Statistiken des Schreckens

von Falk Schreiber

Hamburg, 20. April 2017. Männer links, Frauen rechts: Am Eingang zur Kampnagel-Halle wird man segregiert. Was von einem Geschlechterdualismus ausgeht, die dem halbwegs gendertheoretisch beschlagenen Zuschauer etwas unterkomplex vorkommen mag. Zumindest bis er in der testosteronschwangeren Publikumshälfte zu verstehen beginnt: Bei "Portrait Explosiv", Branko Šimićs Eröffnung des Hamburger Krass-Festivals, geht es um genau diese Unterkomplexität. Thema des Abends ist Gewalt, und Gewalt fragt nicht nach Vielschichtigkeiten, Gewalt ist einfach da und ebnet alle Differenzen ein.

Schauspielerin Vernesa Berbo erzählt von einer – anscheinend tatsächlich erlebten – Gewalterfahrung: wie sie an einer Berliner Tramhaltstelle im Oktober 2015 von einem Fremden angegriffen worden sei, wie Passanten sie aus dem Schock dieser Erfahrung gerettet hätten, wie sie schließlich in jedem Fremden den Angreifer wiederzuerkennen glaubte. "Ich hatte Angst vor Menschen": Die Gewalt, die Berbo erlitt, hatte eine fatale Vereinfachung des Miteinanders zur Folge. Unterschiede verloren an Bedeutung, jeder wurde plötzlich zur Bedrohung, der Arzt, der die Verletzte im Krankenhaus erstversorgte, ein mit seinem erwachsenen Sohn über den Parkplatz schlendernder Mann.

Das größte Gesundheitsrisiko von Frauen weltweit ist ...

Portrait explosiv1 280 hoch Mario Ilic u© Mario Ilic Šimić lässt Berbo erst einmal reden, die Regie beschränkt sich darauf, die Berichterstattung zum einen über die Präsenz der Schauspielerin auf der Bühne, zum anderen über ein nüchternes Videobild zu realisieren. Was geschickt die Gefahr der Distanzlosigkeit bannt: Sobald man sich zu sehr mit dieser real vorhandenen Frau zu identifizieren beginnt, schaltet Šimić um auf das vorproduzierte Videomaterial und umgekehrt. Gleichzeitig hat diese Konzentration auf die Erzählung aber zur Folge, dass szenisch im ersten Drittel des Abends verhältnismäßig wenig los ist: Zwar stehen drei Tänzerinnen neben Berbo auf der Bühne, bleiben aber eingewickelt in Gazebahnen und verharren so in Posen der Verteidigungsbereitschaft. Die Narration überstrahlt also die Performance recht wirkungsvoll, und ehe man sichs versieht, hat man sich schon eingerichtet in einer bequemen Position der sympathisierenden Anteilnahme an einem verachtenswerten Geschehen.

Dann aber verlässt Berbo die Szene, und die Tänzerinnen Asja Künster, Gifty Lartey und Romy Mittag übernehmen. Zunächst mit sehr körperlichen, sehr aggressiven Moves (Choreografie: AnDy Calypso), dann auch mit Text: Lartey erzählt, wie ihr Stiefvater ihre Mutter vor ihren Augen misshandelt habe, Künster, wie sie als 16-Jährige einem sexuellen Übergriff ausgesetzt war. Und Mittag kichert sich durch Zahlenkolonnen: "Wissen Sie, was das größte Gesundheitsrisiko von Frauen ist?", fragt sie, und als ein Zuschauer "Brustkrebs" ruft, lächelt sie nachsichtig. "Das größte Gesundheitsrisiko von Frauen weltweit ist Gewalt." In Deutschland erlebe jede vierte Frau körperliche oder sexuelle Gewalt, also zählt sie ein paar Publikumsreihen durch, eins, zwei, drei – hier! Statistiken des Schreckens, die als eine Art Comedy über die Bühne schliddern.

