Wohin führt die Partizipation?

von Jürgen Reuß

Freiburg, 25. Mai 2017. Die noch kurze Geschichte der Bürgerbühnenfestivals ist die der ständigen Erweiterung ihres Begriffs. Am Taufbecken stand das relativ klar umrissene Dresdner Modell, für das Intendant Wilfried Schulz unter dem Namen "Bürgerbühne" eine eigene Sparte am Staatsschauspiel einrichtete, mit einem kompletten professionellen Team ausstattete und jede Spielzeit eine bestimmte Anzahl von mit Dresdner Bürgerinnen und Bürgern erarbeiteten Inszenierungen fest in den Spielplan integrierte. Konsolidiert durch Spielclubs ist daraus eine ziemlich solide Sache geworden.

Die Grenzen des Authentischen  

Das zeigten die Dresdener beim 3. Bürgerbühnenfestival in Freiburg mit ihrer "Romeo und Julia"-Adaption für deutsche und arabische Jugendliche; die Clan-übergreifende Liebesbeziehungen wird zur interkulturellen. Die literarische Vorlage erwies sich jedoch als zweischneidiges Schwert. In Interviews mit deutsch-arabischen Paaren – als Einspieler oder nachgesprochen Teil der Inszenierung – wird ein typisches Problem für die Arbeit mit Laien sichtbar: Eigen- oder Fremdschamgrenzen verhindern, den Konflikt im Authentischen bis in die notwendige Zuspitzung zu treiben. Dramatikerinnen bieten einen Schutzraum, das Ungesagte unter dem Deckmantel der Literatur doch zu zeigen. Das ist das Schöne an ausformulierten Stücken für Profis. Da käme mensch kaum auf den Gedanken, die Literatur mit dem Leben der Darstellerinnen zu mischen.

Bei Laien ist diese Versuchung dagegen groß. So erzeugte gerade "Romeo und Julia" beim Zuschauer einen seltsamen Verfestigungseffekt der Konfliktlage. Begriffe wie Ehre und Familie erfuhren in der durchaus pathetischen Inszenierung eine seltsame Überhöhung. Wenn sich die Eltern über den Leichen der Kinder versöhnten, wirkte das gleichzeitig wie ein Pakt, sich zwar zu vertragen, aber unter Affirmation der mörderischen Werte. Da war wohl auch dem Ensemble etwas mulmig zumute, sodass am Ende ein Happy End mit dem Denkmal-Song von "Wir sind Helden" aufgesetzt wurde.

Romeo 560 Krafft Angerer uDie Dresdner Bürgerbühne mit "Romeo und Julia" © Krafft Angerer

Die zweite Jugendbürgerbühnenvariante aus Bochum kokettierte dagegen ganz offen mit dem Ausreizen des Authentischen. So sehr der Titel "Über Gott und die Welt" nach von Sozialarbeitern ausgedachtem Allgemeinplatz klingt, so sehr zielt die Inszenierung aufs Persönliche. Die acht Akteurinnen bringen ihre sehr private Haltung zum Glauben auf die Bühne. Immerhin schütteln sie dabei allzu gängige Klischees etwas durcheinander: Am festesten im Sattel ihres teilweise geradezu kindlichen Glaubens sitzen die Christen; die Muslima betrachtet Religion eher als Höflichkeit gegenüber den Werten der Eltern, der Hindu ist im Grunde Agnostiker, vielleicht Mammoniker. Ein ideales Stück für jeden Kirchentag, aber auch der ist ja in gewisser Weise eine Bürgerbühne. Die berüchtigte singende U-Bahn, in der die Kirchentagsjugend gern zur Kanonhöchstform aufläuft, ließe sich sicher an jedem Festivalort mit lokalen Laien notfalls in Straßenbahnen nachstellen. Das ist polemisch formuliert, verdeutlicht aber, dass die Erweiterung der Begrifflichkeit auch die Grenzflächen vergrößert.

Suche nach neuen Formen

Dass es in Freiburg um einen erweiterten Begriff von Bürgerbühne gehen würde, lag nahe, da das dortige Stadttheater statt von einem Konzept à la Dresden lieber von künstlerischer Forschung mit einem erweiterten Ensemble spricht. Die Jury zog die Definition noch einmal weiter, so dass jede Produktion zugelassen war, der eine Zusammenarbeit von Laien und Profis zugrunde liegt. Die Idee dahinter ist nachvollziehbar. Suchbewegung, die nach neuen partizipativen Formaten tasten, finden sich nicht nur an festen Häusern, sondern genauso in der freien Theaterszene. Bezieht man das Rahmenprogramm in eine Gesamtbetrachtung ein, sind so fast alle Facetten der Profi-Laien-Kombi abgedeckt.

Gott und die Welt 560 Diana Kuester x"Über Gott und die Welt" vom Schauspielhaus Bochum © Diana Kuester

Allein das britische Commonwealth Theatre vereinigt schon ein beeindruckendes Formenspektrum auf sich. Generell betrachten sie ihre Inszenierungen als Kampagnen, gemeinsam mit anderen Menschen Veränderungen möglich werden zu lassen. Dazu kann der Kontakt mit Laien sich auf die Recherche beschränken, wie in ihrem Stück über häusliche Gewalt, das ausschließlich von Profis gespielt wird. Oder Laien spielen sich höchst authentisch selbst, wie die muslimischen Boxerinnen in "No Guts, No Heart, No Glory". Das hätte die Jury gern eingeladen, aber Laiendarstellerinnen sind in der Regel Profis in anderen Berufsfeldern, haben somit oft auch andere Verpflichtungen und können sich nicht so nach der Kunst richten.

