Seht mich, die nackte Wahrheit

von Reinhard Kriechbaum

Wien, 20. Mai 2017. Über das zu lange Schärpenkleid scheint Atossa, Mutter von König Xerxes, bei ihrem Auftritt mehrmals zu stolpern. Kaum findet sie wieder die Balance. Gold, alles Gold, nicht nur das Kleid. Auch die Haut Atossas wirkt wie gegerbtes Goldleder. Da ist die persische Elite mit ihrem Besitzstand verwachsen, quasi verkrustet bis ins Fleisch. "Was wird aus dem Reichtum, den niemand beschützt?" Das wird folgerichtig Atossas erste Frage sein, nachdem sie von der verheerenden Niederlage der Riesenstreitmacht der Perser bei Salamis erfahren hat.

Niemals hinsehen

Neunzig Minuten lang steht Christiane von Poelnitz unmittelbar an der Bühnenrampe. Kein einziges Mal wird sie sich umdrehen. Nicht zum Chor, dem einer allein – Falk Rockstroh – Gestalt und Stimme gibt. Nicht zum Boten (Markus Hering), der als erster Augenzeuge vom Unglaublichen berichtet und Namen um Namen von Gefallenen kundtut. Aber Atossa wird ebenso wenig hinsehen auf Dareios' Geist (Branko Samarowski), der den Größenwahn, die Selbstüberschätzung dieser Gesellschaft, die Hybris des Feldzugs gegen die Griechen anklagt. Und als Mutter wird sie nicht einmal Xerxes selbst in die Augen sehen. Mit sich überschlagender Stimme wird der geschlagene König (Merlin Sandmeyer) sich selbst beklagen, gebadet nicht nur in Blut, sondern ertrinkend fast in Selbstmitleid: "Ich ... glücklos ... wie stehe ich da ohne Gefolge." Er tut es splitternackt, die sprichwörtliche nackte Wahrheit.

Perser3 560 Reinhard Werner Burgtheater uvorn: Christiane von Poelnitz, hinten: Branko Samarovski  © Reinhard Werner

Wegschauen. Nicht wahrhaben wollen. Wie angewurzelt dastehen und doch eigentlich weglaufen wollen vor der Realität: Atossa steht fast neunzig Minuten als einzige im Lichtkegel, an der Vorderkante der Bühne. Sie spreizt die Hände, ringt um jene Facon, die zu behalten längst nicht mehr die der Wirklichkeit adäquate Verhaltensweise ist. Christiane von Poelnitz hat in dieser Rolle eigentlich nur Stichwörter zu bringen und ist in Michael Thalheimers Inszenierung doch der Nukleus. Wie schwer ist es, eigentlich Undenkbares zu realisieren! Das Mienenspiel spricht Bände vom Beharren. Zwar wird die Königsmutter sich Goldkleid und überlange Schärpe bald vom Leib reißen, aber sie wird sich im Grunde auch dann noch nicht mit dem Gang der Dinge abgefunden haben, wenn sich Xerxes ihr zuletzt wie ein Kind in den Schoß wirft. Da ist Aischylos' Drama zwar zu Ende, aber die Geschichte noch lange nicht.

"Es strömen die Tränen"

Das Gegengewicht zu Atossa bildet Falk Rockstroh. Als Solitär ist er der Chor des Persischen Ältestenrates. Schwarz geschminkt um die Augen, schneidend artikulierend führt dieser prägnante Charakter im grauen Anzug den Stimmungsumschwung vor. "Bitter wie du kann nur ich mich beklagen", hält er Xerxes entgegen, während König wehleidig klagt: "Es strömen die Tränen, längst schwimme ich mit." Ein immer entschiedeneres "Nein" schleudert er ihm entgegen.

Perser2 560 Reinhard Werner Burgtheater uXerxes unbd Atossa, Merlin Sandmeyer und Christiane von Poelnitz  © Reinhard Werner

"Die Perser" sind nicht nur das älteste erhaltene Drama der Theatergeschichte. Es ist auch das erste und älteste Kolportage-Stück. Es wird in langen Monologen berichtet. Das kommt dem analytisch reduzierten Stil von Michael Thalheimer entgegen, dieses wort-orientierten Theater-Minimalisten. Thalheimer setzt auf die Textfassung von Durs Grünbein. Nicht eigentlich Übersetzung, sondern ein präzise Ver-Heutigung ohne jeden Modernismus, ohne nach-dichterische Eitelkeit. "Wiedergegeben" heißt es so schön im Programmheft. Grünbeins Nacherzählung bleibt nah am klassischen Versmaß, hält also Distanz aufrecht. Näher muss das Jahr 490 vor Christus gar nicht rücken. Man versteht schon, wenn Atossa fragt "Wo, um Himmels Willen, liegt dieses Athen?" So abgehoben sind Eliten.

