Kotzen und grübeln

von Henryk Goldberg

Meiningen, 13. April 2017. Gleich wird er kotzen. Und wenn er riecht, wie er aussieht, dann stinkt er zum Himmel. Selbst wenn er sich nicht in die Hose gemacht haben sollte, worauf es aber vermutlich nicht mehr ankäme. Dann kriecht, windet, wühlt er sich die Treppe runter, so wie ein Schwein aus dem Mist. Doch so besoffen ist kein Schwein. Nur ein russischer Trinker. Nur ein russischer Dichter wie Wenedikt Jerofejew.

"Die Reise nach Petuschki" ist hochkomisch und tieftraurig, es gibt wenige Bücher, die so saukomisch und todestraurig in einem sind. Es ist die Geschichte der Totalverweigerung eines Menschen gegenüber seiner Gesellschaft, die Geschichte eines saufenden Dichters, der sich sein Recht auf das das unzerstörbarste der Menschenrechte nimmt: die Selbstzerstörung. Die Geschichte dieser Bahnfahrt nach Petuschki, der Ort "wo die Vögel nicht aufhören zu singen, weder am Tage noch bei Nacht, wo sommers wie winters der Jasmin nicht verblüht. Die Erbsünde, wenn es sie je gegeben hat, tangiert dort niemandem." Der Ort also von dem die Sphinx sagt, niemand käme je dorthin. Das liest sich, als habe einer seine delirierenden, taumelnden Träume protokolliert.

petuschki2 560 foto ed uNa, Prost Mahlzeit: Christine Zart, Peter Liebaug © foto ed

Die Sphinx stellt ihre Rätsel, darunter die nach der Rechnung des britischen Premiers im Bahnhofsrestaurant von Petuschki, die Erinnyen fliegen durch den Zug, Sulamith biegt sich vor Lachen und König Mithridates von Pontos, dem bei Vollmond immer die Rotze übers Gesicht läuft will ihn erstechen. Außerdem machen sie Revolution und warten auf die Lieferung der B52, und auf dem ersten Plenum geht es um die Frage, wer wohl zuerst den Schnapsladen öffnen wird, Tante Schura oder Tante Mascha. Wenedikt Jerofejew schrieb dieses Buch, das ein Lebensbuch ist, 1969, und als es 1988/89 erscheinen konnte, da galt es unter Gorbatschow als eine Warnung vor der Trunksucht. Es ist aber eine Warnung vor der Gesellschaft.

Stoff der Stunde

Gerade hat sich die Berliner Volksbühne die Geschichte als Teil ihrer röhrenden Abschlussparty zur Brust genommen, nun folgten die Meininger.
Dabei, es ist weniger ein Stück fürs Bühnen-Theater als fürs Kopf-Theater. Die delirierende Imagination des Ich-Erzählers ist schwer an reale Menschen zu binden, die vielen bildungsbezogenen Assoziationen muss man lesen – weshalb Martina Gredler und Jana Schulz, die Regisseurin und die Dramaturgin, in ihrer handwerklich nicht ungeschickten Fassung manches eliminieren und den Text, unter Verwendung des Original-Titels, auf 16 Figuren und vier Darsteller verteilen.

Und deren erster fängt an, dass dem Beobachter Übles im Anmarsch erschien. Direkt vom Bahnhof aufgelesen, das Deutsch beinahe so verständlich als spräche er Russisch. Diesem besoffenen Schwein, und genau das spielt Reinhard Bock, würde keine Sau anderthalb Stunden mit einigem Interesse zuhören wollen. Der verblubbert seinen Text, vom Untertext nicht zu reden. Doch Bock spielt gleichsam den täglichen Entwicklungsbogen des professionellen Trinkers: Er wird zunehmend, nun nicht eben nüchtern, aber beherrschter, er säuft sich den Kopf so langsam klar. Wenigstens so weit, dass er uns seine Geschichte erzählen kann. Und findet so, in zum Einstieg nicht vermuteter Weise, zu seiner Figur, findet einen Ton, mit dem er saufen und denken kann, kotzen und grübeln.

petuschki1 560 foto ed uVon Geistigem erleuchtet: Meret Engelhardt, Reinhard Bock @ foto ed

Bock steht so gut wie ständig auf der leeren Fläche zwischen den beiden Zuschauertraversen, über denen Anna-Luisa Vieregge den roten Stern leuchten lässt und einen russisch-opulenten Kronleuchter, der Schauspieler behauptet als Spielmeister des Abends stets die Mitte. Und hat Momente. Wenn er beinahe fröhlich die Rezepte seiner Cocktails mitteilt, zu deren Ingredienzen das Rasierwasser "Fichtennadel", das Mundwasser "Elixier" sowie das Parfüm "Weißer Flieder" gehören, dann ist er stolz, dann hat er etwas getan zum Wohl der Welt. Wenn er für seinen Sohn betet, der mit drei Jahren schon den Buchstaben "ü" kennt, dann legt er den Kopf in den Schoß der Strubbelblonden und wird selbst zum behüteten Kind und der Kontrabass gibt den schwermütigen Ton dazu. Eine sehr eindrückliche Arbeit dieses Schauspielers. Christine Zart und Peter Liebaug haben mit ihren Figuren weniger Möglichkeiten und assistieren den Kollegen auf seriöse Weise.

Meret Engelhardt wiederum hat eine große, berührende Nummer als die Frau, der von dem Arbeiter Jewtjschuschin vier Zähne ausgeschlagen wurden wegen Puschkin, nachdem er sie in den Hintern gezwickt und auf dem Heuboden geschleppt hatte, eine verwickelte Geschichte. Die Schauspielerin verbindet hier die Sehnsucht mit dem Primitiven, das Abstoßende mit der Trauer.

Ein solch solitäres Stück Literatur ist eine Herausforderung. In Momenten wie diesem ist der Abend ihm dicht auf der Spur.

 

Moskau-Petuschki
von Wenedikt Jerofejew
Regie: Martina Gredler, Bühnenbild & Kostüme: Anna-Luisa Vieregge, Dramaturgie: Jana Schulz, Musik: Antonia Dering, Jana Schulz, Kevin Sauer.
Mit: Reinhard Bock, Meret Engelhardt, Christine Zart, Peter Liebaug.
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.meininger-staatstheater.de

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