Über Lichtbrücken musst Du gehn

von Eva Biringer

Wien, 29. April 2017. Und dann hat der Pollesch gesagt: "Bau mal ein Bühnenbild." Mit diesen Worten beschreibt Katrin Brack ihre erste Zusammenarbeit mit dem Regisseur. Das Ergebnis ist ein wenig Nebel und ein gutes Dutzend sich beständig hebender und senkender Scheinwerfer, verteilt auf mehrere Lichtbrücken. Eigentlich nicht zu übersehen und doch: Obwohl sie sich vor den gefährlich nah Richtung Boden sausenden Lichtquellen wegducken oder ihnen ausweichen müssen, sehen die vier Darsteller sozusagen den Wald vor lauter Bäumen nicht. "Mon dieu, wo ist das Bühnenbild!" rufen sie Fliege-rückend und Ballkleid-raffend und sind "völlig aus dem Häuschen".

Hat Theater ohne Bühnenbild überhaupt einen Sinn? Sicherlich, vorausgesetzt man denkt in post-dramatischen Kategorien. Wie ihr Regisseur ist Brack erklärte Gegnerin des Sinnprinzips. Wenn es Papierschnipsel "schneit" wie im Theatertreffen-prämierten Borkman, dann in Anführungszeichen, wenn Nebel wallt wie an diesem Abend, ist das weder "marxistisches Badewasser" noch ein Gruß aus der Waschküche, sondern eben nur: Theaternebel.

Falsche Fährten

René Pollesch, Twittergott, Diskurskaiser und Post-Dramatiker vor dem Herrn, hat dem Akademietheater ein neues Stück geschrieben. Schon dessen Titel "Carol Reed" lockt auf eine falsche Fährte: An keiner Stelle geht es um den gleichnamigen britischen Regisseur. Zwar spielt dessen bekanntester Film "Der dritte Mann" in Wien und vielleicht hat das irgendwas... aber nein, fort mit dem Sinn!

CarolReed 5571 560 Marcella Ruiz CruzMarxistisches Badewasser? Nein, einfach nur Bühnennebel in "Carol Reed" © Marcella Ruiz Cruz

Stattdessen geht es um die Repräsentation und deren Abwesenheit, stellvertretend für das vermeintlich entwendete Bühnenbild. Um eine 1958 verschwundene Uhr. Um Drogen und den damit einhergehenden Bedeutungsverlust. Wohnungswände wabern, Scheinwerfer treten in einen Dialog (was gar nicht so abwegig ist, schließlich sprechen wir auch mit unserem Telefon), ein überdimensionierter Pappmachéjoint macht die Runde. Auch das Bühnenbild ist ja bekanntlich auf einem Trip, "die Frage ist nur, wohin?" High (du weißt wovon) lautet der Titel eines Anfang des Jahres in Zürich uraufgeführten Pollesch-Stücks, dabei ist sein Verfasser erklärter Nicht-Konsument. Als Kampf gegen den Sinn ist ihm trotzdem jedes Mittel recht.

Auch Unsinn unter den Gästen

Wie schon im ebenfalls am Akademietheater gezeigten Cavalcade or Being a holy Motor sind Martin Wuttke und Birgit Minichmayr das Öl im Getriebe dieses Theorieapparats. Ohne die beiden wäre es meta, mit ihnen ist es mega, teilweise wenigstens. Authentizität als menschliche Eigenschaft existiert im Pollesch-Kosmos eigentlich nicht, beschreibt aber exakt dieses Alltagsplappern (wohlgemerkt nur dessen Form, nicht Inhalt). Bekannterweise variiert der 1962 geborene Regisseur und Autor seine Texte bis kurz vor Schluss, was dazu führen kann, dass Premieren, wie jetzt, um einen Tag verschoben werden.

Dafür sitzt der Text erstaunlich gut, auch bei den jungen Ensemblemitgliedern Irina Sulaver und Tino Hillebrand. Dass sie trotzdem nicht über die Rolle von Stichwortgebern hinauskommen, liegt entweder an deren weniger pointenreichen Sätzen oder daran, dass sie das Pollesch-Prinzip erst noch verinnerlichen müssen. Dress to impress: Gekleidet sind die Damen in Prinzessin-Lillifee-pinke Tüllroben, die Herren im Frack, später in Astronautenanzüge und Paillettenoveralls (Kostüme: Tabea Braun). Überhaupt ist alles sehr bunt, die Lichter, die Abba-Hits, die Querverweise auf Polleschs Privatbibliothek (keine Romane darunter) sowieso.

