Menschmaschine im Räderwerk

von Friederike Felbeck

Neuss, 18. März 2017. Die Besetzungsliste liest sich zunächst wie ein Phantomschmerz. Franziska Gramms, Schauspielerin und Regisseurin, ihr Team mit u.a. Kostümbildner Andy Besuch und Musiker Nikolai Meinhold, haben sich nach zwei Dritteln der Strecke kurz vor der Premiere aus der Produktion verabschiedet, lediglich auf ihre ursprüngliche Konzeption wird noch verwiesen. Die seit 2014 am Rheinischen Landestheater Neuss tätige Regieassistentin Nicole Erbe übernimmt.

Allein, Nicole Erbe ist kein unbeschriebenes Blatt: schon seit vielen Jahren inszeniert sie im Dreiländereck zwischen Deutschland, Belgien und den Niederlanden an ungewöhnlichen Orten und in immer wieder neuen Konstellationen, meist mehrsprachig, nie berechenbar, immer lokal – ein Geheimtipp also. "Jenny Jannowitz" ist in der Regie von Nicole Erbe nun eine musikalische, sehr genau rhythmisierte Aufführung geworden und gerade so boulevardesk, wie es notwendig ist.

 JennyJanno2 560 Bjoern Hickmann StagePicture uGruppenbild mit Engel Jenny (Linda Riebau) © Bjoern Hickmann | Stage Picture

Parabel auf die beschleunigte Zeit

Karlo Kollmar ist der Prototyp des modernen gehetzten Menschen. Keine Zeit, immer zu spät, gestresst bis zur Orientierungslosigkeit wird er in einem Apparat aus Erwartungen und Verpflichtungen hin und her geschleudert, denen er nie gerecht werden kann. Als einziger modern im grauen Schlabberlook Gekleideter setzt er sich gegen vier schräge Vögel mit schrillen Kostümen, Sixties-Telefonen, roten Toupés, Trockenhauben und Plüschhockern ab. Sein Universum besteht aus (wechselndem) Arbeitgeber, Mutter, (wechselnder) Freundin und bestem Freund Oliver, der ihm am Ende nicht nur seinen Job, seine Freundin, sondern auch noch die eigene Mutter abspenstig machen wird.

Den Untertitel "Der Engel des Todes" hat das Stück inzwischen eingebüßt. Aber dass Jenny gekommen ist, um Karlo mit sich zu nehmen zeigt die Schauspielerin Linda Riebau mit feinen Details, Engelsflügeln, die aus dem Retrorucksack quellen und einer Dynamik, die so ganz anders als die ist, die sie umgibt. Michel Decar hat für seine Parabel auf die beschleunigte Zeit 2014 den Kleist-Förderpreis erhalten. Bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen von Catja Baumann im selben Jahr uraufgeführt, wurde der Text später auch als Hörspielfassung eingerichtet.

Decars Sätze sind scharf, schnell und schwindelerregend. Sie verorten die Figuren zwischen alptraumhafter Surrealität und Abziehbild. Und das ist auch die eigentliche Krux: "Jenny Jannowitz" ist sich selbst (fast) genug. Jede Art der Bebilderung läuft Gefahr kräftezehrend abzulenken. Und so ist die clowneske Kulisse und der Ausflug in die diffusen sechziger Jahre zwar nett anzuschauen, aber weder treffsicher noch hilfreich.

JennyJanno1 560 Bjoern Hickmann StagePicture u Pablo Guaneme Pinilla als Karlo – mit Josia Krug (als sein Freund Oliver) und Hergard Engert (Karlos Mutter) @ Bjoern Hickmann | Stage Picture

Aussteigen! Aber wie?

Karlo, ein gehetztes Kaninchen, wird zunehmend zum Systemfehler: unter dem Wortgewitter zwischen Chef und Freundin, die mal Sibylle, Simone oder Sandra gerufen wird, bricht er schnell zusammen. Die sich in Indien selbst verwirklichende Mutter vergisst seinen Geburtstag – "Wie alt wirst Du eigentlich?" – und lässt sich von seinem ehemals besten Freund umgarnen, der eine Ersatzfamilie braucht. Karlo hat Angst verrückt zu werden, bringt sich fast um, will aussteigen – aber wie? kündigen? Gibt es nicht mehr! Sich trennen? Von was oder wem? Die Mensch-Maschine, in dessen Räderwerk er zermalmt wird, läuft immer schneller, ein Club aus Vielfliegern, die schon überall gewesen und nirgendwo zu finden sind. Am Ende öffnet sich hinter der mit altmodischen Lampenschirmen geschmückten Tapeten-Wand der Blick ins Weltall. Seine Häscher haben sich bis auf hautfarbene Kostüme ausgezogen, die sie dicklich und geschlechtlos wie außerirdische Gammas oder Teletubbies wirken lassen.

Karlo Kollmar wird gespielt von Pablo Guaneme Pinilla, der immer wieder eindrückliche Momente kindlicher Sensibilität und tief empfundener Ausweglosigkeit zeigt. Unendlich müde ist er, und so verschläft Karlo auch mal eine ganze Jahreszeit – denn Schlaf ist das wahre Luxusgut unserer Epoche. Allein, die Getriebenheit und Atemlosigkeit seiner Figur nimmt er vor allem in die Stimme, während sich alles um ihn herum selbstgefällig weiterdreht. Seinem Engel Jenny reicht er zum Schluss die Hand und geht – ganz winzig klein – mit ihr in die unendliche Weite des Universums hinein. Ein versöhnlicher, fast erlösender Schluss. Und Nicole Erbe wird in der kommenden Spielzeit mit "Blutsbrüdern" ihre ganz eigene Stückentwicklung zeigen, auf die man sehr gespannt sein kann.

 

Jenny Jannowitz
von Michel Decar
Regie: Nicole Erbe (nach einem Konzept von Franziska Marie Gramss und Nikolai Meinhold), Dramaturgie: Alexandra Engelmann.
Mit: Pablo Guaneme Pinilla, Anna Lisa Grebe, Hergard Engert, Rainer Scharenberg, Josia Krug, Linda Riebau.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.rlt-neuss.de

 
Kritikenrundschau

"Ursprünglich sollte Franziska Maria Gramss mit Andy Besuch und Nikolai Meinhold das Stück inszenieren, aber die für ihre sehr formalen Bearbeitungen bekannte Regisseurin und ihr Team fielen mit ihrer Lesart durch, so dass von ihrem Konzept nur ein Gerüst stehenblieb, das Regieassistentin Nicole Erbe mit Schützenhilfe von Bettina Jahnke zu Ende baute", schreibt Helga Bittner in der Neuss-Grevenbroicher Zeitung (20.3.2017). Sie setze das Stück im Sinne des Autors um: als Tragikomödie. "Perücken, Klamotten - alles kennzeichnet sie schon als Stereotypen, aber selbst dieses letzte Menschlich-anmutende verlieren sie im Laufe des rasanten Spiels, tänzeln in blassen Catsuits nur noch herum. Eine ebenso starke wie sprechende Regie-Idee." Fazit: "Kein großer Theaterabend, aber ein Stück, das schlüssig in Szene gesetzt ist, nicht nur lachen, sondern auch nachdenken lässt."

 

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