Der Fluch der Provinz

von Rainer Nolden

Trier, 12. Mai 2017. Der Tod der Trierer Studentin Tanja Gräff, die 2007 nach einem Universitätsfest spurlos verschwunden war und deren sterbliche Überreste knapp acht Jahre später in der Nähe des Hochschulgeländes gefunden wurden, sorgte bundesweit für Aufsehen. Der nach wie vor ungeklärte Fall, bei dem die ermittelnden Behörden keine gute Figur gemacht hatten, rief erneut heftigen Wirbel hervor, als der inzwischen entlassene Intendant des Theaters Trier, Karl Sibelius, für diese Spielzeit ein Stück über den "Fall Tanja Gräff" ankündigte. "Die rote Wand" sollte es heißen – eine Anspielung auf das felsige Gelände am Moselufer, wo die Leiche der jungen Frau entdeckt worden war; der aus Trier stammende Dramatiker Lothar Kittstein war mit der Arbeit betraut worden. Aufgrund des Gegenwindes aus der Stadt und dem privaten Umfeld der Verstorbenen sowie im Zusammenhang mit theaterinternen Personalquerelen wurde der Auftrag zurückgezogen und Kittstein um ein anderes Werk gebeten.

Das hat er nun mit "Happy Hour" geliefert, einem Dreipersonen-Stück, das nur am Rande Elemente des ursprünglichen Sujets enthält, wie der Autor im Gespräch erklärt: etwa "das Echo von einer provinziellen Enge, vom Im-eigenen-Saft-Kochen und da nicht herauskommen können". Schauplatz ist eine Kneipe in einem nicht näher bezeichneten Ort – oder besser: Nicht-Ort mitten in einem undurchdringlichen Wald. Eine Metapher eher als realistisches Ambiente, was durch die Abstraktion des Bühnenbildes (Martina Küster, die auch für die Kostüme verantwortlich zeichnet) noch verstärkt wird: ein von unten beleuchtetes Gitter, eine Art Laufsteg, torfbedeckt, bunte Lampenstäbe an seinen vier Ecken, schwarze Wände ringsum.

"Beim Klaus"

Lisa, die diese namenlose Trostlosigkeit hinter sich lassen will, ist gekommen, um sich von ihrer Freundin Petra zu verabschieden, und hat sich dabei die Kante gegeben. Petra hat Nachtschicht in Burkhards Kneipe, die noch immer so heißt wie ihr vermutlich längst verstorbener Erstbesitzer: "Beim Klaus". Zwischen den drei Personen entwickelt sich innerhalb kurzer Zeit ein Geflecht von unterschiedlichen, zum Teil diametral entgegengesetzten Gefühlen, die die jeweils postulierten Beziehungen (Freundin – Feind –Geliebter) sofort wieder in Frage stellen. Am Ende schlüpfen die beiden Frauen sogar in die Haut der anderen, tauschen ihre Identität: Dafür steht symbolisch das rosaglitzernde T-Shirt mit dem Aufdruck "Beim Klaus". Petra trägt es als Dienstkleidung, auch Burkhard wird es kurz übergestreift, und Lisa will es, denn wer es trägt, gehört dazu, zum "Team", und kann sich dem trügerischen Gefühl hingeben, nicht allein zu sein. Am Ende, bezeichnenderweise, ist das T-Shirt nicht mehr da. Jede(r) lebt für sich allein.

HappyHour1 560 Arteo uHier kommt keiner weg: Burkhard und Lisa (André Meyer, Ronja Oppelt) © Arteo

Schnell auch wird klar, dass hier keiner wegkommt: Lisa nicht, die sich nicht zum endgültigen Aufbruch durchringen kann; Petra nicht, die sowieso nicht weg will, weil dann ihr Leben zerbröseln würde, und Burkhard erst recht nicht, denn der ist ja der Besitzer der Kneipe und wartet ebenso tagtäglich wie vergeblich auf Kundschaft, die niemals kommt, weil keiner da draußen von der Existenz dieser Örtlichkeit weiß. Die drei kleben an diesem Flecken Tristesse wie die Schuhe der Kundschaft im "süßen Dreck" des Alkohols – "als ob jemand vor mir steht, der von den Füßen aufwärts unsichtbar geworden wär", wie Petra erzählt.

