Backen ohne Mehl

von Dirk Pilz

Berlin, 18. Mai 2017. Diesmal eine kleine Anmerkung zum aktuellen Theatergeschehen in der deutschen Hauptstadt. Es hat sich jetzt also die angeblich wichtigste Kulturpressekonferenz des Jahres zugetragen: Chris Dercon und sein Team haben ihre Pläne für die Volksbühne vorgestellt. Ein weiteres Kapitel im sogenannten Berliner Theaterstreit, bei dem, so der Anschein, das Wohl und Wehe des gesamten deutschen Theaterselbstverständnisses auf dem Spiel steht. Längst geht es ja nicht mehr um Dercon & Co., sondern um alles.

Keiner fängt bei Null an

Es wird, so oder so, an den ab Herbst zu sehenden Arbeiten zu entscheiden sein, was die Volksbühne unter Dercon taugt. Nur wird eben alles auf diese seit zwei Jahren stattfindende Debatte bezogen werden, man wird sich entweder in seinen Befürchtungen bestätigt oder aber überrascht erleben. Niemand geht als leeres Etwas ins Theater, in die Volksbühne schon gar nicht. Es kommt, wie immer, darauf an, wie feinnervig das Bewusstsein der eigenen Vorurteile ist. Die Fairness, die jetzt für Dercon zu Recht eingefordert wird, setzt voraus, um diese eigene Vorurteilsgeschichte zu wissen: Keiner fängt bei Null an.

Es scheint mir in diesem Zusammenhang aufschlussreich, dass diese erste Programmpressekonferenz der Post-Castorf-Volksbühne im ehemaligen Flughafen Tempelhof stattfand. Dieser wird ja nicht nur Spielstätte unter Dercon, sondern lieferte Anna Viebrock einst die Bühnenbildvorlage für jene Inszenierung Christoph Marthalers, die den heutigen Ruhm der Volksbühne wesentlich begründet hat, für den Abend "Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!", der damals just in der ersten Castorf-Spielzeit herauskam.

In der Marthaler-Halle

Wenn Dercon sich jetzt in eben jener berühmten Halle abbilden lässt, mit den hohen Vertäfelungen und der Uhr im Hintergrund, die bei Viebrock und Marthaler den Rahmen abgaben, wenn er sich also gleichermaßen in ein Bühnenbild stellt, das wie keines sonst für das Schaffen seiner Vorgängervolksbühne steht, konterkariert dies jene irreführend pathetische Behauptung von einem "Nullpunkt" seiner Programmdirektorin Marietta Piekenbrock.

Es ist dabei nicht entscheidend, ob Dercon und Piekenbrock überhaupt um den historischen Resonanzraum wissen, den sie mit ihrer Pressekonferenz bespielen, oder ob sie sich damit als theatergeschichtsblind erweisen. Denn die Rede von einem Nullpunkt ist, so oder so, aufschlussreich. Sie bedient die alte Sehnsucht nach dem Schlussstrich, nach einem Neuanfang, die jedoch gewöhnlich wider Willen fortschreibt, was sie zu brechen hofft.

kolumne 2p pilzVon Nullpunkten zu sprechen, verbietet sich ohnehin, in Deutschland zumal, denn die Nullpunkt-Ideologie gehört zu jener heiklen Verdrängungslogik, die den Eindruck erwecken will, man könne die Geschichte zum bloßen Gestern herabstufen. Wie immer man die Debatten nach 1945 und auch nach 1989 bewerten mag, dass es eine Nullpunkt-Position nicht gibt, bei Androhung völliger Geschichtsvergessenheit nicht geben kann, darf inzwischen als gesichert gelten. Den Nullpunkt zu propagieren, kann deshalb nichts anderes heißen, als das Zuvor entweder zur Nichtigkeit oder aber zur Katastrophe zu erklären, um das eigene Tun vor diesem Hintergrund als Fortschritt, zumindest aber als notwendige Veränderung zu etablieren.

Unabhängig davon, wie berechtigt oder unberechtigt solche Forderung von Wandel sein mag, begibt man sich damit in den Sog eines Fortschrittsdenkens, das mir in Kunstfragen irreführend zu sein scheint. Castorf zum Beispiel ist nicht fortschrittlicher als Peymann, sie machen schlicht unterschiedliches, miteinander unvergleichliches Theater. Und auch Dercon wird sich, so viel darf man prognostizieren, weder als fortschrittlicher, geschweige denn moderner, oder aber als schlicht rückschrittlicher erweisen; er hat ein eigenes, mit dem Castorfs nicht zu vergleichendes Programm. Was besser gefällt oder schlüssiger ist, steht dabei auf einem anderen Blatt. Mein Misstrauen gilt dabei aber allen, die hierin abschließende Antworten vorgeben, welche Position man in diesem Streit auch sonst einnehmen mag. Keiner fängt bei Null an, auch nicht in Fragen der ästhetischen Vorlieben.

Es war dies im Übrigen bereits Thema bei Marthaler seinerzeit, denn seine Figuren waren wesentlich deshalb von Melancholie befallen, weil sie den Glauben an Fortschritt ganz grundlegend aufgegeben hatten und sich dennoch an der Unmöglichkeit des Vergangenheitsausschlusses versuchten, gebündelt in dem berühmten Witz vom Backen ohne Mehl, das ihnen nicht gelingen wollte. Das nicht gelingen kann. Man bekäme sonst allenfalls ein mehl- und also substanzloses Etwas. Insofern ist es, als sei die damalige Marthaler-Veranstaltung von prophetischer Kraft, ein Mahnmal für jene Kommenden, die um ihrer Fortschrittsgläubigkeit willen nach Nullpunkten suchen.

"Damit die Zeit nicht stehenbleibt"

Es fehlt auf den heutigen PR-Fotos mit Dercon übrigens, was Anfang der Neunziger in der Tempelhofer Flughalle und auch im Bühnenbild von Viebrock noch zu lesen war, der Werbespruch "Damit die Zeit nicht stehenbleibt." Die hintergründige Ironie bei Marthaler war, dass sie für die Figuren gerade deshalb stehenblieb, sprich in Wiederholungsschleifen führte, weil sie ihr zu entfliehen hofften. Je mehr man der Vergangenheit zu entkommen versucht, desto schneller – und hinterhältiger – holt sie einen ein.

Es ist, als bestätige sich diese böse Dialektik im aktuellen Geschehen: Die Volksbühne steht heute dort, wo sie vor 25 Jahren schon stand, mit dem Unterschied allerdings, dass sie vorgibt, sich damit am Nullpunkt zu befinden.

Dirk Pilz ist Redakteur und Mitgründer von nachtkritik.de. In seiner Kolumne "Experte des Monats" schreibt er über alles, wofür es Experten braucht.


Zuletzt schrieb Dirk Pilz an dieser Stelle über die Vorstellung von Pressefreiheit in Theatern.

nachtkritik.de berichtete mit in Text, Bild und Ton sowie im Video-Interview mit Chris Dercon von der Pressekonferenz der Volksbühne Berlin 2017/2018.

 

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