Gewalt als Festivalmotto

Das Stück macht zunehmend den Eindruck, sich in Plattitüden zu ergehen, tatsächlich aber ist der Abend mittlerweile im ästhetisch Unerträglichen angekommen, und weil man das Gezeigte nicht ertragen will, flüchtet man sich ein wenig in formale Mäkeleien. Also: Das Spiel mit dem Publikum passt nicht zum Vorangegangenen, die Aggression, mit der Künster, Lartey und Mittag agieren, entwertet die Berichte von Übergriffen und traumatisierenden Erfahrungen, überhaupt zerfällt das Stück zusehends. Was natürlich auch heißt: Was hier passiert, ist selbst schon ein gewalttätiger Übergriff, nur dass jetzt dem ernsten Ton des Stückbeginns Gewalt angetan wird. Man muss das nicht angemessen finden, aber man kann jedenfalls nicht behaupten, dass Šimić in der Wahl seiner inszenatorischen Mittel nicht konsequent wäre.

Mit "Portrait Explosiv" inszeniert Branko Šimić zum wiederholten Mal ein Eröffnungsstück des von ihm kuratierten Krass-Festivals. Die ganz feine Art ist es nicht, wenn ein Programmmacher seine eigene künstlerische Arbeit so ins Zentrum des Gezeigten stellt, andererseits gibt der Erfolg Šimić zu einem gewissen Grad recht: Die aktuelle Ausgabe ist schon das fünfte Krass-Festival, eine Reihe, die vor vier Jahren noch mehr oder weniger beliebig als Leistungsschau des postmigrantischen Theaters begonnen hatte, um sich im Laufe der Zeit immer mehr in Richtung Diversity zu öffnen. Was bis zum 30. April noch Stücke unter anderem von Jochen Roller, Oliver Frljic und Mable Preach in die Kampnagel-Hallen bringen wird, mehr oder weniger konsequent unter dem Oberbegriff "Gewalt".

"Portrait Explosiv" mag hier vielleicht nicht die sensibelste, wohl auch nicht die reflektierteste aller möglichen Auseinandersetzungen mit dem Thema darstellen, eine ästhetisch starke Setzung ist Šimić mit dem Abend aber auf jeden Fall gelungen.

Portrait Explosiv
von Branko Šimić
Regie: Branko Šimić, Text und konzeptionelle Mitarbeit: Nikola Duric, Choreografie: AnDy Calypso, Bühnenbild: Ute Radler, Dramaturgie: Nikola Duric, Regieassistenz: Ulrike von Gawlowski, Video: Bora Cem Celik.
Mit: Vernesa Berbo, Tanz: Asja Künster, Gifty Lartey, Romy Mittag.
Spieldauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.kampnagel.de

 

Kritikenrundschau

Axel Schröder sagte in Fazit auf Deutschlandradio (20.4.2017): es seien "die Männer", die in dem Stück "portraitiert" würden. Erst entwickele man Sympathie für das Opfer, das aber seinerseits dann Verständnis für den Täter entwickle. Immer wieder würden neue Filter vor das Geschehen geschoben. Sehr eindringlich, auch wie Simic zuletzt den Bogen zu unserer zynischen Haltung zu den Flüchtlingen spanne.

Im Hamburger Abendblatt (22.4.2017) schreibt oeh: "Seine stärksten Momente" habe der Theaterabend, "wenn die Frau ihre Angst nach diesem unvorhergesehenen Angriff schildert". Nicht klar werde allerdings, "warum Teile dieses Berichtes per Video eingespielt und andere direkt von Vernesa Berbo auf der Bühne erzählt werden". Im weiteren Verlauf zerfasere diese "dichte Erzählung", weil weitere Aspekte von Gewalt erörtert werden sollten. doch die Themen fügten sich nicht zusammen. Ein "differenzierter Diskurs über Fluchtursachen, Traumatisierung und Schwierigkeiten der Integration" finde nicht statt. "Leider kann der Zuschauer nicht viele Erkenntnisse mit nach Hause nehmen."

 

 

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