Spielend performt

von Jens Fischer

Oldenburg, 30. März 2017. Mösenschleim, Hurensöhne sind so Worte, die aus den Lautsprechern purzeln, vom "Fotzen-Helmi" ist die Rede. Nebel wird in die Bühnenluft gehaucht. Zwei Frauen inszenieren ihre Brüste, Pobacken und Scham zu Softporno-Kalenderposen. Als Möhren zur Klitorisstimulation angesetzt werden, schleichen etwas weniger nackige Darsteller herein, tragen aus Schaumstoffresten gebastelte Puppen in Blumengestalt und becircen ein ebenso knautschiges Bienenobjekt. Mit dem Hauchen von Straßenstricharbeiterinnen: "Hey, komm zu mir." Kein Zweifel, es geht um Sex. "Gulliveras Reise" fokussiert einige höchst skurril wirkende Möglichkeiten, erregt zu werden, um Orgasmen zu erleben. Verheimlicht auch den Leistungsdruck nicht. "Aber wir wollen alle kommen, das ist doch schön", sagt Musikerin Solene Garnier.

So wie hier im Schlendertonfall vorgetragen und mit dem Sponti-Charme des betont Unfertigen dargeboten, wirkt der Abend angenehm entheikelnd. Aber auch unangenehm ungeordnet. Es werden Geschichten, ach was, Geschichtchen, ach was, Einfälle für Geschichtchen locker assoziiert und als Revue serviert. Mit wenig Bewegung. Da Bondagekünstlerin Dasniya Sommer dabei ist, wird viel gefesselt und mit SM-Utensilien hantiert. Zum Beispiel an Gulliver. Der hier eine Frau ist und Gullivera heißt. Während das Ensemble ihren Körper mit Bindfäden arretiert und die Haare an den Boden tackert, erzählt sie von Feminismus und der Befreiung der Frau in den revolutionären Zeiten Russlands, "Gleichstellung per Gesetz", wirft Helmi-Mastermind Florian Loycke einschränkend ein. Ebenso gebrochen die Mitteilung Gulliveras, sie habe sich bereits mit sieben Jahren emanzipiert – weil ihre Eltern nie zuhause waren.

"Gulliveras Reise" von Das Helmi: Nackt bleibt nackt

Auch wenn die Bühnendialoge Helmi-typisch so wirken wie am WG-Küchentisch dahingesagt, ist ihr aktuelles Projekt nicht mehr nur purer Jux und anarchistische Dollerei. Einerseits gibt es immer wieder starke Bilder – wenn das Team beispielsweise als Zombies ihres Sexus wie "The Walking Dead" in Zeitlupe abgehen. Andererseits stehen die Bühnenfiguren immer wieder erfrischend ernsthaft als Darsteller ihrer selbst auf der Bühne. Klaas Schramm erzählt vom Entlieben. Dasniya Sommer erklärt ihre sexuelle Orientierung mit traumatischen Erfahrung als Schauspielnovizin. Und darf daraufhin gefesselte Männer peitschen und dabei rülpsen. Florian Loycke manifestiert die Abkehr von der "völlig überbewerteten vorderen Körperhälfte" – und die Hinwendung zur Frauen und Männer gleichstellenden Rückfront. Inklusive Lobpreisung des Anus.

Gulivera 560 StephanWalzl uVon wegen zügellos – "Gulliveras Reise" (links: Solene Garnier, rechts: Dasniya Sommer auf Florian
Loycke und Johannes Lange) © Stephan Walzl

Nur ergibt sich aus all den salopp theatralisierten Zeichenresten und ironischen Infragestellungen bei konsequentem Ignorieren aller Regieregeln nichts Neues. Schnipsel bleiben Schnipsel. Nackt einfach nur nackt. Dabei sollte ein "Meilenstein auf dem Weg ins Stadttheater der Zukunft" erlebt werden. Behauptete jedenfalls Oldenburgs Staatstheaterchefdramaturg Marc-Oliver Krampe, der mit den Helmis sein "Banden! Festival neuer performativer Allianzen" eröffnete. "Wir sind doch alle wie Eichhörnchen auf Koks, betreiben Selbstausbeutung in einem völlig überhitzten System", sagte er zur Eröffnung des Festivals. Um es runterzukühlen, hat er schon eine Spielzeit unter das Motto "Gemeinsam weniger erreichen" gestellt – und die Premierenzahl reduziert. Mit den "Banden!" nun soll der "Abschied vom Kerngeschäft" fortgesetzt werden. Es gelte das Ableben des Literatur- und Regietheaters zu forcieren und durch performative Formate zu ersetzen, so sieht Krampe das Stadttheater gerettet. Also lüftet er dort erstmal durch, mit Verstärkung aus Hildesheim, wo er am Institut für Medien, Theater und populäre Kultur studiert hat.

Performer und Schauspieler – lernt voneinander!

