Und leider auch Nanotechnologie...

von Claude Bühler

Zürich, 5. Mai 2017. Es solle "kläffend neben dem Klassiker herlaufen". Als "Sekundärdrama" verfasste Elfriede Jelinek 2011 ihre Anklage "FaustIn and out", die jeweils parallel zu Goethes Urfaust am selben Haus aufgeführt werden soll. Gemeinsame Ausgangspunkte sind der Missbrauch und der Kerker: Der Geschäftsmann Josef Fritzl, der die eigene Tochter 24 Jahre lang als Sexsklavin im Keller gefangen hielt und mit ihr mehrere Kinder zeugte, als Wiedergänger des Gelehrten Faust, der die junge Margarete schwängert, die später wegen Kindsmord im Kerker landet, wo sie auf ihre Hinrichtung wartet.

Gretchen als bereits Missbrauchte

Am Zürcher Neumarkttheater wagten Regisseur Tom Schneider und Dramaturg Ralf Fiedler nun den Versuch einer Kreuzung, verschachtelten die Texte im Baukastensystem ineinander: vorne am Bühnenrand Gretchen im Bademantel, die mit Jelineks FaustIn/Fritzl Tochter-Text – mehrdeutig und repetitiv – den "Leibhaftigen" anruft und auf die Totenfähre wartet. Und hinten in der Tiefe des Guckkastens Faust, der seine Lebensverdruss-Klage anhebt "Habe nun ach Philosophie, Juristerei ... durchaus studiert mit heißem Bemühn", und auch noch, für die Lacher, die "Nanotechnologie" mit reinschmuggelt.

Faust3 560 Barbara Braun uDie Ruh ist hin: Sandro Tajouri, Alice Gartenschläger, Maximilian Kraus und Simon Brusis, hinten: Anna Hofmann © Barbara Braun

Gretchen also als bereits Missbrauchte? Grausigen Doppelsinn erhalten so ihre Sätze "Bin weder Fräulein weder schön", mit denen sie Faust später bei der ersten Begegnung abweist. Bis dahin zeigen sie eine voneinander auch durch einen Gaze-Vorhang isolierte Koexistenz des Jammers. Bald streicht sich Anna Hofmann mit der Hand über das eigentümlich lächelnde Gesicht, als würde eine Puppe kindliches Anmutigsein üben. Maximilian Kraus, nackt daliegend, schwitzend, aufgelöst, verwahrlost, fragt sich wie ein Junkie, ob er Gott sei. Statt seiner Studierstube eine Art Zwischenreich: weiße Wände in weißem Licht, an deren Hinterwand bald das Pech herunterläuft, das schwarze Hände hinpatschen.

Den Dämonen völlig ausgeliefert

Gleich drei Mephistos bemächtigen sich der beiden Lebensmüden. Sandro Tajouri reißt neben Gretchen den Mund auf, als wäre er steinerner Kirchendämon. Alice Gartenschläger hängt sich an Fausts Rollstuhl, in dem er sich mühsam über die Bühne wälzt. Simon Brusis im koketten Frauengewand mit Schweif und lüstern züngelnd wie Gene Simmons schließlich holt sich per Wette Fausts Seele, bekräftigt mit einem gegenseitigen Griff in den Schritt.

Wie auf mittelalterlichen Tableaus sind Gretchen und Faust den Dämonen völlig ausgeliefert. Dröhnend heißt es "Du musst!", "Erkenne!": Fausts Sehnsucht nach Erkenntnis wird Befehl. Heftig wird er umhergeschubst, mit einem Sack abgeschlagen. Ein Dämon defloriert das Gretchen mit dem Mund. Ein anderer zieht es auf den Schoss, bewegt ihm die Arme, bläst ihm ein: "Meine Ruh’ ist hin, mein Herz ist schwer ...", während Faust im Bühnenvordergrund onaniert. Beim Liebesakt zwischen Gretchen und Faust tun die Mephistos eifrig mit. Aber, alles nur Wahn und Wille: Die derbe Show abstrahierend ergehen sich die fünf in einem zackig-spasmischen Boy-Group-Synchrontanz, der nach und nach auseinanderfällt, wie ein Spuk sich auflöst.

