Eine Fest für zwei

von Stefan Schmidt

Hamburg, 20. Mai 2017. Der Sarg des Odysseus ist von Beginn an leer. Zumindest fast. Irgendwann im Laufe dieses Premierenabends im Hamburger Thalia an der Gaußstraße werden sie den Deckel anheben, und ein weißer Luftballon wird aus der schwarz lackierten Pressholzkiste aufsteigen. Falls das die Seele des berühmten mythischen Kriegers sein sollte, überlebt sie die Befreiung aus dem Totenreich nicht lang. Einer der Söhne des Odysseus schießt den Ballon kurzerhand mit einer Pistole ab. Übrig bleibt eine Botschaft in einem Kuvert: ein übergroßer Penis auf einem DIN-A-4-Zettel. Zeit für den Schwanz-Vergleich!

Vater Kirk und seine Söhne

In seiner "Irrfahrt nach Homer" zeigt Regisseur Antú Romero Nunes Geschichten eines abwesenden Vaters aus der Sicht zweier umso präsenterer Söhne: Thomas Niehaus und Paul Schröder geben Telemachos und Telegonos, die beiden Halbbrüder der antiken Mythologie. Kind der treuen Ehefrau des Odysseus der eine, Sohn einer grausamen Zauberin der andere. Der eine sieht im (Über-)Vater den (brutalen) Krieger, der andere den (schöngeistigen) Wanderer. Wie diese beiden Jungs einander auf der Hamburger Bühne begegnen, ist eher inspiriert von den sagenhaften Überlieferungen als daran angelehnt.

odyssee smailovic01 560 hThomas Niehaus im Bärenfellmantel und Paul Schröder, im Hintergrund die Rautenkacheltapete von Jennifer Jenkins und Matthias Koch © Armin Smailovic

Wer genauer rekapitulieren will, was bei der Odyssee nochmal im Einzelnen passiert sein soll, der oder die macht sich besser einen ruhigen Abend zu Hause mit einer aktuellen Homer-Übersetzung. Oder schaut sich für einen solide unterhaltsamen Überblick Die Abenteuer des Odysseus in der 50er Jahre-Filmversion mit Kirk Douglas in der Titelrolle an. Die Hollywood-Legende ist als stellenweise sakral leuchtendes Hintergrundbild (und Vaterersatz) auch in der Inszenierung dauerpräsent. Ein Verweis darauf, wie der antike Mythos immer wieder neu mit Bedeutung aufgeladen wird.

Kopf aus, Herz an!

Auf der Bühne kämpfen dagegen zwei große Jungs verzweifelt verspielt gegen die Leerstellen an, die die verlorenen Gewissheiten der Alten hinterlassen haben. Sprachlich rational ist dem Verlust der großen Erzählungen nicht mehr beizukommen. Zu viel Geschwätz ist darum gemacht worden. Und so legt der Regisseur seinen Darstellern ein nordisch germanisches Fantasie-Misch-Masch-Skandinavisch in den Mund, das oft ganz gut zu verstehen ist, manchmal aber auch einfach genauso verworren wirkt wie manches Detail der griechischen Mythologie auf Menschen des 21. Jahrhunderts schon für sich genommen. Kopf aus, Herz an! Verstehen kann hier nur, wer (mit-)fühlt.

Viel eindrucksvoller als die Geister alter Zeit sprechen in dieser Inszenierung die Körper von heute. Thomas Niehaus und Paul Schröder sind schlichtweg großartig. Sie spielen sich und große Teile des Publikums geradezu um den Verstand. Aus trauernden Brüdern im feinen schwarzen Zwirn (einer der Mäntel ist besonders kostbar, wie wir immer wieder hören: aus dem Fell eines schwarzen Bären) werden unter anderem: ein Wiedergänger des sagenhaften Kyklopen Polyphem, ein Vampir, ein griechischer Lustknabe in roten Shorts, zwei Ringer, mutmaßlich auch der alternde Odysseus selbst - und schließlich zwei Monster, die mit Kettensägen bewaffnet ins Publikum stürmen. Gruselig gut!

Do you believe in magic

Der Abend ist voll von Anspielungen, voll von Slapstick, voll von Magie (natürlich muss der Sohn einer Zauberin ein paar gängige Tricks beherrschen!), voll von Musik: Johannes Hofmann hat für die Produktion den Klangkosmos geplündert. Er macht aus dem Schild des Odysseus und der Replik einer antiken Vase Schlaginstrumente, die ein bisschen nach Karibik klingen, er lässt zum pseudo-maskulinen Gepose der beiden Schauspieler im griechischen Bad die Jungs von "Bilderbuch" (für die Weltferneren unter uns: eine derzeit stark gehypte österreichische Band) vom Band "Maschin" singen, und er ist sich keineswegs zu Schade, um für ein wenig Hammond-Orgel-Nostalgie die frühe schwedische Abba-Hymne vom "gamle man" zu bemühen, von dem alten Mann, der einem vielleicht den Weg durchs Leben weisen kann. Wenn er nicht gerade auf Odyssee ist.