Wenn die Decke herabstürzt

Olaf Altmann hat die Bühne völlig leer geräumt und dort Licht-Bildner Friedrich Rom zaubern lassen (beide sind mit Thalheimers Regiesprache innig vertraut). Die Rückwand sieht in dem irreal-fahlen Licht aus wie eine klassizistisch gegliederte Fassade – und es sind doch nur die übermannshohen, unansehnlichen Metallheizkörper. Die Berichte aus dem Halbschatten kontrastieren aufs Schärfste zur Distanziertheit, zur Ungläubigkeit der Erfolgsverwöhnten (dafür steht die im Lichtkegel positionierte Königsmutter). Zwischen den Szenen scheint die Decke herabzustürzen, pendelt nach vorne, droht Atossa zu zermalmen. Eine Schwade von Nebel wird frei, verzieht sich aber rasch wieder. Auch beim dritten Mal macht das Effekt.

Der Menge Bluts, die seit Beginn des Auftritt von Xerxes über die Bühne geronnen ist, wird man eigentlich erst gewahr, wenn es für die Schauspieler und das Team der Szeniker ans Verneigen geht. Obwohl der Boden kaum geneigt ist, will jeder Schritt vorsichtig gesetzt sein. Man reicht einander die Hände, um nicht zu schlittern. Ungeteilte Zustimmung, Jubel vor allem für die Schauspieler.

 

Die Perser
von Aischylos, wiedergegeben von Durs Grünbein
Regie: Michael Thalheimer, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Katrin Lea Tag, Musik: Bert Wrede, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Klaus Missbach.
Mit: Falk Rockstroh, Christiane von Poelnitz, Merlin Sandmeyer, Branko Samarovski, Markus Hering.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

Norbert Mayer schreibt in der Presse aus Wien(22.5.2017): Die Inszenierung sei so "grandios wie schlicht". Von Poelnitz spiele "souverän die übertriebenen Gesten, furchtlos zeigt sie ihr ganzes Pathos". Hier werde mit "heiligem Ernst gespielt, die Emotionen steigern sich bis zur Katharsis". Merlin Sandmeyer spiele Xerxes "grandios in der Niederlage". Ensemble und Regieteam seien "traumhaft sicher" gewesen.

Ronald Pohl schreibt im Standard (22.5.2017): Im Drama "Die Perser" gleiche alles der maßlosen Beschleunigung eines Fahrzeugs, das "unbeirrt auf die Schlucht zuhält". Und doch habe Michael Thalheimer alles richtig gemacht, er liefert ein "Meisterstück der Instrumentation". Das "Übertragungsbüro für antike Hiobsbotschaften" verwandele er "allmählich in ein Schlachthaus". Der "Übertragungsschirm" sei dabei das "Antlitz" der Christiane von Poelnitz. Auf ihm "zucken und wetterleuchten die widerstreitenden Empfindungen", siel iefere eine "Glanzleistung". Pohl: "Ein Ja zu dieser schlichten, erschütternden Aufführung."

Simon Strauss befindet in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (22.5.2017): Die Perser, dieses älteste, vollständig überlieferte Stück der Theatergeschichte, sei geschrieben als Warnung vor den "katastrophalen Folgen falscher Führung". Mit einem "spektakulären Bühneneffekt" und seiner "sehr konzentrierten, auf den ... Text vertrauenden Regie" schaffe es Michael Thalheimer, dem Stück, das häufig nicht mehr sei als ein "einziger lauter, in Worte gefasster Schrei", den "Charakter einer großen Erzählung" zu geben. Einer Erzählung, die "gerade heute wieder bindende Kraft entfaltet: Was wir brauchen, sind demütige Herrscher, keine gottlosen Tyrannen".

Christiane von Poelnitz' Mimik hat Wolfgang Kralicek als "spannendes Mikro-Theater" erlebt. Und auch sonst, schreibt Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (23.5.2017), hätten diese "Perser" "einen deutlich stärkeren Eindruck hinterlassen" als die erste Hälfte des Aischylos-Doppels am Burgtheater, Antú Romero Nunes' "Orestie" mit überwiegend chorisch gesprochenem Texten, die gegen Thalheimers Inszenierung "etwas Opernhaftes" gehabt und "doch erstaunlich harmlos" gewirkt hätte.

 

 

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