Noch ein Glas Schnapsidee gefällig?

von Michael Wolf

Berlin, 12. April 2017. Vor kurzem schüttete Alexander Scheer ein Bier über Ex-Kulturstaatssekretär Tim Renner aus. Jetzt zapft er einen Pappbecher voll und reicht ihn einer Zuschauerin. "Sie können das trinken", beruhigt er sie. Scheer und Christian Schneeweiß haben in einem Fass eben einen Drink aus Wodka, Bremsflüssigkeit und Antifußschweißpulver gemixt. Zögerlich nippt die Zuschauerin an dem Becher. Und nein. Sie fällt nicht um und sie erblindet auch nicht auf der Stelle. Da kommt offenbar durchaus Trinkbares heraus. Scheer zeigt auf den Zapfhahn. "Da ist ein Trick dabei."

Trickreich

Nur einen Trick argwöhnt der Kritiker zunächst auch beim Applaus. Die Band NOVYI MIROVOI PORJADOK spielt auch noch während sich das Ensemble verbeugt. Und die Zuschauer? Erheben sich vom harten Estrich und klatschen gegen den harten Gitarrensound an. Konzertatmosphäre: so kriegt man natürlich auch seine Standing Ovations. Aber nein, das ist kein Trick. Das ist einfach die Volksbühne dieser Tage.

Castorfs Regieassistent Sebastian Klink inszeniert Wenedikt Jerofejews "Die Reise nach Petuschki". Vordergründig geht es in diesem "Poem" aus dem Jahr 1969 ums Saufen. Worum es hintergründig geht, darüber sind sich die Literaturwissenschaftler noch nicht ganz einig. Aber was wissen die schon? Begnügen wir uns hiermit: Es ist ein ebenso irrwitziger wie irre witziger Text über einen Alkoholiker, der auf einer Zugfahrt unter anderem der Heiligen Theresia, Satan und der Sphinx begegnet.

ReisenachPetuschki1 560 Thomas Aurin uVolksbühnen-Abschied verleiht Flüüüüügel: Christian Schneeweiß, Jeanette Spassova, Patrick Güldenberg und Daniel Zillmann © Thomas Aurin

Klink bedient sich sehr offensichtlich bei den Vorbildern Castorf und Pollesch: Live-Videos aus nicht sichtbaren Kulissen, überbetontes Sprechen um gar nicht erst authentisch zu wirken, offen gefeierte Textunsicherheit – noch mal so richtig Volksbühne halt. Zwischen den Szenen spielen NOVYI MIROVOI PORJADOK treibenden, humorlosen Hardrock. Warum sie das an diesem Abend in der Volksbühne tun, wird nicht ganz klar. Sei's drum. Alexander Scheer, Daniel Zillmann und Christian Schneeweiß dürfen auch ein paar Lieder mit ihnen singen. Zillmann hat eine großartige Stimme und einen mindestens so tollen Hüftschwung, Scheer sollte lieber Schauspielstar bleiben, als Rockstar zu versuchen. Am Ende probiert er auch noch ein Gitarrensolo.

Das ist die Berliner Luft

Und spätestens da drängt sich dann schon der Gedanke auf, dass dieser Abend eine Sammlung von – Achtung – Schnapsideen ist. Im besten wie im schlechten Sinne. Also, dass die Inszenierung nicht mehr, aber auch nicht weniger sein möchte als eine Abschiedsshow. Davon gab es schon einige in letzter Zeit. Klinks Regie-Kollegen allerdings setzen alle noch mal eine Schippe drauf. Frank Castorf diagnostizierte Goethes "Faust" krankhaften Kolonialismus und unterzog ihn gleich einer siebenstündigen Kur, Christoph Marthaler mobilisierte alle Melancholie Berlin-Mittes, Herbert Fritsch lehrte uns mit Pfusch die geheime Verbindung von Albernheit und Schönheit und griff die obligatorische Theatertreffen-Einladung ab, Sylvia Rieger brachte einen sonst sehr besonnenen Kritiker-Kollegen in Rage. Und Sebastian Klink? Der pfeift auf eine Bewerbung für künftige Arbeiten an anderen Häusern. Er inszeniert lieber einen gemütlichen Abend, eine Party für Freunde. Hier darf jeder noch mal das machen, wofür er ohnehin gefeiert wird. Und so entstehen ja auch wunderschöne Momente.

Daniel Zillmann würde man auch beim Wäschewaschen gebannt zuschauen, umso mehr wenn er an diesem Abend als Fahrkartenkontrolleur in einem Bienenbärkostüm seine Kollegen anschreit. Alexander Scheer tollt liebestrunken mit einer Flasche Berliner Luft. Jeanette Spassova gibt auf das Promille präzis eine sitzen gelassene Geliebte: "Ganz Europa teilte mein Befremden."

