Standbilder aus dem Unterfutter des Bewußtseins

von Nikolaus Merck

Berlin 21. März 2008. Die "Terrasse" vor dem "Schlosse von Helsingör" liegt auf der Vorbühne des Maxim Gorki Theaters. Die Terrasse ist eine Planche, eine Fechtbahn, nach vorne abgegrenzt von einem Zinnen bekränzten Mauerkopf, nach hinten verriegelt vom Eisernen Vorhang. Hier hat sich die Elite Dänemarks versammelt. Eine Truppe junger Fechter. Die Staatsgeschäfte werden vor dem Training erledigt.

Wenn man Hamlet als Drama des Zögerns liest, gibt das Fechtwesen eine treffliche Metapher. Entschlossenheit ist alles beim Kampf mit Degen, Säbel oder Florett. Klare Entscheidungen, keine Verzögerung bei der Ausführung, leidenschaftslose Kühle – darauf kommt es an. Gutes Fechten funktioniert wie Politik. Und Hamlet ist von all dem das Gegenteil. In der "Hamlet"-Inszenierung des 28jährigen Tilmann Köhler ist, wie es sich gehört, einiges faul im Staate Dänemark.

Generation Wasserflasche

Die Nachbarn rüsten auf, die Jugend der Bessergestellten drängt ins Ausland und der Fundamentalismus hebt sein Haupt in Gestalt eines Geistes, der herumerzählt, der alte König sei keines natürlichen Todes gestorben und die Königin hätte unziemlich früh ihren Schwager zum Ehemann genommen. Nicht leicht für den neuen König Claudius. Zum Glück hat er seine Gertrud, die ihm sagt, was er zu tun hat und im engeren Kreis auch schon einmal höchstselbst mit ein paar Ohrfeigen für Disziplin sorgt. Gertrud ist der eigentliche Chef an der Fechtbahn.

Wie üblich hat Tilmann Köhler sehr jung besetzt. Gertrud und Claudius (Antje Trautmann und Matthias Reichwald) sind nicht älter als Hamlet, Horatio und Ophelia. Sie führen eine Geschwisterhorde an. Mit wem wir es da zu tun haben, signalisieren die Wasserflaschen, die sich je länger, je zahlreicher auf der Bühne einstellen. Als Generation Umhängetasche hat die "taz" die Twentysomethings jüngst gelabelt. Doch in Wirklichkeit handelt es sich um die Generation Wasserflasche, eine Kohorte nicht oder nur unzureichend von der Nuckelflasche Entwöhnter, die noch im StudentInnenalter im feuchten Mitteleuropa die jederzeitige Dehydrierung fürchtet, und die deshalb niemals auf die Plastewasserflasche im Rucksack verzichten kann.

Ich bin tot

Es ist feine Selbstironie, wenn Köhler das finale Duell zwischen Laertes und Hamlet mit diesen KnisterKnasterHellblauFlaschen anstatt Degen – übrigens sehr virtuos – austragen lässt. Bloß entfällt so der Generationskonflikt des Stückes. Ein Ulrich Anschütz alleine kann als leicht skurriler, aber harmloser Minister Polonius die Gefahr, die von den mächtigen Älteren ausgeht, nicht repräsentieren.  Polonius überlebt nicht einmal die Mitte der Aufführung. Mit einem gewaltigen Satz springt Max Simonischek auf die Planche, Anschütz setzt sich auf, legt das Obergewand ab und erklärt: "Ich bin tot."

So wird bei Köhler gestorben: Rampe, Gewand ablegen, Klappe halten. Theaterblut braucht's dafür keines, so wenig wie Schwerter oder anderes Brimborium. Der Hamlet des wortgläubigen Youngsters aus Thüringen ist mit den fantasievoll Fechtanzüge variierenden Kostümen, die Susanne Uhl in vielerlei Weißtönen spielen lässt, zunächst eine saubere, fast abstrakte, rhetorische Angelegenheit.

