Die Neiddebatte der Diskriminierten

von Georg Kasch

2. Mai 2017. Neulich war ein Bekannter im Schwuz tanzen. Als er sich irgendwann das T-Shirt auszog – in ähnlichen Clubs nicht unüblich –, motzte ihn ein Mitarbeiter der Security an, sich wieder anzuziehen, seine Halbnacktheit stelle eine Bedrohung dar. Kann der Anblick eines freien Oberkörpers bedrohen? Ein tanzender Körper in einem queeren Club in Berlin? Die Begründung: Männliche Nacktheit könne ein Trigger für Opfer sexueller Gewalt sein.

Political Correctness in excelsis

Die Anekdote könnte aus dem Band "Beißreflexe" stammen, in dem die Berliner Polittunte Patsy l’Amour la Love zahlreiche Beiträge zur "Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten" versammelt und der gerade die Diskussion der Community aufmischt. Etliches schießt dabei polemisch übers Ziel hinaus. Aber allein die Menge und Absurdität vieler Beispiele lässt einen den Kopf schütteln. Meine Lieblingsepisode: Das Orgateam einer Buchvorstellung zum Thema Trans lud die Sängerin Hedi Mohr erst ein, dann aber wieder aus für den Fall, dass sie ihren als rassistisch empfundenen Nachnamen nicht ablegen wolle. Sie wollte nicht.

kolumne 2p kaschNun könnte man mit den Augen rollen angesichts dieses Zickenkriegs in Tuntenhausen, ein Kampf in irgendeiner realitätsfernen Blase, und weiterleben. Aber der Konflikt innerhalb der linken queeren Szene rührt an Wesentliches. Im Kern lautet die im Buch kritisierte These nämlich: Die Privilegierten unterdrücken qua Privilegiertheit. Ein Vorwurf, der letztlich alle betrifft. Geht das überhaupt? Und wenn dem so wäre, mit welcher Folge? Wenn ich einem Menschen begegne, der wesentlich mehr Geld und Macht besitzt als ich und bevorzugt behandelt wird, dann sind seine Privilegien Symptome für ein ungerechtes Gesellschaftssystem. Und dieses System kann Menschen Unterdrücken. Aber der privilegierte Mensch, so er sich nicht aktiv an der Unterdrückung beteiligt?

Verantwortung der Selbstreflexion

Sich die eigenen Privilegien bewusst zu machen, wie etliche queere Aktivist*innen fordern, finde ich ja äußerst sinnvoll, weil es den Blick für die Verantwortung der Gesellschaft gegenüber schärft, die diese Privilegien mit sich bringen. Aber als schwuler Mann unsichtbar werden, wie es Zülfukar Çetin und Heinz-Jürgen Voß fordern, weil die Sichtbarkeit weißer schwuler Männer Transleute, Lesben und People of Color unterdrückt? Rastazöpfe, Tattoos und Tunnelohrringe ablegen (so das denn geht), weil sie eine ästhetische Kolonialisierung darstellen? Den Cowboyhut als Zeichen indigener Unterdrückung einmotten? Wie viel Quadratmeter Land wird den amerikanischen Ureinwohnern dafür restituiert?

Im Grunde steckt hinter der Hierarchisierung der Diskriminierten eine Neiddebatte: Wer mehrfach diskriminiert wird, hat ein größeres moralisches Recht. Mich erinnert das an den Beginn von Yael Ronens "Dritte Generation" an der Schaubühne: Da fragte zu Beginn der Schauspieler Niels Bormann verschiedene Minderheitenerfahrungen ab, nur um einen damit aufs moralische Glatteis zu führen. Denn macht es einen weniger zum Täter, nur weil man auch Opfer ist?

Das war ja die Erkenntnis dieses Abends: Beides ist möglich, beides ist sogar eher der Normalzustand als die Ausnahme. Das Utopische an diesen Ronen-Abenden ist, dass da Deutsche, Israelis und Palästinenser (oder Bosnier, Serben und Kroaten, oder ...) zwar konfliktreich aufeinanderprallen, Linien ziehen, Wunden benennen, aber bei allem miteinander reden.

Reden statt verbieten

Anderen aber Verbotskataloge zuzuschieben und stärker Privilegierte (mit ähnlichen Zielen) dazu zu bewegen, sich kleinzumachen, sich hinten anzustellen, bringt niemanden weiter, sondern spaltet. Am Ende ist das so kleinbürgerlich und kleingeistig wie ein guter Teil der Globalisierungskritik: Wenn man die ins Extrem treibt, sitzt am Ende jeder wieder auf seiner Volksscholle und ernährt sich von Hirse und Pastinaken. Wenn aber Rastazöpfe kolonialistische Aneignungen sind, was sind dann Kaffee und Mate, selbst fair gehandelte?

Soll heißen: Wir müssen reden, weil es nicht die eine Wahrheit gibt und immer mehr Fragen als Antworten. Mein Traum ist, sich auch über fundamentale Differenzen hinweg verständigen zu können. In Zeiten, in denen über gesellschaftliche Fragen vor allem in Parolen nicht-kommuniziert wird, ist das vermutlich ein frommer Wunsch.

 

Georg Kasch, Jahrgang 1979, ist Redakteur von nachtkritik.de. Er studierte Neuere deutsche Literatur, Theaterwissenschaft und Kulturjournalismus in Berlin und München. In seiner Kolumne "Queer Royal" blickt er jenseits heteronormativer Grenzen auf Theater und Welt.


Zuletzt schrieb Georg Kasch in seiner Kolumne über Geschlechterungerechtigkeit auf deutschsprachigen Bühnen.

 

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