Rave ins Nirwana

von Martin Thomas Pesl

Wien, 13. Mai 2017. Dafür, dass es Tianzhuo Chens erstes Mal im Theater ist, lernt er schnell. Sonst zeigt er Performances in Museen oder im Berghain. Dennoch beginnt er sein Gastspiel "Ishvara" in der Halle E im Museumsquartier mit einem neckischen Witz, der mit den Erwartungen des Theaterpublikums spielt: Ein Vorhang geht auf. Chens Skulpturen sind über die Bühne verteilt. Hinten leuchtet ein Neonkreuz neben einem Riesencomic von einer abgehackten Hand, die einen abgerissenen Kopf hält. Vorne steht starr ein Mensch mit chinesischem Schirmchen, rechts spielt Kirikoo Des auf einer Biwa einzelne Töne. Ton. Pause. Ton. Pause. Sonst passiert nichts. Nach wenigen Minuten geht der Vorhang wieder zu, und die Wiener Kulturnasen haben etwas zu kichern.

Mit grandiosen Klagelauten orchestriert

"Ishvara" ist die mit Spannung erwartete Eröffnungsproduktion der Festwochen unter der erstmaligen Intendanz von Tomas Zierhofer-Kin. Der neue Chef hält nichts von Genregrenzen, Opern- und Konzertfans hat er längst vergrault, Sprechtheater mag er nicht. Da passt Tianzhuo Chen (*1985), Jungstar der chinesischen Kunstszene, dem herzlich egal ist, in welchem Rahmen er agiert, hervorragend, um das althergebrachte Label "Musiktheater" ironisch umzudefinieren. Wir sind in einem Theater, und Musik findet statt. Nur ist diese neben der Biwa größtenteils elektronisch und wird von der Schweizer DJane Aïsha Devi und ihren grandiosen Klagelauten orchestriert.

Ishvara 3 560 Zhang Yan uKunst und Religion rauschhaft zelebriert in "Ishvara" von Tianzhuo Chen © Zhang Yan

Meist übertrumpft der Sound an Wucht noch die bunten Bilder, die Chen dazu in einzelnen, jeweils durch Vorhang getrennten Szenen entwirft. Kleinteilige Gestik und Mimik verschwimmen ebenso wie die Details der durchwegs opulenten Kostümierung und Ganzkörpermaskierung der zahlreichen Performenden im Nebel und einer Beleuchtung, die mehr auf Effekt als auf Erkennen abzielt und den Clubbing-Charakter der Show zementiert. Was zählt, ist "the big picture", und das sieht meistens ganz aufregend aus.

Der Begriff "Ishvara" bezeichnet einerseits den höchsten Gott im Hinduismus, andererseits eine Art Nirwana oder Jenseits. Die Szenen sind vom Hindu-Epos Bhagavad Gita und von Tianzhuo Chens Erfahrungen mit dem Buddhismus inspiriert. Einmal tanzt ein Paar in immer manischerem Tempo, während Performer Beio als dämonisches Wesen sich auf einem leicht ins Publikum ragenden Laufsteg räkelt. Ein anderes Mal ist eine Frau an einen Marterpfahl gebunden und kämpfen Helden zombieartig in einem Wasserbecken um sie.

Visueller Exzess statt Textverständnis

Geradezu narrativ – und deutlich symbolisch – wird es, wenn China Yu zuerst sich, dann eine aufblasbare Riesenpuppe wäscht, um sie anschließend mit Blut zu beschmieren, wütend zu zerstechen und ihr eine Nabelschnur zu entreißen. Ein weiß gekleidetes Wesen wird aus dem kaputten Ballonkörper geboren. Es ist JoJo, die zuvor in zwei spartanischen Monologen ihren mehrfachen Mord an ihrem immer wiederkehrenden Mann geschildert hat. Eine dramaturgische Schwachstelle im ohnehin nötigen Adaptionsprozess von bildender Kunst zu Theater: Um die ausgedruckten Übersetzungen mitzulesen, ist es zu finster. Und wer braucht Text, wo es doch eh um den Rausch, den visuellen Exzess, die Provokation geht?