Sie küssten und sie schlugen sich

Die Regisseurin Alice Buddeberg inszeniert "Happy hour" als (Alb-)Traumspiel, in dem Menschen, die auf sich selbst zurückgeworfen sind, ziel- und sinnlos durch eine erbärmliche Existenz mäandern, deren wahre Tragik darin besteht, dass sie unabänderlich ist. Das Thema ist nicht neu, es ist nicht einmal sonderlich originell; dennoch gelingt Buddeberg eine durchaus schlüssige und originelle Unterschichtenvariante von Sartres "Geschlossener Gesellschaft".

Zu der gehört der bullige André Meyer als Kneipier Burkhard, der auch (in prolligen Baggypants und ärmellosem T-Shirt) als Rausschmeißer vor seiner eigenen Tür arbeiten könnte; Juliane Lang als seine im rosafarbenen Glitzershirt und kunstvoll zerrissenen Jeans nuttig aufgetakelte Kellnerin Petra und – auch in der äußeren Erscheinung zunächst deutlich abgesetzt von diesen beiden Prekariatsrepräsentanten – Ronja Oppelt als Lisa, in seriöses Schwarz gekleidet, die weg will und am Schluss wohl genauso klebenbleibt wie die bereits erwähnten Schuhe.

HappyHour2 560 Arteo uWer wirft denn da mit Torf? Juliane Lang, André Meyer (vorne)
und Ronja Oppelt (hinten) © Arteo

Die drei verausgaben sich sowohl sportlich als auch stimmlich und mimisch, brüllen sich an und werden zärtlich miteinander, prügeln und küssen, hassen und lieben sich: 90 Minuten kraftvoller Einsatz. Meyer wechselt in Sekundenschnelle zwischen geilem Bock, Möchtegernpoet und brutalem Schläger, Lang zwischen der kessen Kellnerin und einem hilflos-liebebedürftigen Wesen, das sich diese Liebe holt, wo es sie gerade bekommt, und Oppelts Entschlossenheit, endlich hier fortzukommen, zerfasert genauso wie die Torfklumpen, mit denen sich die beiden Frauen bewerfen und einreiben – fast eine Art Begräbnisritual. Sie ist die wirklich Tragische in diesem Trio, von mitleiderregender Hilf- und Ratlosigkeit. Bei aller Trübsal ist "Happy hour" jedoch nicht frei von Humor – wenn auch einem Humor, der aus der Verzweiflung geboren ist. Doch über den lässt es sich ja auch vortrefflich lachen.

 

Happy Hour
von Lothar Kittstein
Uraufführung
Regie: Alice Buddeberg, Bühne und Kostüme: Martina Küster, Dramaturgie: Ulf Frötzschner.
Mit: Juliane Lang, André Meyer, Ronja Oppelt.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.teatrier.de

 

Kritikenrundschau

"Buddeberg verlegt 'Happy Hour' von Lothar Kittstein in ein grausiges Zauberreich, in dem die drei Sehnsüchtig-Wegwollenden gefangen bleiben zwischen ihren Träumen und Gewohnheiten", schreibt Stefanie Braun vom Trierischen Volksfreund (15.5.2017). "Es ist eben die Sehn-Sucht, die dieses Stück bestimmt." Eindringlich, erschreckend-real und großartig sei das Spiel der drei Akteure, die Inszenierung sei rasant, feinfühlig und detailverliebt. "Ein Lehrstück darüber, dass man die Provinz letzten Endes selten ganz hinter sich lassen kann."

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