Die Verlorenheit, die die Inszenierung auf der Bühne fassbar macht - sie ist möglicherweise universell. Und trotzdem wird diese Irrfahrt vermutlich das Publikum spalten. Konsequent durchkomponiert wie sie ist, macht sie keine Konzessionen. Das ist ihre Stärke, das macht sie angreifbar. Nicht zuletzt fällt die Abwesenheit von Frauen auf: Es ist unbestreitbar eine Männerwelt, die der Regisseur mit seinen Jungs auf die Bühne bringt - aber diese Männerwelt ist in vielen Momenten erstaunlich zart, erstaunlich zerbrechlich. Und die Urheber dieser Bühnenwelt nehmen sich erfreulicherweise erstaunlich wenig ernst.

Kraftstrotzender Abend

Unbestreitbar ist auch dies: Antú Romero Nunes und sein Team beherrschen das Theaterhandwerk perfekt, und das stellen sie mit dieser Inszenierung unter Beweis. Die grandios einfache Bühne von Jennifer Jenkins und Matthias Koch (schwarze Vorhänge, die sich nach hinten verjüngen, eine Rautenkacheltapete, die auch als Mosaikboden taugt, ein Sarg, das leuchtende Kirk Douglas-Gemälde und ein paar Kleinigkeiten mehr) lässt flexiblen Raum für die kongenial fließenden Szenenübergänge, die die Regie an diesem Abend reihenweise komponiert hat. Im Wortsinn kaum zu fassen etwa wie aus einer ungemein berührenden Sequenz um einen alternden Mann an der Schwelle zum Sarg mit viel künstlichem Nebel irgendwann ein Wasserballett auf dem Trockenen wird. It’s magic!

Dieser kraftstrotzende Abend am Thalia Gaußstraße ist im Rahmen des Festivals "Theater der Welt" entstanden, das in der kommenden Woche offiziell in Hamburg beginnt. Und tatsächlich ist diese Irrfahrt ein beeindruckender Beweis dafür, wie Körper-und Raumkunst zumindest im europäischen Kontext die Grenzen von Sprache und Nationalkultur überwinden kann. Ein sagenhafter Bühnenzauber mit hohem Verführungspotential.

 

Die Odyssee
Eine Irrfahrt nach Homer
Regie: Antú Romero Nunes, Ausstattung: Jennifer Jenkins und Matthias Koch, Musik: Johannes Hofmann, Dramaturgie: Matthias Günther.
Mit: Thomas Niehaus, Paul Schröder.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

 Bilder der Inszenierung gab es im NDR.


Kritikenrundschau

Mit dieser "Odyssee" sei Nunes "meilenweit vom Kurs abgekommen", betitelt das Hamburger Abendblatt (22.5.2017) die Rezension von Heinrich Oehmsen. Nunes mache aus der homerischen Vorlage "eine Nummernrevue mit viel Kasperei, mit Zaubertricks, mit Sumo-Ringen und anderen absurden Einfällen". Es sei seine "bisher schwächste Arbeit" am Hamburger Thalia Theater.

Antú Romero Nunes habe mit den beiden großartigen Schauspieler Niehaus und Schröder einen wilden Jungs-Abend inszeniert, so Peter Helling vom NDR (22.05.2017). "Die beiden sprechen eine Art - Schwedisch? Das ist weder logisch noch sinnvoll. Aber auch egal. Es klingt echt. Und ist vor allem sehr, sehr witzig - und charmant." Wer sich nicht darauf einlasse, sei verloren. "Wer sich darauf einlässt, auch: aber er erlebt einen lustvollen Abend, eine sinnliche Achterbahnfahrt."

 

 

 

