Die Welt ist ungerecht

von Dirk Pilz

7. Mai 2017. Wie oft ward das hier schon gesagt? Dass die Vielfalt des deutschsprachigen Theaters zu preisen sei, dass der Kunst "gewaltige Kräfte" eignen und mit Lügen Wahrheit zu sprechen vermag. Dass die Bühnen "Spiegelräume der Gesellschaft" darstellten. Dass sie zu Toleranz und Verständigung beitrügen. Wurde es je nicht gesagt? Aber, ganz ehrlich, früher wurde das weggehört. Theatertreffeneröffnungsreden eben. Das ist jetzt anders. Nicht erst seit diesem Jahr, aber dieses Jahr besonders. Denn Monika Grütters, Kulturstaatsministerin, Geldgeberin, Theaterfreundin, sagt diesmal auch, dass Vielfalt immer stärker sei als populistische Einfalt. Hoffen wir das. Sicher sein konnte man sich früher schon nicht, inzwischen wissen aber alle, dass dieses Lob der Vielfalt keineswegs selbstverständlich ist. Es finden sich auch andere Politiker und andere Überzeugungen. Das Theatertreffen gibt es seit 54 Jahren, es ist kein Naturgesetz, dass man es in 50 Jahren noch immer finden wird. Es wurde im letzten halben Jahrhundert immer auch in Frage gestellt, kritisiert, beschimpft, das gehört längst zur Marke Theatertreffen dazu. Es soll und darf weiterkritisiert werden, wo kämen wir sonst hin!, nur hat sich der Horizont verschoben.

Es hat sich ja ohnehin viel verändert beim Theatertreffen, man blättere nur in einem Programmbuch von vor zehn Jahren. Thomas Oberender, Intendant der Festspiele, hat in seinem Eröffnungsstatement diese konzeptuellen Verschiebungen hin zu mehr Diskurs, mehr Zusatzprogramm, mehr Prozesshaftigkeit statt Produktshow entschieden verteidigt. Das Theatertreffen ist keine Coca-Cola-Formel, es hat keine Glücksformel. Es will die Theaterbetriebsdebatten abbilden und prägen, es will Diskussionsmarker sein. "Theater muss Diversität nicht nur einfordern, sondern auch beheimaten", fordert er gleich mal diskursweisend, und das Theatertreffen soll helfen dabei. Warten wir das ab. Er pries überdies Bewegungen wie art but fair und Ensemble-Netzwerk ("Die Kolleginnen halten nicht mehr still!"), forderte eine "neue Politik der Institutionen", lobte die partizipativen Bemühungen. Das war ja auch nicht immer so.

Schwestern1 560 Sandra Then uSommerhaus, später: die sehr heutigen, sehr lustigen, sehr traurigen Basler "Drei Schwestern"
© Sandra Then

Insofern passte es doch sehr schön, dass die erste Theatertreffenpremiere vom Theater Basel mit Simone Stones "Drei Schwestern" (hier die Nachtkritik vom 10.12.2016) besetzt war: Ein Abend, der sehr stolz auf seine diskurssatte Lebensnähe und glücksformellose Gegenwartsintensität ist, der das Drehbühnenbild einer in sich zerfressenen, verzweiflungsseligen, urtraurigen und deshalb über weite Strecken schrecklich komischen Gesellschaft zeigt, das aber so perfekt (was für ein homogenes Ensemble!), dass der Abend immer wieder ins Superrealistische, mitunter Groteske kippt. Eine durchaus ergreifende, aber in ihrer Gekonntheit auch seltsam süffige Tschechow-Überschreibungsshow. Ein Planschbecken der Identifikationsangebote, fast ein Bühnen-Drogen-Trip: Das gute alte Als-Ob-Spiel sieht hier wie die allerneueste Erfindung aus. Das ist doch was. Könnte übrigens gut sein, dass diese Inszenierung in der Fernsehaufzeichnung noch eindringlicher ist; das muss ja nichts Schlechtes heißen. Und was wurde sie lauthals beklatscht vom gewöhnlich sehr strengen Theatertreffenpublikum!

Zuvor saß übrigens Claus Peymann draußen unterm Baum an einem Büchertisch vollgestellt mit Claus-Peymann-Büchern. Er saß da sehr allein. Die Welt ist wirklich ungerecht.

 

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