Was unter ihm geschieht, ist ihm egal

Atemberaubend dann der Wechsel in die Gegenwart, hin zur von Jelinek umgedeuteten Kerkerszene: Mit einem Wumm fällt die Hinterwand nach vorn, der Wind fährt dem Publikum ins Gesicht, und dahinter öffnet sich der Keller. Das Fritzlsche Gretchen, das sich nicht als eigenständige Person zu erkennen vermag: "Ich bin nichts als eine Fotze ... Ich bin die Tochter und gleichzeitig die Frau meines Vaters ... Ich bin einmal unter ihm zerrissen, aber das macht nichts. Er sagt, was unter ihm geschieht, ist ihm egal ..." Auch, weil Hofmann den Text emotionslos normal spricht, auch, weil sie wie ein Menschlein mehrere Meter von uns weg in ihrem Keller sitzt, ergreift die Szene.

Faust2 560 Barbara Braun uIm Keller: Maximilian Kraus und Anna Hofmann © Barbara Braun

Die dramaturgische Setzung macht das ursprüngliche Sekundärstück zum leitenden Drama, das sprichwörtlich hinter allem steckt. Im Vordergrund krabbelt und brabbelt Faust herum. Anstatt geistige Welten zu schauen, ist er erblindet. Nicht seine erweiterte Erkenntnis, seine elende Lage lässt ihn nun mildere Töne anschlagen.

Als Variante geht die Stückerfindung so in sich auf. Das Konzept wird präzis durchgezogen. Die 100 Minuten sind kurzweilig. Weggestrichen ist aber radikal materialistisch alles innerweltliche, philosophische, die geistige Welt. So verkürzt wird Goethes Faust zur Karikatur, zur Geisterbahn für die Kirmes. Einige Fragen bleiben offen, etwa ob schon bei Beginn des Dramas alles entschieden ist, es keine Ursachen kennt, die offengelegt werden könnten. Dem Publikum hat es so gepasst: tosender Applaus.

 

Faust
von Johann Wolfgang von Goethe mit Texten aus Elfriede Jelineks "Faustin and out"
Regie: Tom Schneider, Bühne/Kostüme: Michael Graessner und Jens Dreske, Musik: Sandro Tajouri, Dramaturgie: Ralf Fiedler, Choreographie: Alice Gartenschläger.
Mit: Maximilian Kraus, Anna Hofmann, Simon Brusis, Alice Gartenschläger, Sandro Tajouri.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.theaterneumarkt.ch

 

Mehr zu FaustIn and out? 2012 wurde Jelinkes Sekundärdrama als Teil von Faust 1-3 von Dušan David Pařízek in Zürich uraufgeführt, 2014 von Johan Simons am Münchner Residenztheater als Ergänzung zu Martin Kušejs Faust.

 

Kritikenrundschau

"Tom Schneider liefert in Zürich einen 'Faust' ab aus Jelinek hoch Goethe und interessiert sich vornehmlich für den Teufelspakt", schreibt Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (9.5.2017). Schneiders Interesse führe ihn "über die formalen und sprachlichen Grenzen hinaus ins Freie, ein Osterspaziergang auf dem blanken Nerv unserer hedonistischen Zeit. Unverschämt gewagt, unverschämt gelungen!" Alles stimme an diesem "Faust", "den man im Geiste der beiden Erfinder kongenial nennen muss", so Muscionico: "Es ist ein starker Abend, der beiden Geschlechtern energisch ans Empfindlichste greift."

Ganz anders Andreas Tobler im Zürcher Tages-Anzeiger (9.5.2017): Bis zur Beliebigkeit würden Elemente der Inszenierungen laufend addiert. "Selbst die Durchdringung der beiden Texte erschöpft sich in dazwischengeklemmten Gesten- und Körperchoreografien." Alle und alles hätten sich an diesem Abend dem Konzept Ideenreigen zu unterwerfen, "in dem vieles aufploppt, aber nichts den nötigen Raum erhält, um Resonanz zu erzeugen". Kurz: ein "Abend, der einen trotz heissem Bemühen kalt lässt und ohne Dringlichkeit bleibt".

 

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