Ishvara 2 560 Zhang Yan uTod und Geburt mit Riesengummipuppe: "Ishvara" von Tianzhuo Chen © Zhang Yan

Gewiss, Provokation: Die schrillen Figuren, ihre kulturelle Diversität, ihre teils nur durch Farbe vertuschte Nacktheit müssen dem Beijinger Kunstpublikum einen heilsamen Schock versetzt haben. Im Theater in Wien lösen sie leider nur banalere Querulanzen aus. Da gehen, buhen oder schimpfen die Leute wegen zu lauter Lautsprecher, fehlender Handlung oder fotografierender Zuschauer – die schlichtweg erkannt haben, dass sie sich in einem Event zwischen Party und Fashion-Show befinden.

Welcome to #viennapartyweeks

Wie in Jan Fabres 24-Stunden-Performance "Mount Olympus", als deren kleine unreifere Schwester sich "Ishvara" beschreiben ließe, steuert hier alles auf die Klimax zu. Wenn es gleichzeitig kracht, kreischt und blitzt, ist das Nirwana erreicht, der Rave am Höhepunkt. Danach, zum Ausklang nach über zwei erstaunlich kurzweiligen Stunden, erweist sich Chen wieder als Scherzbold. Erst lässt er China Yu die gerettete Göttin JoJo in Pietà-Stellung halten und mit ihr ermattet eine grotesk unpassende Popschnulze singen. Dann, wenn alle schon denken, es sei jetzt echt vorbei, wiederholt er das Stillleben vom Anfang nochmals, nur ohne Musik.

Zum Applausjubel – zwischenzeitige Buhrufer sind gegangen – kommt das vielfältige Ensemble partymäßig shakend, bevor es sich dann doch einfach verbeugt. Die heitere interdisziplinäre Konfusion ist komplett, die #viennapartyweeks 2017 haben begonnen.

 

Ishvara
von Tianzhuo Chen
Regie, Raum, Kostüme: Tianzhuo Chen, Text: Tianzhuo Chen, Beio, Choreografie: Tianzhuo Chen, House Of Drama (Ylva Falk, Igor Dewe, Aymeric Bergada Du Cadet, Amélie Poulain, Dyna Dagger), Kirikoo Des, Ndoho Ange, Künstlerische Beratung/Produktionsleitung: Petra Pölzl, Musik: Nodey, Aïsha Devi, Kakushin Nishihara, VagusNerve, Licht: Tanida Akihiko, Videoproduktion: FL production.
Mit: Beio, China Yu, Ylva Falk, Igor Dewe, Aymeric Bergada Du Cadet, Amélie Poulain, Dyna Dagger, Kirikoo Des, Ndoho Ange, JoJo, Sophie Schodl, Mariho Hata, Luciano Baptiste, Katy Clay, Meike Recktenwald, Magdalena Bönisch, Mzamo Nondlwana, Yuri Yoshimura, Harald Hermann, Ivanka Hermann, Johanna Wildling.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.festwochen.at
www.tianzhuochen.com

 

Kritikenrundschau

Die Stückform werde "zum Dauerproblem", so Ljubiša Tošić im Standard (15.5.2017), "eine Art Nummernrevue, die sich unter anderem auf japanisches Butoh-Tanztheater wie auch auf Maskenelemente der Pekingoper zu stützen scheint". Alles bleibe reizvolle Bilderepisode, deren Energie nicht aufgenommen werde, um durchgehenden szenischen Puls zu entwickeln. Trotz intensiver Aktionismen der Darsteller, Tänzer und Musiker reiße "die bisweilen rätselhafte Glaubensfete" eher die Tore zur Langeweile als zur Erkenntnis auf.

Deutlicher noch wird Norbert Mayer in der Presse: "Kunst, wie sie einst Andy Warhol und seine Gang in The Factory betrieben, kehrt drei Generationen später als Topfen in Form eines multiplen Kunsthandwerks zu den Wiener Festwochen zurück. Und wer in einem früheren Leben nicht brav war, muss sich diese zweieinhalb Stunden Techno-Kitsch und Ethno-Kult nicht nur anschauen, sondern auch noch darüber schreiben."

