Die Nachwuchsbürgerseele atmet Schwarz

von Lukas Pohlmann

Dresden, 9. April 2017. Die Zuschauer kommen in den Saal. Eine Schauspielerin ist schon da. Sie beschreibt mit weißer Kreide den schwarzen Boden eines kleinen Bühnenrunds. Dessen hintere Wand umstellen schwarze Bohlen. Der Rest des Raumes: schwarz. Wenn das Licht ausgeht, bleibt viel Dunkelheit für den gepflegten Weg ins eigene Innere – und allen Ängstlichen der Blick auf die grüne Notausgangsleuchte an der Bühnenrückwand.

So weit, so stimmig: Es steht ja "Wir kommen" auf dem Programm, die Uraufführung des gleichnamigen Debutromans der "neuen deutschen Stimme" Ronja von Rönne im Kleinen Haus 3 des Dresdner Staatsschauspiels. Viel Selbstreflexion, Panikattacken und zerschundene Nachwuchsbürgerseele. Da erscheint das viele Schwarz schlagend.

Von Panik begleitet

Antje Trautmann, die junge Frau vom Anfangsbild, spielt Nora, (Anti-)Heldin bei Rönne. Sie wird begleitet von Lucie Emons als Maja und Hannelore Koch als Panik. Wobei, dank den beiden, noch mehr Personen im Verlaufe der Bühnenfassung als Steigbügelhalter emotionaler Zustände und handlungstreibende Stichwortgeber zu Wort kommen.

wirkommen2 560 Matthias Horn uIm Strudel der Selbstreflexion: Antje Trautmann spielt die Protagonistin aus Ronja von Rönnes Roman © Matthias Horn

Seit einiger Zeit ist die Panik Noras regelmäßige Begleiterin. Um mit dieser nicht allzu oft allein zu sein, hat sie sich einem Therapeuten anvertraut. Als dieser mit seinem perfekten Leben in den Urlaub fährt, erteilt er der Geplagten den Auftrag, ihre kommenden Wochen auf Papier fest zu halten. Ganz old school mit Stift im Notizbuch, und hoppla, schon ist der Erzählanlass gefunden. Von nun an schreibt sich Nora immer so fort in den Selbstreflexionsstrudel.

Man erlebt: Die Dekonstruktion des um sich selbst kreisenden Generation-Z-Individuums. Die eigene Beziehung, zu einem modernen Vierer-Konstrukt mit Kind aufgebläht, überholt sich selbst im Rückfall in die Kleinfamilie. Der Jugendfreundin, Maja, der immer alles zu gelingen schien, ist offenbar endlich auch gelungen, sich aus dem Leben zu löschen. Was Nora gleichsam grausam einen Anker entreißt.

Auf der Suche nach sozialem Klebstoff

Gegenüber Rönnes Roman entwickelt das Theater im Nacherzählen kaum mehr Wert. Der Ton der Erzählvorlage zündet zwar auch hier: "Ich habe genickt, das kann ich gut." Aber warum das jetzt unbedingt auf die Bühne soll, bleibt Regisseurin Tea Kolbe schuldig.

Die drei Schauspielerinnen sind fraglos fein besetzt. Trautmann und Emons stehen die Individualkonflikte ihrer Figuren streckenweise beängstigend authentisch ins Gesicht geschrieben. Vor allem, wenn sich Nora im Schlabberpulli in ihren oft banalen Auseinandersetzungen mit sich selbst verliert – bis zur letzten Hoffnung, die amourösen Beziehungen bräuchten nur etwas mehr "sozialen Klebstoff", ein "gemeinsames Erlebnis". Ein Strohhalm, an den sich Trautmanns Nora herzzerreißend klammert.

Keine Spielanlässe

Die Besetzung von Hannelore Koch als Grande Panik ist ein intelligenter, wenn auch etwas erwartbarer Kniff. Ihre Erfahrung macht das dezente, doch immer spürbare Spötteln dieser "Panik" zum leicht überheblichen Lächeln einer älteren Freundin. Sie ist eher die coole Tante, der keiner etwas vormacht, denn die blanke Angst.

Unterm Strich bleibt diese Uraufführung kaum mehr als ein intensiver szenischer Vortrag. Die Konflikte stehen ja alle im Roman. Und wenn der Roman nacherzählt wird, entstehen eben nur Berichte von Konflikten und keine Spielanlässe. Die Situationen werden bebildert wie in einer illustrierten Sonderausgabe.

wirkommen3 560 Matthias Horn uIm Spiegelstadium: Lucie Emons und Antje Trautmann erzählen "Wir kommen" nach.
© Matthias Horn

Die schwarzen Wandpanele sind rückwärtig verspiegelt und drehbar. Die Spiegel können also zum traurigen Blick in die Seele und zum Lippenstiftauftragen genutzt werden. Außerdem kann sich das Bühnenrondell von Anne-Alma Quastenberg drehen. Dann entsteht durch die Lücken zwischen den Wänden von Zeit zu Zeit ein netter Wundertrommeleffekt.

Die Spielerinnen dürfen aber nicht über den Rand der bedruckten Seiten schauen. In 80 Minuten Spieldauer gibt es immerzu Rönne-Text. Da ist keine Situation, kein Bild darf sich entfalten, kein Blick wirken. Als wollte das Regieteam wie in einer Filterblase zeigen, wie gut es einen Roman über eine Generation findet, in der sich alle höchstens emotional-neurotisch pieksen können.

 

Wir kommen
nach dem Roman von Ronja von Rönne
in einer Fassung von Tea Kolbe und Julia Fahle
Uraufführung
Regie: Tea Kolbe, Bühne: Anne-Alma Quastenberg, Kostüm: Steffi Rehberg, Dramaturgie: Julia Fahle.
Mit: Lucie Emons, Hannelore Koch, Antje Trautmann.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

Die Uraufführung habe all das ignoriert, "was die junge Autorin zum modischen 'It-Girl' am journalistisch-medialen Boulevard werden ließ, vor allem auch die wohlfeilen Grobheiten etwa zum zeitgenössischen Feminismus". Das sei dem Material ziemlich gut bekommen, so Michael Laages auf Deutschlandradio Kultur (9.4.2017). Die Verdichtung auf die Hauptfigur Nora Innenleben gelinge. Durch die Bühnen-Idee von Anne-Alma Quastenberg befänden alle "sich stets im Gegenüber mit dem eigenen Ich. Das klingt einfach, stärkt die Konzentration und Verdichtung des Textes aber enorm." Antje Trautmann mache die psycho-pathologische Fokussierung auf der Bühne erlebbar.

Die Autorin Ronja von Rönne selbst hat in Die Welt (10.4.2017) einen Erlebnisbericht der Uraufführung geschrieben. Darin heißt es: "Ich habe ehrlich gesagt keinen blassen Schimmer, ob das Stück gut ist, ein Blick von außen ist gar nicht möglich." Und weiter: "Diese ganzen Worte, von flüchtig niedergeschrieben, jetzt eingebrannt in den Gedächtnisspeicher von drei Schauspielerinnen, die doch gar nichts dafür können." Eine grauenhafte Erfahrung müsse das sein. "Entschuldigung, möchte ich rufen, wenn ich das gewusst hätte, hätte ich ein noch dünneres Buch geschrieben, oder halt gar keins."

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