CarolReed 5733 560 Marcella Ruiz CruzDinnergesellschaft mit besonderer Konversationsfähigkeit: Tino Hillebrand, Irina Sulaver,
Martin Wuttke, Birgit Minichmayr © Marcella Ruiz Cruz

Dass der Abend trotz schlanker neunzig Minuten mehr und mehr bleiern wirkt, liegt an der Beliebigkeit seiner Themen. Schon bevor sich die Vier am Bühnennebel berauschen, wirken sie wie eine zwar gebildete, aber in ihrer Konversationsfähigkeit doch arg eingeschränkte Dinnergesellschaft. Auch Unsinn unter den Gästen. Was fehlt ist jener MacGuffin, von dem im Stück mehrfach die Rede ist. Alfred Hitchcock war der Meinung, jede Erzählung brauche ein unscheinbares, die Handlung vorantreibendes Objekt. Pollesch meint, das gelte auch für Beziehungen. Zwar ist das Bühnenquartett eigener Aussage zufolge glücklich verliebt, fürchtet allerdings die damit einhergehende Langeweile.

Mitten im Scheinwerferlicht

Überraschenderweise kommt die Liebe in "Carol Reed" ziemlich gut weg. "Weißt du, wir beide haben keine Probleme. Wir wachen nebeneinander auf und ich kann mich wirklich nicht beschweren. Ich bin einfach nur glücklich." In einem Interview gestand der 1962 geborene Regisseur, weder depressiv noch gestresst noch zynisch zu sein. Gleichzeitig sei ihm bewusst, dass sich Zufriedenheit oft nicht mit dem Wunsch nach intensiven Gefühlen vertrage. Wir wollen ein möglichst langes, vom Schmerz befreites Leben, aber bitte auch das ganz große Drama. Sicherheit und Risiko, Helm auf dem Kopf und Kippe im Mund. Egal ob nach Sinn oder Liebe, das Suchen hat kein Ende. Zwingender als die Textlawinen der Darsteller erzählt davon das genial-an-abwesende Bühnenbild von Katrin Brack: Dass wir unbemerkt bereits mitten im Scheinwerferlicht stehen.

Carol Reed
von René Pollesch
Regie: René Pollesch, Bühnenbild: Katrin Brack, Dramaturgie: Eva-Maria Voigtländer, Kostüme: Tabea Braun, Licht: Michael Hofer.
Mit: Birgit Minichmayr, Irina Sulaver, Martin Wuttke, Tino Hillebrand.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

Margarethe Affenzeller schreibt auf derStandard.at (30.4.2017): Pollesch zeige ein "puristisches, schauspielerisch virtuoses Konversationsstück, das die Dysfunktionalität am Theater mit jener des eigenen Lebens kurzschließt". Diesem "Kreuzungspunkt" gewönnen die Spielerinnen "im Beisein von Souffleuse Sybille Fuchs fabelhafte Überraschungsmomente und Wendepunkte ab". Die für "ein großes Drama drapierten Schauspieler" vollführten das "Drama der Reflexion". Höchst vergnüglich sei dem "Quintett zuzusehen, das sich überaus anrührend in kurios ineinandergeschlungenen Sprechbahnen an der Metaebene abarbeitet".

Hans Haider schreibt auf WienerZeitung.at (30.4.2017): Entlang eines legendären Zitats von Alfred Hitchcock zum MacGuffin breite Pollesch "seine Phantasien über ein Ding aus, das es nicht gibt, und ein Theater ohne Bedeutung". "Vage doch gewiss nicht bedeutungslos" komponiere Pollesch. Er amüsiere mit "verblüffendem Nonsens, virtuoser Rabulistik". Dass Polleschs "Kopfgeburt nicht ausgepfiffen", sondern von einem Teil des Publikums "bejubelt" werde, verdanke sie "ausgereizter Schauspielkunst" von Birgit Minichmayr (Gar nicht damenhaft ... Aber umwerfend) und Martin Wuttke("hinter routiniertem Charme blinzelt bisweilen Godot-Verlassenheit auf").

Norbert Mayer schreibt auf DiePresse.com (30.4.2017): Das gestohlene Bühnenbild sei die "Idée fixe des kurzen, pausenlosen, atemlosen, ironisch-verspielten Abends mit vier souverän verunsicherten Schauspielern". Die Leere sei aber nur Schein. Das "recht reduzierte" Bühnenbild aus "Lichtspielen und Nebel, einem Emailkübel" sollten "darauf stoßen, was Schauspieler eigentlich machen, wenn sie auf der Bühne stehen". Die Zuseher dürften selbst entscheiden: "Ist das radikale Möbelbefreiung? Willkürliche Sinnentleerung? Oder doch die gute Gelegenheit, ein Spiel im Spiel vollendet zu sehen?"

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2.5.2017) schreibt Martin Lhotzky: Schön bei Pollesch-Abenden sei die Crooner-Musik zu Beginn. Weniger schön das üblicherweise "wirre, manchmal witzige, meist unglaublich enervierende Textgeschwurbel vom Herrn Regisseur". Was die beiden Damen und die beiden Herren bei der jüngsten "Zitatenversuchsanordnung" so miteinander, "bisweilen auch gegeneinander" plauderten, sei, "wie üblich, belanglos". Stattdessen führten die Beleuchtungskörper die ganze Zeit ein Eigenleben. Fazit: "Was haben wir gelacht. Es wurden dem Vernehmen nach sogar schon Besucher gesichtet, die so einen Pollesch-Abend tatsächlich urkomisch finden."

