Die Fremde hinter dem Vorhang

von Steffen Becker

Heilbronn, 19. März 2017. "Türkische Männer machen sich keine Gedanken über die Gefühle von Frauen" – ein Satz, der im Publikum des Theaters Heilbronn breites Gelächter auslöst. So hat man es ungefähr schon immer geahnt, und wenn's denn wie hier sogar eine türkische Figur sagt... Aber Sinan Ünels Stück "Pera Palas" hat eine ganze Menge mehr zu bieten als Klippklapp-Wahrheiten aus dem Klischee-Magazin.

Das Stück stammt von 1995 und wird damit beworben, dass es prophetisch die Entwicklung der Türkei vorgezeichnet habe. Marketingtechnisch ein gelungener Schachzug – auf die Premierengäste warten SWR-Kameras. Dass man als aufmerksamer Zuschauer nicht versucht ist, ihnen gegenüber statt über Theater über Erdogan zu reden, verdankt man einem poetischen Text und einer klugen Inszenierung.

In Zeiten der Umbrüche

In miteinander verbundenen Familiengeschichten mit türkischen und westlichen Protagonisten blickt Ünel auf die Zeit nach Ende des 1. Weltkriegs, auf die 50er und die 90er Jahre. Es sind Zeiten gesellschaftlicher Um- und Aufbrüche. Die eingereisten Figuren spielen in den Geschichten eine genauso große Rolle wie die einheimischen – im Scheitern daran, dem Land echtes Interesse entgegenzubringen statt guter Ratschläge und Faszination für Orient-Klischees. Nicht umsonst prangt auf dem Programmheft die Frage "Fühlst du dich fremd?" Sie stellt sich in beide Richtungen.

16Pera 560 ThomasBraun uStefan Eichberg, Tamara Theisen, Raik Singer, Sven- Ma rcel Voss, Paul Louis Schopf, Judith Lilly Raab, Anjo Czernich, Stella Goritzki auf der Holzstegbühne von Gesine Kuhn © Thomas Braun

Besonders deutlich wird das in der ersten Epoche: Die englische Schriftstellerin Evelyn Crawley erhält unverhofft Zugang zu einem Harem und versucht ihre junge Freundin Melek von einer arrangierten Heirat abzubringen. Ganz aufgeklärte Dame verteidigt sie gleichzeitig "die Türken" vor allzu ignoranten Vorstellungen ihrer Landsleute. Judith Lilly Raab spielt diese Figur in einer austarierten Mischung aus wohlmeinend und besserwissend – elegant in der Erscheinung, vorschnell im Urteil: Ihr Schützling stirbt unglücklich im Exil, das dem Atatürk-Putsch folgte.

In den 50ern hingegen wirkt der Türke Orhan wesentlich moderner als die von ihm umworbene amerikanische Lehrerin Kathy. Stella Goritzki spielt sie als Petticoat-Girl, das den Türkei-Aufenthalt als Chance sieht, aus einem kontrollierten Leben auszubrechen. Naiv, lebenshungrig und schließlich ernüchtert, dass sie die familiären Strukturen und Traditionen falsch bzw. gar nicht eingeschätzt hatte.

Heimkehr fürs Outing

In den 90ern schließlich hat ihr Sohn Murat seinen Lebensgefährten Brian im Schlepptau und will reinen Tisch machen. Paul-Louis Schopf und Anjo Czernich als schwules Paar sind ein Highlight der Inszenierung. Sie frotzeln und streiten hinreißend – wobei der amerikanische Freund nicht begreift, dass es dem türkischen Sohn aus viel mehr Gründen als nur dem Outing Kummer bereitet, seine Familie aufzusuchen. In einem furiosen Finale sind die Protagonisten schließlich ermattet und die Schichten der Familiengeschichte werden nüchtern abgetragen. Keiner wurde die Person, die sie oder er werden wollte in den Zeiten disruptiver Veränderungen. Eine Erfahrung, die die westlichen Protagonisten mit ihren vergleichsweise linearen Generationswechseln nicht teilen.

4Pera 560 ThomasBraun uDie Schriftstellerin (Judith Lilly Raab im weißen Kleid) im Harem: Szene mit Sabine Unger, Stella Goritzki und Katharina Voß © Thomas Braun

Anker der Familiengeschichte über ein Jahrhundert ist das namensgebende Hotel Pera Palas, das in allen Epochen eine Rolle spielt. Bühnenbildnerin Gesine Kuhn setzt dabei auf Minimalismus – Vorhangstoff als Bühnenbegrenzung wie man ihn von Hotelzimmern kennt, bewegt von einem leichten Luftzug, der den Blick auf den Bosporus realistisch erscheinen lässt. Auf der Bühne selbst nur Holzschrägen, über- und ineinander verschachtelt wie die Geschichten. Deren Protagonisten – ihren Epochen zuzuordnen über die Kleidung – betreten sie abwechselnd und zum Schluss gleichzeitig: Wenn die Jahrhunderte in der Inszenierung parallel aufeinanderprallen und das Panorama eines Familienepos und einer Kulturgeschichte sich ganz entfaltet.

"Ich würde mir wünschen, dass die Zuschauer ein größeres Verständnis mitnehmen über die Türkei (...). Ich hoffe, dass der Zuschauer auch erkennt, dass wir nicht ganz ohne Verantwortung sind für das was in der Türkei jetzt passiert", sagte Regisseur Kerbel dem SWR. Den richtigen Zeitpunkt dafür hat er gefunden, die richtigen Mittel der Inszenierung auch.

 

Pera Palas
von Sinan Ünel
Deutsch von Constanze Hagelberg
Regie: Jens Kerbel, Ausstattung: Gesine Kuhn.
Mit: Anjo Czernich, Stefan Eichberg, Stella Goritzki, Frank Lienert-Mondanelli, Judith Lilly Raab, Paul-Louis Schopf, Raik Singer, Tamara Theisen, Sabine Unger, Katharina Voß, Sven-Marcel Voss.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.theater-heilbronn.de

 

Kritikenrundschau

"Viel Applaus spendet das Publikum Ünels Lehrstunde, die die Anfänge der schleichenden Islamisierung der Türkei in den 90er Jahren thematisiert – und dafür die Figuren holzschnittartig zeichnet", schreibt Claudia Ihlefeld von der Heilbronner Stimme (21.3.2017). Im Jahr 2017 wirke "Pera Palas" ziemlich politisch korrekt, was am pädagogischen Tonfall des Textes aus dem Jahre 1995 liege, aber auch an Kerbels konventioneller Inszenierung. Wie ein Reigen laufe das muntere Spiel und halte die im Stück über Jahre erzählten Ereignisse zusammen. "Eine solide Produktion, die für interkulturelle Verständigung wirbt."

Durch die aktuellen politischen Entwicklungen rücke ein "ohnehin aktuelles Stück" noch näher an die Realität heran, schreibt Arnim Bauer in der Ludwigsburger Kreiszeitung (22.3.2017) – und Jens Kerbel setze es "mit geradezu seherische Blick" so in Szene, "dass Blicke in die Tiefen der Seelen, der Menschen und auch der Nationen möglich werden". Die Schauspieler seien "auf den Punkt präsent, so mancher Dialog wird zu einem Highlight, und am Ende eines sicher anstrengenden Theaterabends geht man mit dem Gefühl nach Hause, ein Stückchen Wahrheit über die Seele des türkischen Volkes, seine Widersprüche und seine Sehnsüchte mitzunehmen."




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