Neben einem Best-of von Hildesheimer Produktionen sind die "Banden!" eine partizipative Festival-Performance zur Aufwertung des Zuschauers zum Akteur des Diskurses – mit inszenierten Begegnungsorten für hitzige Nacktgespräche (Sauna), chilliges Nachdenken (Reflexionssessel aus Omas Wohnzimmer), knuddeliges Näherkommen (Bettenlandschaft) und selige Nachhaltigkeit (Bar). Im künstlerischen Mittelpunkt stehen die zwei beispielhaft hildesheimernd daherkommenden Eigenproduktionen, eben die der Helmis, obwohl sie gar keine Hildesheimer sind, sowie "Die Rache" von Markus & Markus. Beide behaupten die gemeinsame Autorenschaft aller beteiligten Künstler. Denn beim Banden-Bilden geht es Krampe zufolge vor allem um die gegenseitig inspirierende Kooperation von Performern (Hildesheim) – und professionellen Schauspielern, die das können, was die Kollegen nicht können: mimetisch hoch differenziertes Rollenspiel. Normalerweise erfahren Darsteller am schwarzen Theaterbrett, für welche Rolle sie sechs, acht Wochen unter besonderer Berücksichtigung der literaturwissenschaftlichen Hinweise der Dramaturgie an einem Konzept zu proben haben, das der Regisseur zum Text eines Schriftstellers entwickelt hat. Für die "Banden!" meldeten sich die Darsteller freiwillig für drei mehrwöchige Probenphasen. Sechs Ensemblemitglieder machten schließlich mit. Und fingen bei null an.

Was Theater ist, sollte erst einmal herausgefunden werden. Eigenes Erleben, mögliche Stückinhalte, Spielmöglichkeiten, Arbeitsweisen wurden diskutiert. In Phase 2, Recherche, guckte jeder in sich hinein, auch ethnologisch in die Welt hinaus und googelte durchs Internet, um seine Fragen an sein Thema zu klären. Zusätzlich gab es Workshops zu Live-Art, Medienkunst und einen Crashkurs mit She She Pop zu kollektivem Arbeiten und Projektentwicklung. Erst anschließend startete die Probephase. Nach Eigenauskunft der Macher wurde auf Augenhöhe im gleichberechtigten Miteinander das Libretto der Performances notiert und dann szenisch fortgeschrieben. Krampe adelt das teilnehmende Sextett zur Festivaleröffnung mit dem Satz: "Ihr seid jetzt alle knallharte Perfomer."

"Die Rache" von Markus & Markus: Die Wahrheit der Lüge

Das ist auch gefordert bei "Die Rache" von Markus & Markus, der zweiten Eröffnungs-Produktion des Festivals: Schwindelfreiheit für eine Gratwanderung zwischen Bühnenillusion, Reality-TV und eigener Lebens-Realität. Jens Ochlast behauptet, nur Schauspieler geworden zu sein, weil er nicht Sprengmeister werden durfte. Lisa Jopt hat das Ensemble Netzwerk gegründet, um auf den Mangel an Mitbestimmung und fairer Bezahlung sowie die Burn-out-fördernden Arbeitsbedingungen am Stadttheater hinzuweisen. Nun wird auf der Bühne Jopts Kündigungsschreiben vorgelesen. Dazu tanzt sie im schwarzen Ganzkörpertrikot. Drei Kollegen stimmen als Mitklatschnummer Katja Ebsteins Ode ans "Theater" an – was Markus & Markus für Käse halten und sich mit einem entsprechenden Requisit vergnügen, dieser Kommentar wird als Videobotschaft eingeblendet. Zur Bestärkung kotzen drei Spieler in einen Bottich. Und erklären, was alles in den Körper hineingeschüttet werden muss, damit dieser Theatereffekt gelingt. Daraufhin versuchen Jopt und ihr Partner Pirmin Sedlmeir zu weinen, was nicht gelingt. Aber angemessen wäre, denn noch trauriger als Jopts Darstellung der Schauspielerei als Armutsfalle ist Sedlmeirs verwirrende Entwirrung von Rolle, Figur und Schauspieler bei seinem autobiografischen Ausflug, in dem es um Demütigungen in der Kindheit und Außenseitertum in der Jugend geht.

DieRache 560 StephanWalzl uSchluss mit dem Kasperletheater! Wir müssen das Theater neu erfinden. "Die Rache" von
Markus & Markus (v.l. Jens Ochlast, Lisa Jopt, Pirmin Sedlmeir, Markus Schäfer, Markus Wenzel)
© Stephan Walzl

Seine Erzählung prunkt mit dem Ansatz von Dokutheater, wird aber immer wieder ironisch aufgebrochen mit popkulturellen Zitate und Blödeleinlagen, etwa mit Pupskissen. Aber irgendwie ist es doch schlüssig, dass das Ensemble identifikatorisch aufbricht zu einem Rachefeldzug gegen die ehemaligen Peiniger Sedlmeirs, bei dem Jens Ochlast dann auch sein Sprengmeisterwissen ins Spiel bringen kann. Eine Kamerafrau ist dabei und hält alles fest. Die Reportage wird ins Bühnenbild projiziert. Ist äußerst witzig. So dass sich das szenische Drumherum schon zirzensischer Mittel bedienen muss, um als Kommentarebene überhaupt noch wahrgenommen zu werden. Aber der sich vor lauter rampensäuischer Lust und Selbstreferentialität immer wieder verzettelnde Showdiskurs über die Wahrheit der Lüge des Schauspielens amüsiert durchweg.

Kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen: Dermaßen großartig waren die aufwändig kleinen Performances nicht, um auch nur ansatzweise nahezulegen, nun könnten wir auf die Auseinandersetzung mit Klassikern und zeitgenössischer Dramatik verzichten und kollektive Stückentwicklungen zum alleinseligmachenden Theaterfutur erklären.

Gulliveras Reise
von Das Helmi und dem Ensemble des Staatstheaters
Regie und Konzept: Solene Garnier, Johannes Lange, Florian Loycke, Klaas Schramm, Ludmila Skripkina und Dasniya Sommer, Bühne und Kostüme: Ariane Albani, Clara Kaiser, Dramaturgie: Daphne Ebner.
Mit: Solene Garnier, Johannes Lange, Florian Loycke, Klaas Schramm, Ludmila Skripkina, Dasniya Sommer.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

Die Rache
von Markus & Markus und dem Ensemble des Staatstheaters
Inszenierung: Markus Wenzel, Markus Schäfer, Lara-Joy Hamann, Katarina Eckold, Lisa Jopt, Pirmin Sedlmeir, Jens Ochlast, Franziska Bald und Marcel Franken, Ausstattung: Marcel Franken, Video: Katarina Eckold.
Mit: Lisa Jopt, Pirmin Sedlmeir, Jens Ochlast, Markus Schäfer, Markus Wenzel.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.staatstheater.de

 


Kritikenrundschau

Jennifer Zaps von der Nordwest-Zeitung (1.4.2017) erfreut sich an der "Aneinanderreihung nur lose miteinander zusammenhängender Szenen" in "Gulliveras Reise" von Das Helmi. "Während der Performance gelingt es dem Ensemble, immer wieder schöne Bilder zu erzeugen. Die vielen von der Decke hängenden Seile bilden ein interessantes Bühnenbild und bieten Möglichkeiten zur Interaktion." Es gäbe hier "für den Zuschauer kein entspanntes Zurücklehnen und kein Genießen, wie an einem gewöhnlichen Theaterabend. Und genau das soll es ja auch nicht sein."

Für Alexander Schnackenburg vom Weser-Kurier (1.4.2017) ist "Die Rache" von Markus&Markus ein Beleg dafür, "dass sich durch Festivals wie 'Banden!' neue strukturelle und ästhetische Perspektiven an den Stadttheatern entwickeln können". Die Virtuosität im Umgang mit "hochprofessionellen Film-Sequenzen" wird hervorgehoben. "Trotz mancher Länge besticht diese Inszenierung durch Originalität.“ Das Helmi und die Staatstheaterspieler hätten sich mit „Gulliveras Reise“ hingegen „gründlich vergaloppiert“. Es handele sich um "eine zuweilen leicht pornografische, vor allem aber orientierungslos anmutende Nummern-Revue voller undurchsichtiger Fesselspiele. Ein echter Flop."

Kommentare  
Banden-Festival, Oldenburg: Woher kommt diese Angst?
In den letzten Tagen des Banden-Festivals ist Marc-Oliver Krampe und seinem Team etwas wunderbares gelungen – Protagonisten der freien Performance-Szene und des Staatstheaters haben sich selbst und ihrem Publikum gezeigt, dass sie keine Feldherren feindlicher Gebiete eines dualistischen Kampfplatzes sind, wo man sich für eine Seite entscheiden muss, wenn man nicht des Hochverrats angeklagt werden will. Sie haben gezeigt, dass man von einander und miteinander lernen kann, dass sich die beiden Bereiche wechselseitig befruchten und erneuern können, um gemeinsam ein Theater der Begegnung und des Austauschs zu gestalten, von dem wir uns alle wünschen sollten, dass darin seine Zukunft (wieder) zu finden ist. Niemand hat auch nur anklingen lassen, dass wir fortan auf die "Auseinandersetzung mit Klassikern und zeitgenössischer Dramatik verzichten und kollektive Stückentwicklungen zum alleinseligmachenden Theaterfutur erklären" sollten oder wollten. Woher kommt also diese Angst? Und sollten wir nicht davon absehen sie grundlos zu schüren? Wir leben in einer Zeit sich verdichtender Kampfplätze, in der die Angst vor Begegnung mit dem Fremden nichts als Unheil stiftet. Die (performativen) Künste können in solchen Zeiten Orientierung bieten, wenn sie aufhören sich in eigenen Grabenkämpfen zu verlieren. Den Oldenburgern ist es in den letzten Tagen gelungen die Begegnung mit dem Fremden als etwas belebendes und für alle Mitwirkenden bereicherndes aufzuführen. Für diese Orientierung sollten wir dankbar sein.
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