Dass das Leben weitergeht, ist keine Platitüde

von Sascha Westphal

Detmold, 19. Mai 2017. Alles kreist um eine Tragödie. Der 15-jährige Christopher wird an einem Sonntagnachmittag überfahren und stirbt kurz darauf. Dennoch beginnt "Am Strand der weiten Welt" ganz und gar undramatisch, ein paar Tage vor dem entsetzlichen Unfall. Zwei Teenager sind nachts im Bus auf dem Weg nach Hause. Sarah würde gerne noch irgendwo weiter feiern. Alex, Christophers älterem Bruder, reicht es für den Abend. Sie ist zwar ein Jahr jünger als der 18-Jährige, aber deutlich forscher und neugieriger. Sarah möchte Erfahrungen sammeln, das Leben in jedem Augenblick auskosten. Also macht sie dem schüchternen, immer wieder zurückschreckenden Alex ein Angebot, das er eigentlich nicht ausschlagen kann: Er darf sie küssen. Doch dazu ist er einfach noch nicht bereit.

Kleine Gesten, maximale Wirkungen

Schon in dieser ersten Szene seines Familien- und Generationenstücks legt Simon Stephens seine Karten mehr oder weniger offen auf den Tisch. "Am Strand der weiten Welt" konzentriert sich ganz gezielt auf alltägliche Situationen und Momente. Natürlich sind es die großen Schicksalsschläge und tragischen Ereignisse, die ein Leben von Grund auf verändern und Menschen aus der Bahn werfen können. Aber im Alltag, diesem fortwährenden Strom meist eher banaler Handlungen und Erlebnisse, entscheidet sich, ob die, die es tatsächlich aus der Bahn geworfen hat, ihre Spur wiederfinden.

Am Strand1 560 Landestheater Hupfeld uMilena Hoge (Harfe), Kerstin Klinder und Henry Klinder © Birgit Hupfeld / Landestheater Detmold

In Martin Pfaffs Inszenierung, deren Premiere das in diesem Jahr vom Landestheater Detmold ausgetragene NRW-Theatertreffen eröffnet, lenkt nichts von Stephens’ extrem präzise fokussierten Momentaufnahmen ab. Weißer Stoff, der nach hinten hin in einer geschwungenen Bewegung bis zum Schnürboden reichenden Wand wird, bedeckt den Bühnenboden. Acht Stühle und drei Paletten mit Bierdosen, mehr braucht es nicht, um die unterschiedlichsten Räume und Orte anzudeuten. Dieses beinahe schon abstrakte Bühnenbild vergrößert jede Regung der Schauspielerinnen und Schauspieler. So reichen Pfaff und seinem Ensemble schon kleine Gesten, um eine maximale Wirkung zu erzielen.

Spiegelungen und Brechungen

Wie Wenja Imlau in der ersten Szene unaufhörlich die Nähe zu Lukas Schrenk sucht, wie sie alles daransetzt, ihn zu lenken, wie er sich versteift und sich ihr wieder und wieder entzieht, hat fast schon etwas von einem Tanz. Die Choreographie ihrer Bewegungen erzählt auf eine unspektakuläre und doch poetische Weise von den Sehnsüchten und den Unsicherheiten der Jugend, von Ungeduld und Angst, und gibt damit den Ton der Inszenierung vor. Ihr ewiges Pas de deux von Nähe und Distanz, von Zärtlichkeit und Zurückweisung, ist eben nicht nur Ausdruck ihres Alters. Es prägt ebenso die Beziehung von Alex’ Eltern Alice und Peter wie die von seinen Großeltern Ellen und Charlie.

