einen Abend großer Kunst", erlebte Martin Lhotzky von der FAZ (21.3.2017). Übertrieben schienen nur die Auftritte erst der ihre älteste Tochter rächenden Klytaimnestra und gegen Ende dann der den Rechtsfrieden unter das Menschengeschlecht bringenden und die 'Rasenden' Erinnyen zu den 'Wohlmeinenden', den 'Eumeniden', wandelnden Pallas Athene. Mit allem anderen aber habe Nunes seine bislang beste Arbeit in Wien abgeliefert.

Die "glühenden Darstellerinnen" seien keine Unbeteiligten, "eher das, was die Literaturwissenschaft einen unzuverlässigen Erzähler nennt: Verdränger, Überhörer, Tatsachenverdreher", so Eva Biringer in der Welt (21.3.2017). Nunes habe es nicht nötig, das Reizvokabular Brexit-Fake-News-Trump zu bemühen. "'Neue Gesetze bringt jeder Tag. Locker sitzt jedem die Hand.' Sätze wie diese sind von unveränderter Aktualität." Momentweise nehme der Chor seiner Orestie die Rolle einer zeitgenössischen Lügenpresse ein – 'Zeus könnte doch einmal das Übel wenden' –, dann wieder gemäß der Maxime 'das Volk verlangt Buße' jene einer zornigen Netzgemeinde.

"Die sauber gearbeitete, vollkommen humorlose Inszenierung ist ein in sich schlüssiges, aber auch abgeschlossenes System. Sie stellt nicht aus, was sie uns sagen will, der Text soll für sich sprechen", schreibt Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (23.3.2017). Diese Orestie sei eine Klassikerinszenierung, wie man sie schon lange nicht mehr gesehen habe. "Was man damit anfangen soll, muss man sich selber denken."

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