Der perfekte Sturm

von Sascha Westphal

Mülheim an der Ruhr, 21. April 2017. Das Spiel beginnt fast unbemerkt. Die Lichter im Saal sind noch an, überall gedämpfte private Gespräche. Aber in das allgemeine Gemurmel mischt sich irgendwann ein Heulen wie von einem starken Sturm und zieht immer mehr Aufmerksamkeit auf sich. Etwas kündigt sich an, vielleicht ein Unwetter, vielleicht aber auch etwas, das weitaus folgenschwerere Konsequenzen hat. Schließlich verlöschen alle Lichter.

Peurs angst 1929 560 Ahmed Meslameni uFatma Ben Saïdane, Ahmed Taha Hamrouni, Nesrine Mouelhi, Ramzi Azzayez, Lobna Mlika, Noomen Hamda, Mouïn Moumni  © Ahmed Meslameni

Als sich die Spielfläche wieder ein wenig erhellt, tritt eine kleine Gruppe von Menschen auf. Sie haben sich anscheinend durch einen Sturm gekämpft und sind nun erschöpft und ratlos. Ein älterer Mann beginnt zu erzählen, von ihrem Marsch durch den Sturm, der sie im Kreis geführt hat, und von dem Gebäude, in dem sie Zuflucht gefunden haben. Es war wohl mal ein Krankenhaus. Ganz sicher kann man sich da jedoch nicht sein. Einer der anderen Männer widerspricht dem Alten auf jeden Fall vehement.

Ungewisse Figuren

Der schleichende Anfang hat etwas zutiefst Verstörendes. Nicht nur die Figuren auf der Bühne haben die Orientierung verloren, auch das Publikum wird von Jalila Baccar und Fadhel Jaïbi jeder Gewissheit beraubt. Vielleicht sind die Figuren auf der Bühne, wie es in den Info-Materialien des Theater an der Ruhr heißt, Soldaten, deren Lager in der Sahara von einem Sandsturm verwüstet wurde. Doch Baccar und Jaïbi unterlaufen derart konkrete Zuschreibungen immer wieder. Gelegentlich singen einzelne Figuren militärische und propagandistische Lieder, nur um in einem anderen Moment plötzlich religiöse oder auch revolutionäre Gesänge anzustimmen. Die Botschaft ist unmissverständlich. Diese im wahrsten Sinne verwehten Gestalten könnten alles und jeder sein: Soldaten oder Revolutionäre, Forscher oder Studienobjekte. Einer von ihnen, der von Aymen Mejri gespielte Fraj, behauptet gar von sich, er sei ein Hund. Am Ende wird er wirklich über eine andere Eingeschlossene herfallen und sie beißen.

Allegorie und Körpersprache

Der Sturm, den der tunesische Theatermacher in dieser Koproduktion des Théâtre National Tunisien mit dem Theater an der Ruhr von Anfang an heraufbeschwört, ist auch ein Tosen und Brausen im Kopf. Die Unruhe und Unsicherheit der heutigen Welt verdichtet sich auf der dunklen Bühne, die auch ein Gefängnis ist, aus dem es trotz der seitlichen Abgänge keinerlei Entkommen gibt, zu einem allegorischen Spiel. Natürlich denkt man an den arabischen Frühling und alles, was danach geschehen ist. Einmal wird sogar Ben Ali erwähnt. Doch auch diese Verweise und Assoziationen führen letztlich nur ins Leere. "Peur(s) - Angst" lässt sich nicht entschlüsseln. Das deutet schon der Originaltitel an, der die Angst an sich ebenso wie ganz konkrete Ängste, etwa vor Verfolgung oder dem Verhungern, einschließt. Jeder kann das Geschehen auf der Bühne mit seinen eigenen Ideen und seiner eigenen Panik aufladen.

Peurs angst 2120 560 Ahmed Meslameni uMouïn Moumni, Lobna Mlika, Nesrine Mouelhi  © Ahmed Meslameni

Vor einigen Jahren hat Jaïbi am Schauspielhaus Bochum mit dem dortigen Ensemble Kafkas Roman "Der Prozess" auf die Bühne gebracht. Dem Abend fehlte eine klare Linie, zwischen düsteren Schreckensvisionen und manierierten Spielereien rieb er sich selbst auf. Einige der damaligen Ideen finden sich in "Peur(s)" wieder. Das beginnt bei dem dunklen Raum und setzt sich in der höchst artifiziellen Körpersprache des Ensembles fort. Aber die tunesischen Schauspielerinnen und Schauspieler, mit denen Jaïbi zum Teil schon seit vielen Jahren zusammenarbeitet, verlieren sich nicht in aufgesetztem Pathos oder gekünstelten Aktionen. Natürlich haben die Szenen, in denen sie zu den tosenden Windgeräuschen über die Bühne taumeln und purzeln, auch etwas Komödiantisches. Trotzdem spiegelt sich in diesen ausgedehnten Choreographien eine tiefe existentielle Machtlosigkeit wider. Die extrem körperlichen Zwischenspiele fügen sich perfekt in Baccars und Jaïbis kafkaeske Vision einer Welt im Aufruhr ein.

Kafka und Shakespeare

So nah die Inszenierung Kafka ist, sie lässt sich doch nicht auf diesen einen Einfluss reduzieren. Shakespeares "Sturm" hat mindestens ebenso tiefe Spuren hinterlassen. Die von Lobna Mlika gespielte Chams, die sich als gelassene Beobachterin inszeniert, behauptet von sich die Leiterin eines "Prospero-Experience" genannten Experiments zu sein. Doch anders als Shakespeares Zauberer hat sie die Fäden nicht in der Hand. Die laufen eher bei Fraj zusammen. Er ist der Mysteriöseste unter all den Gestrandeten, zu gleichen Teilen Ariel und Caliban. Wie sich Mejri windet und wie er nur mit seinen Händen gewaltige Stürme heraufbeschwört, ist überwältigend. Als klassische Trickster-Figur, die menschliche und tierische Eigenschaften in sich vereint, verweist Fraj auf die Theorien C.G. Jungs und damit auf den kollektiven Urgrund der von Baccar und Jaïbi entfesselten Ängste und Stürme.

 

Peur(s) - Angst
von Jalila Baccar und Fadhel Jaïbi
Eine Koproduktion des Théâtre National Tunisien mit dem Theater an der Ruhr
Text, Regie, Licht: Fadhel Jaïbi; Konzept, Dramaturgie: Jalila Baccar, Fadhel Jaïbi; Bühnenbild und Musik: Kays Rostom.
Mit: Fatma Ben Saïdane, Noomen Hamda, Lobna Mlika, Aymen Mejri, Nesrine Mouelhi, Ahmed Taha Hamrouni, Mouïn Moumni, Marwa Mannaï.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-an-der-ruhr.de

 

Kritikenrundschau

"Es sind die Ängste vor dem wirtschaftlichen und sozialen Abstieg, der steigenden Kriminalität und des islamistischen Terrors, die im Alltag gegenwärtig sind", deutet Steffen Tost in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (24.4.2017) den Titel. Das Stück sei von hoher Qualität. Trost bemerkt, dass der arabische Teil des Publikums "in dem doch sehr beklemmenden Stück, das auf einen existenziellen Kampf hinausläuft, wiederholt mit Heiterkeit" reagierten, "ohne dass für das deutsche Publikum dafür ein Grund ersichtlich wäre".

Kommentar schreiben