Konkurrenz an der Tischtennisplatte

Während das Common Wealth Theatre mit jedem Projekt woanders ist, war das ein Punkt, der dem Ungarn Vince Zrinyi Gál in der Arbeit mit Laien gar nicht behagte – neue Spielräume eröffnen und dann weggehen und die mitmachenden Anwohner bleiben zurück wie zuvor. Sein Ausweg: Er gründete die freie Theatergruppe Komabazis und bezog mit ihr im abgehängten Armenviertel von Budapest eine feste Basis. Dort spielt Theater dann zwar eine wichtige Rolle, aber tatsächlich wird der Ort nahezu zwangsläufig zu einem soziokulturellen Zentrum mit Tischtennisplatte und Kicker. Der Wille, etwas dauerhaft zu bewirken, erzwingt, den Theaterbegriff wenn nötig bis zu seinem Verschwinden zu öffnen.

Möchte man so etwas wie ein Zentrum formulieren, um das die Bürgerbühne mit ihrem Festival kreist, ist das die Verunsicherung darüber, was Theater eigentlich sein soll. Der Legitimationsdruck von außen fordert den Nachweis der Relevanz, die Förderung steuert Richtung kulturelle Bildung und Erschließung vermeintlich unterentwickelter oder abgehängter Kulturwüsten, und die rapide Umwandlung festangestellter in Projektkünstler drängt auf traditionssprengenden Freiraum.

Die Alb als Bühne

Eine gute Veranschaulichung dafür liefert das Tübinger Landestheater, das mit seinen partizipativen Projekten im ländlichen Raum ins Rahmenprogramm geladen wurde. Vor der großen Verunsicherung ist die Landesbühne dem Auftrag, auch das Umland zu bespielen, nachgekommen, indem es mit den eigenen Produktionen auf Gastspielreise über die Dörfer ging. Weniger die Unzufriedenheit der Landbevölkerung als die Unzufriedenheit des Theaters mit seinem kulturellen Selbstverständnis förderte ein Umdenken in Richtung partizipativer Modelle, die sowohl bei der Förderung – in Tübingen konkret die Initiative "Lernende Kulturregion Schwäbische Alb" der Bundeskulturstiftung – als auch in Bezug auf den schauspielerischen Selbstanspruch ganz weit vorne sind sind.

Was aber, wenn das Land sich gar nicht als Kulturmangelgebiet begreift? Wie die Präsidentin des BW-Landesverbandes der Amateurtheater Naemi Zoe Keuler eindrucksvoll in Zahlen fasst, gibt es dort über 600 Amateurkulturstätten, die zwischen 10 und 23 Millionen Euro jährlich einspielen und sich zu 75% selbst finanzieren können, weil sie extrem gut besucht sind. Freuen die sich, wenn die großstädtischen Projektkünstlerinnen sie für andere Kunstformen aufschließen wollen?

Die Tücken des Bürgertheaters

Die Erfahrungen der jeweiligen Recherchekünstler werden sich wohl so zwischen denen von Burt Lancaster als Regenmacher in Kansas und dem mühseligen Geschäft des Gewerkschaftspioniers in Per Olof Enquist Auszug der Musikanten in den entlegenen Dörfer Nordschwedens bewegen. Großstädtische KünstlerInnen mit großstädtischen Ideen wollen entweder mit Spektakel  oder kommunikativ-kreativer Netzwerkerei oder beidem das Land entwickeln, beglücken. Was aber, wenn vom aufwendigen Recherchetheater eine Touri-App für eine dorfhistorische Wanderung bleibt, die zwar vom Landestheater Tübingen beworben, vom betroffenen Gemeinwesen und den Tourismus-Vermarktern aber nicht einmal ignoriert wird? Für das Landestheater sieht es anders aus. Weil die Arbeit im Umland Kooperationen mit Kleinbühnen und Volkshochschule hervorbringt, können diese Kontakte für Folgeprojekte nutzbar gemacht werden und Kontinuitäten stiften. Aber auch die Kontinuität birgt Tücken.

Kurz vor dem Bürgerbühnenfestival etwa hatte das Theater Freiburg zum Ende der Intendanz von Barbara Mundel elf Jahre kontinuierlicher Weltveränderungsversuche durch künstlerische Forschung im urbanen Raum auf der Bühne theatralisch reflektiert. Das künstlerisch spannendste Moment jedoch, die jahrelange erfolgreiche Arbeit einer in die Stadtperipherie implantierten künstlerischen Zelle namens Finkenschlag, konnte nicht einmal in der theaterinternen Reflexion einen Nachhall erzeugen. Einziger überlebender Geschichtsträger ist ein seit kurzem in Lörrach aufkeimender Ableger. Eines der wenigen Beispiele, die nicht Bürgerbühne sein können. Da die Initiatoren kein Geld dafür bekommen, sind sie nach der Definition eindeutig reines Amateurtheater.

 

www.buergerbuehnen-festival.de

 

Mehr dazu: Überlegungen von Jens Roselt anlässlich des 2. Bürgerbühnenfestivals in Mannheim 2015.

 

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