Das Internet ist schuld!

von Eva Biringer

21. März 2017. Aufgabe 1a: Erörtern Sie am Beispiel einer fiktiven Schulklasse, wie sich die Digitalisierung auf unsere Gesellschaft auswirkt. Nehmen Sie dabei sowohl männliche als auch weibliche Perspektiven ein. Überlegen Sie, welche Träume, Hoffnungen und Ängste die Jugendlichen beschäftigen, unter Berücksichtigung derer subjektiven Wahrnehmung und familiärer Hintergründe. Ziehen Sie am Ende ein Fazit: Welche Chancen bietet das Internet? Welche Gefahren?

So in etwa könnte das Thema von John von Düffels Roman "Klassenbuch" lauten. Er handelt von neun Jugendlichen kurz vor der Volljährigkeit, ihrem Alltag zwischen Verliebtheit und Vollrausch. Wir befinden uns in einer nahen Zukunft. Drohnen gehören zum Alltag, genau wie die zahlreichen Überwachungskameras auf dem Schulgelände. Leistungsnachweise liegen in einer "Klassenbuch-Cloud".

Lehrerin Höppners plötzliches Verschwinden 

Auf den ersten Blick hat die Versuchsanordnung des Romans ihren Reiz. Aufgebaut ist er seinem Titel gemäß wie ein Klassenbuch, die Kapitel nach Schülern geordnet. Engelke, Beatrice hat einen Selbstmordversuch hinter sich, wegen eines gebrochenen Herzens und weil sie gerne so dünn wäre wie ihre Klassenkameradin Dreyer, Emilie Henriette. Die hat ganz andere Sorgen, nämlich das ungenießbare Essen der Schulkantine, das sie in einem "36-h-per-day-Battle"“ bekämpft.

buch von dueffelAn einer Lifestyle-Essstörung leidet auch die angehende Opernsängerin Park, Li, deren Hausarbeit über eine ungewollte Schwangerschaft autobiografische Züge trägt. Während Bea und Li, vorsichtig ausgedrückt, ihre Sexualität bereits für sich entdeckt haben, leidet Ahlsen, Erik darunter, dass er Pornos "ungeil" findet: "Die Frisuren waren ganz lustig, wenn man retro lustig findet, aber die Menge an Haut hat mich deprimiert." Sehr angetan ist er hingegen vom keuschen Dekolleté seiner Klassenlehrerin.

Diese Frau Höppner ist das leere Zentrum des Romans. Offenbar ist sie, gemessen an den Maßstäben schlecht gelaunter Teenies, bei allen beliebt. Im zweiten Teil ist sie dann plötzlich verschwunden. Es brodelt die Gerüchteküche in Form von Rundmails, in denen von Brustkrebs, Schwangerschaft und Tod die Rede ist. Oder ist die nette Frau Höppner etwa mit dem Schulkantinencaterer durchgebrannt? Bei John von Düffel ist die Realität eine post-faktische. Schuld daran ist nicht nur, aber auch das Internet. Facebook-Profile sind mit ihren Betreibern nicht deckungsgleich? Hoppla! Und dann das: Frau Höppner hat am Ende möglicherweise gar nicht existiert, sondern geistert als künstliche Intelligenz durchs Netz.

Ärger mit dem online-Sein

Der Klappentext des Romans spricht von "einer Reise an die Ränder der digitalen Welt, aus der kein Klick zurückführt". Permanent online sind alle neun Charaktere, auf einige passt die Diagnose "Internetsucht". Etwa auf Klassenopfer Vanessa, die sich mit "Nina" ein fitness-fanatisches digitales Alter Ego erschaffen hat. Oder "Nerdfighter" Lennart, der den Deutschunterricht mit einem Ego Game verwechselt. Das liest sich dann so: "Mein Energiebalken sackt in den roten Bereich. Die ganze Life-Line krümmt sich gegen den Uhrzeigersinn und wickelt Wiederholungsschleifen ohne Handlungsvektor, ohne Herzkomponente, kein Wut- oder Hassbooster, den ich hochziehen könnte, um auf das nächste Level zu kommen." Anstrengend? Zur Beruhigung: Auch Digital Natives kommen da nicht mehr mit.

Ein solcher ist der 1966 geborene Autor nicht gerade. Bekannt wurde John von Düffel mit Büchern wie "Vom Wasser", mit Übersetzungen und Theaterstücken. Abgesehen davon ist er Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und Professor für Szenisches Schreiben an der Universität der Künste. Dass er vom Theater kommt, merkt man an seinem Faible für Perspektivwechsel. Als Dokument des Erwachsenwerdens funktioniert "Klassenbuch" insofern, als es daran erinnert, wie unfassbar subjektiv alles ist. Schule, Eltern, Passivkiffen – das meiste davon findet im eigenen Kopf statt.

Details einer Shell-Jugendstudie

"Plötzlich kam so eine Stimmung über mich", gesteht einer der Protagonisten, womit das adoleszente Lebensgefühl ausreichend beschrieben wäre. Bemerkenswert auch der Unterschied zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung und die Entwicklungsstufen der allem Anschein nach gleichaltrigen Schüler: Während die einen tote Tauben in Schuhkartons beerdigen, filmen sich die anderen beim Vögeln, Hashtag Schoolporn.

Woran also liegt es, dass von Düffels Roman zäh ist wie eine Doppelstunde Deutschleistungskurs? Zum einen am übertriebenen Ehrgeiz des Autors, auf rund 300 Seiten mit derart vielen Nebenhandlungen zu hantieren, als gelte es, eine Shell-Jugendstudie abzuliefern. Bis zum Schluss ergeben die einzelnen Puzzleteile kein scharfes Klassenfoto, sondern höchstens ein unterbelichtetes Polaroid. Zumal der Autor noch mal innerhalb der einzelnen Erzählstränge die Perspektiven wechselt. Plötzlich spricht nicht mehr die Bewerberin Li, sondern das Auswahlkommitee. Nicht mehr Mobbingopfer Vanessa, sondern ihr Haustier. Zum anderen am mitunter Fremdscham-auslösenden Jugendslang.

Jugendslang-Fallle

Mag ja sein, dass Millenials "FuZo" sagen statt Fußgängerzone und "Portmon-E" – aus der Feder eines Erwachsenen wirkt das trotzdem oberlehrerhaft oder wie ein Kulturjournalist, der seinen Lesern das "Jugendwort des Jahres" zu erklären versucht. Nicht, dass für erwachsene Autoren ein Jugendschreibverbot gilt, nach dem Motto: Bloß nicht so tun, als wäre man noch mal 16. Anderen gelingt das durchaus, allen voran Wolfgang Herrndorf mit "Tschick" und "Bilder deiner großen Liebe" oder Theaterschreiber Nis-Momme Stockmann, dessen Roman "Der Fuchs" ebenfalls eine pubertäre Sichtweise einnimt. Für beide gilt: mit Auszeichnung bestanden. Bekäme John von Düffel für sein Werk ein Zeugnis ausgestellt, müsste die Formulierung hingegen lauten: Er hat sich sehr bemüht. Bestanden leider nicht.

Klassenbuch
John von Düffel
Dumont Verlag 2017, 317 Seiten, 22 Euro

 

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