Reinhard Kager von der FAZ (16.5.2017) ist enttäuscht. Was Tomas Zierhofer-Kin, Intendant der Wiener Festwochen, vollmundig 'als Neudefinition des Genres Oper' angekündigt hatte, erweise sich als oberflächliche, obendrein recht mittelmäßig aufgeführte Tanzperformance mit reichlich Referenzen an die Popkultur. "Der versprochene 'visuelle und akustische Sog' entfaltet sich nicht, weil 'Ishvara' kurzerhand in einen ganz anderen Kontext verpflanzt wurde." Durch den Transfer auf die klassische Guckkastenbühne im Wiener Museumsquartier gehe "noch der letzte Rest an Unmittelbarkeit verloren, den 'Ishvara' im ursprünglichen Ambiente gehabt haben mag".

"Das (Musik-)Theater ist in der Post-Postmoderne angekommen, was naturgemäß, so eben auch in Wien, nicht nur Begeisterungsstürme auslöst", so Reinhard J. Brembeck in der Süddeutschen Zeitung (17.5.2017). Zumindest die Festivalintendanten dieser Welt seien ganz versessen "auf die frische, freche und intellektuell fordernde Art der Theaterneudefinition, deren Star für sie eindeutig Tianzhuo Chen ist" – der Abend werde auch bei Theater der Welt in Hamburg gezeigt. "Wie immer im Konzepttheater, erklärt auch hier die Bühnenshow an sich wenig. Sie will stets mit dem Konzept, hier ist es Samsara, abgeglichen werden. Andernfalls sind die Tänze, Klang- und Bildorgien nur ästhetisches Geraschel."

Tianzhuo Chen sei "ein meditativ Tastender, forsch Suchender, selbstbewusst und laut sich Gehör verschaffender Aktionskünstler, der für das chinesische Verständnis wahrscheinlich wahnsinnig mutig, mit uralten Ritualen und Mythen modisch bis zum schreienden Kitsch verfährt, ohne bisher einen originären Ansatz zu finden". So berichten Monika Nellissen und Stefan Grund von der Welt (26.5.2017) über das Gastspiel der Produktion bei "Theater der Welt" in Hamburg. Das "größte Manko" der Inszenierung sei, dass Chen "absolut kein dramaturgisch denkender Regisseur" sei. "Das steigert die Aufführung von mühsam bis langweilig."

"Das infantile Schrei- und Wälzhappening mit religiösen Symbolen zu billigem Sequenzer-Pop" hat Till Briegleb von der Süddeutschen Zeitung (29.5.2017) beim Gastspiel der Produktion bei "Theater der Welt" in Hamburg gesehen. Es ist für den Kritiker "der nächste Mega-Flop" in einem für ihn ärgerlichen Festivalauftakt in Hamburg.

Zum Dauerproblem wird allerdings die Stückform, eine Art Nummernrevue, die sich unter anderem auf japanisches Butoh-Tanztheater wie auch auf Maskenelemente der Pekingoper zu stützen scheint. - derstandard.at/2000057556221/Ishvara-Ekstatischer-Stillstand