ReisenachPetuschki3 560 Thomas Aurin uDie Flaschengeisterer sind los: Daniel Zillmann und Christian Schneeweiß © Thomas Aurin

Apropos Präzision: Da bleibt leider sonst oft allerhand auf der Strecke. Manche Szenen wirken, als wären sie gestern zum ersten Mal geprobt worden. Auch deswegen verdient sich Elisabeth Zumpe wieder mal den Titel der meist beschäftigten (und souveränsten) Souffleuse der Theaterlandschaft. Aber Textsicherheit ist natürlich ein Streberargument. Und Streber mag niemand. Am wenigsten hier.

In den letzten Monaten der Ära Castorf feiern sich Publikum und Ensemble gegenseitig. Die Volksbühne ist noch für ein paar Monate das erfolgreichste Stadttheater Berlins. Es hat eine Einheit geschaffen. Das ist ihr Verdienst. Aber die Gemeinde schließt all jene aus, die nicht dazu gehören, sondern die einfach in ein Theater gehen wollen. Und auch die kamen an diesem Abend wieder, aber sie kamen nicht so recht rein. Auch von ihnen standen ein paar auf. Aber lange vor dem Applaus. Sie verließen diese geschlossene Gesellschaft. Bierernst. Wie Partygäste, die noch fahren müssen.

 

Reise nach Petuschki
Ein Delirium bzw. Kurzzeitodyssee per Bahn nach Wenedikt Jerofejew
In einer Fassung von Thomas Martin
Regie: Sebastian Klink, Raum: Bert Neumann, Bühne: Gregor Sturm, Kostüme: Gregor Sturm, Musik: NOVYI MIROVOI PORJADOK formerly known as THE NEW WORLD ORDER, Kriton Klingler, Conner Rapp, Mathias Brendel, Licht: Hans-Hermann Schulze, Videokonzeption: Konstantin Hapke, Nicolas Keil, Kamera: Simon Baumann, Musikalische Leitung: Kriton Klingler, Ton: Christopher von Nathusius, Gabriel Anschütz, Tobias Gringel, Tonangel: Jonathan Bruns, Souffleuse: Elisabeth Zumpe.
Mit: Patrick Güldenberg, Alexander Scheer, Christian Schneeweiß, Jeanette Spassova und Daniel Zillmann
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.volksbuehne-berlin.de

 

Kritikenrundschau

Sebastian Klink versuche "die delirischen Exaltationen in Jerofejews Poem ebenso delirisch umzusetzen, was naturgemäß nicht gelingen kann", meint Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen (15.4.2017). Stattdessen werde "der zweieinhalbstündige Abend quälend langatmig und mit so nichtssagenden wie konfusen Schauspielerausbrüchen gefüllt". Es werde "viel gebrüllt und gekaspert". Das "'Gefängnis des Alltäglichen' allerdings wird (...) nie überwunden, sondern bloß immer wieder auf die Dürftigkeit der Regie zurückgeführt. Je mehr Klink an technischem und szenischem Schnickschnack auffährt, desto deutlicher werden Hirn- wie Herzlosigkeit seiner Inszenierung offenbar."

Sehenswert sei der Abend "100 Minuten lang, die noch folgende Stunde wird vor allem schmerzhaft", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (15.4.2017). "Nicht nur, weil sich der Star des Abends, Alexander Scheer, in den späten Auftritten als Gott und Teufel keinen Deut mehr schert um Regie oder Text, stattdessen seine Rockstarqualitäten auslebt, sondern weil es einfach keine Freude ist, länger auf dem blanken Asphalt rumzurutschen."

Auf rbb Kulturradio (Zugriff 15.4.2017) wird Frank Dietschereit recht deutlich: "Theatralischer Mehrwert der Bühnenfassung dieser poetischen Abrechnung mit dem verkorksten Leben in einer Diktatur: gleich Null." Wer den Roman kenne, könne "nur entsetzt den Kopf schütteln. Statt subversiver Anarchie gibt es krachlederne Blödelei, statt subtiler Gesellschaftskritik viel Lärm um Nichts." Ein "ungezogener Castorf-Schüler dürfe "mal die Theater-Sau so richtig rauslassen und die plumpe Kopie eines 'Rammstein'-Konzerts als von Bühnen-Nebel umwölktes Theater-Event-verkaufen. Für mich war der Abend eine ziemliche Zumutung, eine Theater-Austreibung und Literatur-Vernichtung."

 

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