Allein unter Sportskanonen

Gesprochen wird Heiner Müller, und das sehr einleuchtend. Max Simonischek erweist sich dabei als Meister des eingestreuten Geräuschkehrrichts. Virtuos skandiert er seine ausschweifenden Reden mit "häh" und „hm“ und stemmt dazu eine Hand herausfordernd in die Hüfte oder wischt sich mit dem Oberarm den Schweiß ab. Sein Hamlet ist so etwas wie der Michael Ballack der Veranstaltung. Der einzige Reflektierte unter einem Haufen von Sportskanonen. Und Simonischek ackert wirklich für zwei. Er zieht sich die Monologe auf den mächtigen Leib und schafft es über weite Strecken auch, die nicht gerade simplen gedanklichen Volten nachvollziehbar mitzuteilen.

Mindestens genauso stark: der athletische Eindruck, den er hinterlässt. Immer wieder unterbricht Köhler das Spiel für Standbilder des "Auf-dem-Sprung-seins", in die die Schauspieler gleichsam geduckt hinein schnellen. Erstarrte Tableaux mit gespannten Blick- und Körperbeziehungen, wie abgeschaut von den Alten Meistern der Gemäldegalerien. Bilder aus dem wortlosen Unterfutter des Bewusstseins, Bilder einer drohenden Gefahr. Dazu: pausenloses geschmeidiges Springen, rauf auf die Zinnen, runter auf die Planche.

Der Knall des Aufpralls schlägt der Inszenierung den Takt. Während Hamlet, Gertrud und Claudius für den Fortgang des Zweifel- und Zögerstory sorgen, gibt Michael Klammer als Horatio den Agenten der Gegenwart. Der beste Freund von Hamlet ist auch am tiefsten schockiert vom Auftauchen des Geistes, den er in seinem geerdeten System von Gut und Böse nicht sinnvoll unterbringen kann. In seinem vielleicht bisher stärksten Auftritt am Gorki spielt Michael Klammer sehr überzeugend den jungen Erwachsenen von heute, der unversehens in eine atavistische Vendetta geraten ist.

Elektrisierender Wahnwitz

Als Hamlet sich über die "niedere Natur" seiner Feinde auslässt, fährt er ihn an: "Niedere Natur? Was wirst Du denn für ein König werden?" Die Inszenierung ist klar, genau gedacht, bloß ein wenig kühl. In Richtung elektrisierenden Wahnwitz jedoch treibt sie, wenn Julischka Eichel die Szene betritt. Obwohl Ophelia, wie gewöhnlich, verrückt wird und stirbt, scheint sie bei Eichel doch unkaputtbar.

Wenn sie den Finger – "Pssst!" – an die Lippen legt, da Laertes sie belehren will, wie sie sich plötzlich Claudius oder Gertrud wortlos mit dem Gesicht nähert, und wie sie schließlich sich an den verrückt spielenden Hamlet hängt, wie sie selber, halb irrsinnig schon, klammert und dabei atemlose Töne ausstößt, um den Geliebten aus dem Wahnsinn zurückzuzerren – das mag noch unfertig sein und nicht bis zuletzt gestaltet, aber es ist einfach großartig.

Julischka Eichel kehrt zuletzt – wenn außer Horatio alle tot an der Rampe sitzen - noch einmal als Fortinbras zurück. Ein Wesen irgendwo zwischen Militär, Tank Girl und sprachunfähigem Fun-Worker. Ein bitterböser Blick auf die, die nach den Mittelfeldregisseuren à la Hamlet kommen werden. Bravo-Rufe und viel Beifall für diesen sehenswerten Abend. 

Hamlet
von William Shakespeare, bearbeitet von Heiner Müller
Regie: Tilmann Köhler, Bühne: Karoly Risz, Kostüme: Susanne Uhl, Musik: Jörg-Martin Wagner.
Mit: Julischka Eichel, Antje Trautmann, Ursula Werner; Ulrich Anschütz, Franz Hartwig, André Kaczmarczyk, Michael Klammer, Matthias Reichwald, Max Simonischek, Tilman Strauß.

www.gorki.de

 

Mehr über Tillmann Köhler, zum Beispiel seinen Weimarer Faust I, lesen sie hier. Und hier geht es zur Nachtkritik von Tilmann Köhlers Inszenierung Die Separatisten von Thomas Freyer am Berliner Maxim Gorki Theater im vergangenen Jahr.