In Stephens’ Stück, in dem sich Optimismus und Fatalismus die Waage halten, sind die Söhne immer auch die Wiedergänger ihrer Väter, und doch haben sie die Chance es anders und besser zu machen. Diese Konstellation, die unentwegt mit Spiegelungen und Brechungen spielt, könnte leicht zu einem lähmenden Konzept werden. Schließlich lenkt Stephens ständig den Blick auf die Gemeinsamkeiten zwischen Alex, Peter und Charlie, die dann auch noch ihr Echo in den Parallelen zwischen Sarah, Alice und Ellen finden. Aber Pfaff weicht den Fallstricken des Stücks geschickt aus. Das übergeordnete Konstrukt bleibt im Hintergrund. Der Fokus liegt ganz auf den einzelnen Szenen, in die sich das Ensemble rückhaltlos hineinfallen lässt. So entstehen ungeheuer eindringliche Miniaturen, in denen kleine Gesten mehr als tausend Worte erzählen.

Dem Schmerz nahe kommen

Oberflächlich scheint vor Christophers tragischem Tod in der Familie Holmes alles in Ordnung zu sein. Doch in Wahrheit kriselt es schon länger in Peters und Alices Ehe. Davon zeugt etwa die ungeschickte Art, in der Stephan Clemens’ Peter seiner Frau einen Kuss gibt. Dieser traurige Versuch, eine Intimität herzustellen, die längst nicht mehr da ist, provoziert die entsprechende Reaktion. Natascha Mamier wischt sich daraufhin ganz beiläufig den Mund ab. In einer späteren Szene gibt sie Peter dann den Kuss, den er von ihr fordert, allerdings mit einer solchen Gewalt, dass er fast einem Schlag gleicht.

Es ließen sich noch zahlreiche Szenen wie diese aufzählen. Immer wieder gelingen allen Schauspielerinnen und Schauspielern Momente von überwältigender Eindringlichkeit und Natürlichkeit. Kaum etwas ist schwerer, als Leid und Trauer auf der Bühne darzustellen. Wie schnell werden Gesten zu groß und Schreie zu laut, aber nicht in dieser Inszenierung. Lukas Schrenk, Stephan Clemens und Natascha Mamier nähern sich dem Schmerz, den Alex, Peter und Alice nach Christophers Tod empfinden, auf unterschiedlichste Weise. Während Lukas Schrenk ihn in seinen roboterhaften Bewegungen auszublenden scheint und Stephan Clemens in seinen emotionalsten Momenten wie gelähmt wirkt, ertrinkt Natascha Mamiers Alice in ihrem Leid regelrecht. Wie die drei um ein Leben nach dem Verlust ringen, hat dabei etwas Kathartisches. Dass das Leben weitergeht, ist eben nicht nur eine Platitüde.

 

Am Strand der weiten Welt
von Simon Stephens
Deutsch von Barbara Christ
Regie: Martin Pfaff, Ausstattung: Petra Mollérus, Dramaturgie: Marie Johannsen, Musik: Milena Hoge
Mit: Natascha Mamier, Stephan Clemens, Lukas Schrenk, Thomas Ehrlichmann, Kerstin Klinder, Henry Klinder, Wenja Imlau, Nicola Schubert, Markus Hottgenroth, Adrian Thomser
Dauer: 3 Stunden 10 Minuten, eine Pause

www.landestheater-detmold.de

 

Kritikenrundschau

"Das Publikum erlebte eine so berührende wie beklemmende Premiere", schreibt Barbara Luetgebrune in der Lippischen Zeitung (22.5.2017). "Simon Stephens’ Dialoge sind stark – gerade weil sie ohne allzu viele Worte auskommen." Regisseur Martin Pfaff und seine Darsteller setzten auf "zarte, aber sprechende Gesten, eine Handbewegung nur, und doch ist alles klar", so Luetgebrune: "Dass die Gesten wirken können, dafür sorgt Ausstatterin Petra Mollérus mit einem überaus reduzierten Bühnenbild. Ein paar Stühle, ein Stapel Paletten mit Dosenbier und eine weiße Stoffbahn, die der Bühne Weite gibt, die hier auch Haltlosigkeit bedeutet: Das reicht." Und die Schauspieler*innen leisteten Grandioses. "Über mehr als drei Stunden reine Spielzeit erhalten sie im Alleingang die Spannung aufrecht."

 

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