"Die bei aller Reduktion opulente Aufführung hat eine hinreißende Leichtigkeit; selten sieht man Schauspielerinnen und Schauspieler, die ihre Texte so souverän unterlaufen wie hier", findet Wolfgang Kralicek von der Süddeutschen Zeitung (10.5.2017). Die bei Pollesch übliche "Referenzen- und Zitateflut" wirke "diesmal stark eingedämmt – was seinem Theater durchaus gut bekommt".

 

 

Kommentare  
Carol Reed, Wien: Bühnenbild - es geht nicht ohne
Katrin Brack hat damit bewiesen, dass das Bühnenbild, wenn die Textvorlage nicht sinnlich relevant über den Theaterdiskurs hinausgeht, wichtiger sein kann für die Herausarbeitung einer Vorstellung als die Performance des Textes.
Ein anderer Bühnenbild-Beweis gerade in Heidelberg: Steckels "Zehn Gebote", thematische Mix-Art-Autoren-Stilrevue, sind dort als Gastspiel ohne Bühnenbild über die Bühne gegangen. Was zeigt, dass es ohne Bühnenbild, wenn es denn ohne Bühnenbild überhaupt auch geht, trotz guter Performance durch die Schauspieler zu Bedeutungsverlusten des Theaters kommt. Weil das Theater den Witz des Publikums nicht übertreffen kann. Der die Vorstellung beschreibende Kritiker versucht den tt2017-Räuber-Vergleich aufzumachen: Hier ist aber eine eindeutig Dramenvorlage als Text-Vorlage vorhanden und die Bühnenbild-Idee von der Inszenierungsidee für ihre Darstellung NICHT voneinander zu trennen: das Stück ohne die Laufbänder in Berlin aufführen zu wollen, zerstörte die Vorstellung komplett und machte aus der Inszenierung eine Szenische Lesung, der alles Bemerkenswerte der Theaterarbeit am Schiller-Text ausgetrieben worden wäre - also Regie vollkommen überflüssig - Zeigt:
1. für selbstbezügliche Postdramatik die um die Anstrengung der Behauptung von Sinnlosigkeit kreist, geht ohne Bühnenbild und Kostümierung gar nichts.
2. für AutorenMix-Revues geht es - unabhängig vom Thema - ohne Bühnenbild wesentlich schlechter als mit, sie könnten also auch szenisch gelesen werden, würden dann aber nicht über die Dauer von vier Stunden Aufmerksamkeit am Stück für im Theater gelesene Texte binden...
3. Mit Dramatik - selbst wenn sie schon ziemlich alt ist - gehts mit Regietheater-Tradition so wie es NUR als Theater geht: Nicht ohne Schauspieler, nicht ohne Bühnenbild, nicht ohne Regie

Wenn man das bedenkt und sich in die Lage eines Verlages versetzt, muss logisch einem Verlag HEUTE daran gelegen sein, neue wirkliche Dramatik als literarisches Genre gar nicht vertreiben zu wollen. Und zwar, weil Theater mit ihr an keiner Stelle wirklich sparen können, wenn sie sie inszenieren. Nicht an der Regie, nicht beim Bühnenbild, nicht beim dramaturgischen (weder dem regieseitigen noch dem dramaturgieseitigen) Aufwand der geistigen Durchdringung im Vorfeld der Inszenierung, nicht am Schauspieler-Personal und nicht an der Regie...
Und dann müssten die (Theater)Verlage eigentlich bevorzugt andere literarische Genres als Dramatik einkaufen und an die Theater verkaufen wollen/können. Weil sie bei politisch unter Druck gesetzten Theatern überzeugend damit werben können, dass man mit ihnen Kosten bei ihrer Inszenierung sparen kann und trotzdem auf der Höhe der Zeit Theater machen, und man dem Publikum nur klarmachen muss, dass das eben diese Genres die vielfältigere Dramatik der Zeit IST. Auch wenn sie gar nicht so aussieht, klingt und nachhaltig wirkt, wie frühere Dramatik... Das Publikum ist gewiss einfach nur stinkkonservativ, blöd und ungebildet, wenn es das nicht so empfinden kann
Carol Reed, Wien: genialer Gedankenkreis
Zu einfach gedacht wäre es zu meinen, in Carol Reed würde einfach zu lange darüber diskutiert, dass die (wegen ihres Minimalismus gefeierte) Bühnenbildnerin Katrin Brack „ihr gesamtes Bühnenbild mitgenommen“ habe. Übrig blieben nackte Wände und ständig auf- und niederfahrende Schweinwerferbrücken – und die Suche nach „dem Ding“, das nicht zu sehen ist. Ein typischer MacGuffin dieses Stückes eben und ein virtuos gedrechselter Gedankenkreis, überhaupt wenn gegen Ende der wunderbare Martin Wuttke als „MacGuffin“ um die wunderbare Birgit Minichmayr herumhüpft und sie ihn nicht einmal ignoriert.
Mehr dazu: http://www.capakaum.com/2017/04/intellektuell-unterhalten/
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