Kommentare  
Odyssee, Hamburg: TT Zweifel
Akteure mit starker Ausstrahlung, ein eher vager Bezug zum antiken Stoff, ansonsten gehobene Comedy, wie es sie in der Off-Theaterszene oft gibt, also dort, wo Theaterkritiker selten und Theatertreffen-Aussucher nie hinkommen. Ist das Theatertreffen wirklich noch in der Lage, die - wirkliche oder vermutete - Vielfalt des Theaters zumindest einigermassen abzubilden ? (Abgesehen vom zweifelhaften Gebrauch des Begriffes "Theater" - richtiger ist doch wohl "Schauspieltreffen")
Odyssee, Hamburg: Kindergartengeburtstag
Also wenn dieser Abend Theatertreffen sein soll - dann bitte die Jury demnächst in alle Komödchen, Theaterkneipchen, Theaterkähnchen schicken. Das war ja lächerlichster Kindergartengeburtstag. Schrecklich. Wie kaputt guckt denn diese Großkritikerjury... Wahnsinn!!!
Odyssee, Hamburg: Kopfschütteln
Ich kann dem Kopfschütteln über die Einladung des Odyssee-Abends von Herrn Nunes zum Theatertreffen nur zustimmen. Besonders schlimm finde ich, dass die 3sat- Theaterredaktion mit der TV-Aufzeichnung und -Ausstrahlung dieser Nichtigkeit den Fehlgriff der TT-Jury auch noch adelt. Leider ist es ja so, dass die Entscheidungen des TV-Senders maßgeblich sind, welche Inszenierungen der "Nachwelt" erhalten bleiben. D.h. welche Inszenierungen junge Regisseure, Dramaturgen, Theaterwissenschaftler in zwanzig, dreißig Jahren "sichten" können,um sich einen Eindruck vom deutschen Theater der heutigen Zeit zu verschaffen. Wenn die äußerst knapp bemessenen Mittel,die die Öffentlich-Rechtlichen dem "Nischenprodukt Theater" noch zur Verfügung stellen, für Aufzeichnungen der Hamburger "Odyssee" oder (bereits zum zweiten Mal) für die Lappalien von Herrn Rasche verplempert werden, darf man sich nicht wundern, dass die Subventionen für unsere Theaterlandschaft immer weniger Befürworter in der Bevölkerung finden. Gesellschaftliche Relevanz oder "Diskursteilhabe", die die Theaterleute so gerne für sich beanspruchen, sieht anders aus.
Odyssee, Theatertreffen: Körpergewitter
Schluss mit Sparflamme, die Geschichtenmaschine angeworfen, bis sie auf Hochtouren läuft. Nebel wabert, Filmmusik bildet den Grund für Fieber-, Albträume in gespenstischem Licht. Aus dem Sarg wird eine Wanne, ein griechisches Bad. sexuelle Spannung flutet den Raum, Synchronschwimmbewegungen werden abgelöst durch Niehaus, der mit Schröders Bein Luftcello spielt. (Halb-)Nackte Körperringen und posen in homoerotischem Slapstick, ein Bodybuilding-Wettbewerb zur Musik von Bilderbuch, der Schwanzvergleich wird zum Fantasiewettstreit und dieser zur Selbstbefreiung und Ich-erfindung im Duett. Albtraumszenen, in denen der eine dem anderen das Herz herausoperiert, um es anschließend zu verspeisen, münden in Tränenklamauk und Schwimmbewegungen im Tränenmehr. All die überlieferten Posen, die Rollenvorgaben und Verhaltensregeln, sie enden in rauschhafter Spielwut, in einem Körpergewitter ungebremster Probierlust. Am Ende kommen die Kettensägen. Der Sarg wird zerlegt und umgewandelt zur Kulissen, die Spieler verschmieren die Gesichter zu den Monstern, die der mythische Vater einst bekämpft haben mag, bevor sie mit den Sägen bewaffnet in den Zuschauerraum rennen, während im Hintergrund das Kirk-Douglas-Bild in rötlich goldenem Licht glüht.

Mit der Kettensäge geht auch Romero Nunes an den Stoff, zerlegt ihn zu Bauklötzen, mit denen sich dann genüsslich spielen lässt. Die Sprache als Machtinstrument, als Realitätsvorgeber und Wirklichkeitsbestimmer, als totalitärer Bilderdiktator hat ausgedient, sie ist lächerliches Geräusch, alberner Sinnrest. Stattdessen übernimmt nun der Körper, die wahrhaftige menschliche Präsenz im Raum. Kein Abbilder, kein Imitator, sondern ein Leben-, Wirklichkeits- und Welterschaffer. Die Befreiung des Ichs, seine Erschaffung aus dem Vorgegebenen, die Konstruktion der Welt und des Blicks auf diese durch das Spiel – diese Urerfahrung der Kindheit, dieser Keim individueller Identitätsfindung, stellt Romero Nunes mit seinen beiden grandiosen Darstellern nach. Ja, es ist ein frauenloser Jungsabend, ein testosteronhaltiges Kraftmessen in der verschwitzten Atmosphäre müffelnder Umkleidekabinen. Das mag man dem Abend zum Vorwurf machen, aber es schadet ihm nicht. Er schlägt das Publikum ohnehin ins Gesicht und auch das mag nicht jeder mögen. Aber wo gehobelt wird fallen Späne und wo Bilder und Rollen entsorgt werden, bleibt jede Menge Müll zurück. Den muss ein Anderer aufräumen, denn jetzt wird gespielt.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/05/21/auf-den-spielplatz/
Odyssee, Theatertreffen: inspirierend
Das war ein höchst inspirierender Abend! Ich habe es meinen Studierenden des ersten Jahrgangs als Pfingstlektüre in der 3sat Mediathek mitgegeben, wo ich es selbst mit größerem Vergnügen gesehen habe. Zwei tolle Schauspieler die einfach miteinander aufs Schönste spielen und das Thema einkreisen. Danke an die Kollegen und die prima Fernsehregie! Ich war verblüfft und wieder mal angeregt, dem Stadttheater die Stirn zu bieten! Heute Abend dann „Trommeln in der Nacht“; und nach anfänglicher Irritation wieder eine sehr kluge und mutige Aufforderung, nicht nur auf die
Auslastungszahlen zu schauen...ich frage mich, wie das hier am Wiener Volkstheater ankommen würde... Danke Kollegen!
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