Kommentare  
Ishvara, Wien: Unbekanntes im Fremden
Festivals sollen immer schön international sein. Interessant ist dann aber die Kritik, die häufig zu lesen ist; hier mit folgendem Wortlaut: "Die schrillen Figuren, ihre kulturelle Diversität, ihre teils nur durch Farbe vertuschte Nacktheit müssen dem Beijinger Kunstpublikum einen heilsamen Schock versetzt haben. Im Theater in Wien lösen sie leider nur banalere Querulanzen aus."
1. Internationales Theater bedeutet nicht, dass es international gleich funktioniert und wirkt. Denn dann wäre es doch eher "Nationaltheater". Die internationale Theaterszene ist heterogen und das ist das wunderbare daran. In ihr finden sich unterschiedliche Ästhethiken, Inhalte und Darstellungen. Die wiederum auf einem internationalen Kunstfestival gezeigt werden, damit genau diese Verschiedenheit und Diversität sichtbar wird. Vielleicht brauchen internationale Festivals mehr kulturelle oder gar anthropologische Vermittlung, damit ein Rezeptionszugang geschaffen wird, der andere Kriterien als "westliche Ästhethik" zulässt.
2. Das Beijinger Publikum mag einen heilsamen Schock erfahren haben? Woher kommt die Annahme, dass in China/Beijing Zuschauer*innen leben, die einen "heilsamen Schock" (was ist das und was soll er bewirken) benötigen? Weil die Theaterlandschaft Mitteleuropas und speziell die des deutschsprachigen Raums der Chinas überlegen ist? Und damit auch seinen Zuschauenden? Vielleicht wäre es hilfreich, sich manchmal über die Bedingungen Gedanken zu machen, wie dort Theater gemacht wird – Nacktheit auf Chinas Bühnen ist verboten, Kritik im System sowieso und alles wird vor jeder Präsentation durch die Zensurbehörde überprüft und abgenommen. Geld gibt es für die freie Theaterszene ebensowenig wie Spielstätten. Das ist auch ein Grund, warum viele Künstler*innen im Museum performen. Auch weil dort die Zensurbehörde manchmal ein Auge zudrückt.
Internationale Theaterfestivals funktionieren nur, oder können nur zu einer Zufriedenheit aller Beteiligter führen, wenn “wir” aufhören, das Bekannte, oder das “Nationale” im Internationalen zu suchen. Die Welt macht Theater – auf ganz unterschiedliche Weise und unter ganz verschienden Bedingungen und Voraussetzungen. Und das versucht ein internationales Theaterfestival – wenn es seinem Namen gerecht werden will – abzubilden.
Ishvara, Wien: Abklatsch
Vielleicht wäre die Aufführung weniger peinlich geraten, hätte Thomas Zierhofer-Kin nicht im Vorfeld so gross herausposaunt, die ach so altmodischen Festwochen nun mit aktueller, aufregender Kultur fluten zu wollen. (weil ja - Zitat - aus dem Bereich des Theaters gerade nichts Spannendes kommt.) Und dann sitzt man in 'Ishvara' und kann nicht aufhören zu lachen, weil man dauernd denkt: Sehr schlecht verstandener Wiener Aktionismus (Nitsch war in Wien schon in der Burg), noch viel schlechter kopierter Jan Fabre und ganz grottig kopierter Abklatsch all dessen, was man die letzten Jahre von brut bis ImPulsTanz schon viel besser gesehen hat. Da entpuppt sich das Verkünden des aufregend Neuen einfach nur als Unwissenheit über all das, was es hier ohnehin schon gab. Und irgendwann im Lachen beschleicht einen die Angst: Die meinen das ernst! Der Intendant meint das ernst! Und dann wird man sehr, sehr schnell sehr taurig...
Ishvara, Wien: nur eine Kopie
Sie schreiben: "Internationale Theaterfestivals funktionieren nur, oder können nur zu einer Zufriedenheit aller Beteiligter führen, wenn 'wir' aufhören, das Bekannte, oder das 'Nationale' im Internationalen zu suchen." - Aber genau das war doch das Problem des Abends! Er hat nur die Kopie von bekannten Ästhetiken gezeigt, sonst nichts. Natürlich muss man das aussprechen.
Ishvara, Wien: Rave und Buddhismus?
Rave und Buddhismus? Oh je, wie soll das zusammen gehen? Gar nicht, würde ich sagen. Rave ist künstlich, ist Spaß- und Eventkultur, also eher dem globalen Kulturkapitalismus zuzuordnen, dem Thema Kunst als Lifestylekonsum. Der Buddhismus ist eine jahrtausende alte und über die Generationen hinweg weitergegebene Tradition. Das passt nicht zusammen. Und was ist eigentlich nochmal die Kernaussage dieser Inzenierung? Radikale Askese versus radikaler Hedonismus? Nein, oder? Sieht eher nach totalem Hedonismus aus. Langweilig.
Ishvara, Wien: kein untermalter Leitartikel
Ich weiß nicht, obwohl ich denke, dass mich das nicht hinterm musealen Ofen vorgelockt hätte, wenn ich schon mal nach Wien gekommen wäre, finde ich doch, dass Inszenierungen, die nicht auf eine Kernaussage einzudampfen sind, in jedem Fall wirklich Inszenierungen sind. Sonst wären sie ja bebilderte, musikalisch, mimetisch untermalte Leitartikel...
Ishvara, Wien: banal
Ich war sehr an meine Jugendzeit erinnert: Lichtorgel, Stroboskop und Nebelwerfer, das ist Siebzigerjahre Discostil - unglaublich banal. Wenn das die neue linie der Wiener Festwochen sein soll, dann Prost Mahlzeit!
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