 

Kritikenrundschau

Im Berliner Tagesspiegel (23.5.2008) berichtet Andreas Schäfer: In Aufführungen von Tilmann Köhler sei immer etwas los und trotzdem werde "klassisch eine Geschichte runtererzählt". Bloß wiesen solche Abende "kaum Innerlichkeit auf", öffneten keine "Verzweiflungsräume", sondern seien bloß "auf sterile Weise unterhaltend". Hamlet nun sei wesentlich "Jugendtheater". Max Simonischek als Hamlet sei zwar ein "Meister der Empörung", "sein Körper von einem ungerichteten, sehr heutigen Ekel erfüllt". Simonischek spucke oder schleudere seine Shakespeare-Sätze jedem entgegen, der ihm zu nah komme, das sei zwar "virtuos", aber "flach". Nur wenn Hamlet und Ophelia – gespielt von Julischka Eichel "mit dem halsbrecherischen Verwandlungsfuror eines ewig auf sich selbst gestellten, verwahrlosten Mädchens" - sich ineinander verbissen, gebe es einen "schmerzhaften Moment".

In der FAZ (23.5.2008) merkt Irene Bazinger an, dass "Hamlet" zwar "unter anderem ein Stück über ein paar junge Menschen ist, Jungsein allein aber nicht ausreicht, um es zu bewältigen". Simonischek mache sich "derart plump" über die Rolle des Dänenprinzen her, dass Bestrafung per Alptraum seitens des Dichters drohe. Vielleicht, gibt Bazinger zu bedenken, löse "der ewige Platzmangel an diesem trainingslagerhaften Königshof" in "der kleinen Gruppe Energie- und Triebstaus aus", so dass die Darsteller immer wieder "in kriegerische Posen" sprängen und "angriffslustig" auf der Vorbühne verharrten. Köhler arbeite sich "bieder" von Szene zu Szene, habe "hier einen Einfall und dort eine Idee, aber mit dem, was faul im Staate Dänemark ist", wisse "er nichts anzufangen". 

Ins selbe Horn stößt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (23.5.2008). Er sieht dem Hamlet des Max Simonischek an, "wie sehr er sich in der Rolle des adoleszenten Rebellen gefällt, ein Narziss und Schmollmund, der schon verdammt gerne ein Mischung aus James Dean und Kurt Cobain wäre". "Offenbar" hielten Regie und Darsteller "diesen Aufguss eines Aufgusses verbrauchter Posen" für "ganz besonders authentisch jugendlich". "Im Grunde" sei mit Hamlets wütendem "Blalabla"-Vorwurf an Königshof und Welt nach 20 Minuten "alles gesagt". Die fast "homogen jugendliche Besetzung" verwische den "stückentscheidenden Konflikt" zwischen Hamlet und der "Macht- und Intrigenwelt der Elterngeneration". Die "tragische Ödipus-Konstellation" schrumpfe "zu einer Jugendgang-Eifersuchtsnummer". Auch sonst verwische der "Generationsnarzissmus" die "Unterschiede zwischen den Figuren".

Nicht ganz so streng schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (23.5.2008). Zwar sieht auch er in Köhlers Inszenierung das Grundproblem eines nicht mit der "Brüchigkeit von Lebenserfahrung" aufgeladenen Personals der Aufführung. Trotzdem bot ihm der Abend viel "Denk- und Deutungsstoff". Und überzeugte ihn über weite Strecken auch mit der Lesart, Shakespeares Figuren als Generation von Unentschlossenen mit durchrationalisierten Lebensentwürfen ohne wirklichen Grund zu zeichnen, denen das kalte Karrieredenken nur die Entscheidung zwischen Leben und Funktionieren lässt – eine Entscheidung, der sich nur Hamlet entzöge. Besonders einige schauspielerische Leistungen begeistern Pilz: vor allem Julischka Eichels Ophelia.

 

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