Die Kunst des Fragments

von Thomas Rothschild

Hamburg, 26. Mai 2017. Eine Frau balanciert auf einem am Boden rotierenden Männerkörper. Als sie die andere Frau, die unbeweglich an der Rampe gestanden hat, erreicht, flüstert sie ihr etwas ins Ohr. Neben der Frau im Vordergrund wartet auf den Schultern einer zweiten Person gesichtslos ein surreales Geschöpf wie von Max Ernst. Was will es hier? Das bleibt ein Geheimnis.

So beginnt das seit 20 Jahren bestehende Paper Tiger Theater Studio aus China seine Performance "500 Meters", die sich sehr lose auf Franz Kafkas Erzählung "Beim Bau der Chinesischen Mauer", aber auch auf allerlei andere europäische und chinesische literarische Quellen bezieht. Der Titel des Theaterabends ist dem vierten Satz von Kafkas Text entnommen: "Es geschah das so, dass Gruppen von etwa zwanzig Arbeitern gebildet wurden, welche eine Teilmauer von etwa fünfhundert Metern Länge aufzuführen hatten, eine Nachbargruppe baute ihnen dann eine Mauer von gleicher Länge entgegen."

Tanz ist in Mode

In den achtziger Jahren meinte Ivan Nagel, damals Kulturkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in New York, das Interessanteste auf dem Gebiet des Theaters finde im Tanztheater statt. Sieht man sich das Programm der aktuellen Auflage von Theater der Welt an, kann man zu der Einsicht gelangen, dass sich diese Überzeugung nach drei Jahrzehnten durchgesetzt hat. "500 Meters" allerdings lässt sich nur bedingt und in einem sehr weiten Verständnis als Tanztheater klassifizieren. Es entzieht sich der gängigen Genre-Einteilung. Wo sich die Bewegungsregie dem Tanz im engeren Sinne annähert, ist es eher expressiver Ausdruckstanz als kunstvolles Ballett. Kurz vor dem Ende überrascht die Gruppe noch durch einen ekstatischen Tanz zu rasanter Perkussion.

500 meters paper tiger studio 560Theater der Welt: Das Paper Tiger Studio tanzt Kafkas "Beim Bau der chinesischen Mauer" © Krafft Angerer

Vorher aber sitzen die Darsteller in hochgeschlossenen dunkelblauen Daunenmänteln und ohne Schuhe auf Stühlen, von denen sie seitlich fallen, nachdem einer von ihnen den Rahmen einer konventionellen Erzählung vorgetragen hat. Auf die Binnenhandlung wartet das Publikum vergeblich. Sie bleibt aus.

Gesprochen wird von dem internationalen Ensemble chinesisch, polnisch, spanisch, englisch, deutsch. Die Erzähleinheiten werden von Gesang und Pantomime begleitet.

In surrealistischer Tradition

Eine Frau wiegt die zusammengeballten Mäntel wie ein Baby. Vier Männer tragen eine Decke wie einen Baldachin über sie hinweg, sie legt den Mantel hinein. Dann werden Interviews über ein stilisiertes Walkie-Talkie geführt. Der Befrager ist nicht zu sehen, eine anonyme Stimme aus dem Nichts. Hier wird das Stück unheimlich: Assoziationen zu Kafkas "Prozess" sowie zur heutigen chinesischen Wirklichkeit drängen sich auf.

"500 Meters" besteht nicht aus einer nacherzählbaren Geschichte, sondern vielmehr aus fragmentarischen Ansätzen zu Erzählungen, die übergangslos an einander gereiht sind. Als Vorläufer – im Sinne von Analogie, wohl nicht von Einfluss – könnte man Arbeiten von Tadeusz Kantor nennen, mehr noch von Filmemachern wie Luis Buñuel oder René Clair. An einer Stelle wird Marinettis "Futuristisches Manifest" von 1909 zitiert.

Stimmigkeit wird in "500 Meters" nicht gefordert. Deshalb gibt es auch keinen "logischen" Schluss. Immer, wenn man denkt, dies wäre die Coda, folgt eine weitere Szene.

Kampf jeder gegen jeden

Einer der vermeintlichen Schlüsse zeigt einen Kampf von jedem gegen jeden, von jeder gegen jede. Nur eine wird mit verbundenen Augen, als "blinde Kuh", in das Getümmel geschickt. Das tatsächliche Ende verhöhnt den Versuch, Optimismus zu suggerieren. Er muss scheitern, das teilt die Inszenierung ganz unmissverständlich und wohl nicht zur Freude der chinesischen Kulturfunktionäre mit.

Dem Prinzip der Montage gehorcht nicht nur der Text, sondern auch die Choreographie. Immer wieder werden Körper zweier oder mehrerer Darsteller zu einem einzigen zusammengefügt, verknotet.

Über all dem Geschehen hängt eine kleine Frauenfigur in einem quadratischen Drahtnetz, die nach und nach zerschmilzt und deren Reste wie der Sand eines Stundenglases herabtröpfeln. Am Schluss ist von der Skulptur nichts mehr übrig.

Der Festivalbetrieb

Mit dem traditionellen chinesischen Theater oder gar mit Tianzhuo Chens monströser Kitschorgie "Ishvara", die nach den Wiener Festwochen bei "Theater der Welt" Station machte, hat das so viel zu tun wie Pina Bausch mit Gustaf Gründgens oder mit einer Show aus Las Vegas.

Auch das aktuelle Stück des Paper Tiger Theater Studios, das in Hamburg seine Welturaufführung erlebt hat, ist, wie zahlreiche Events dieser Leistungsschau, eine Koproduktion. Will sagen: Ein Veranstalter kann ein Unternehmen dieser Größenordnung nicht mehr allein finanzieren und verzichtet dafür auf Einmaligkeit (was für ein "normales" Publikum, das nicht von Festival zu Festival reist, kein Nachteil sein muss).

 

500 Meters 
von Paper Tiger Theater Studio
Weltpremiere
Konzept: Tian Gebing, Christoph Lepschy, Regie: Tian Gebing, Bühne: Eva Veronica Born, Kostüme: Wang Yanan, Musik: Piotr Kurek, Dramaturgie: Christoph Lepschy.
Mit: Szymon Czacki, Lei Yan, Li Bin, Lian Guodong, Liu Chao, Liu Xiangjie, Liu Xiangjie, Manel Salas Palau, Peng Yiou, Lisa Tschanz, Wang Yanan, Xu Yiming.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.theaterderwelt.de



Eröffnet wurde Theater der Welt in Hamburg mit Die Gabe der Kinder von Lemi Ponifasio.


Kritikenrundschau

Der Abend zeigt Till Briegleb von der Süddeutschen Zeitung (29.5.2017) "mit eher reduzierten Mitteln, wie unfassbar lang zwei Stunden sein können, wenn man unzusammenhängenden Improvisationsnummern zusehen muss". Die zehn Darsteller machten "vor allem irgendwelche gestischen Dinge, die man nicht im Entferntesten mit Mauerbau und Kaisertum in Verbindung bringen kann".

Tian lasse einen Schauspieler über einen anderen laufen, der sich am Boden wälzt. In diesem Moment seien Kafkas Gedanken über das unterdrückte Individuum präsent, "das Leiden des Einzelnen an den Großprojekten der Geschichte ist für den Zuschauer mit allen Sinnen zu fassen", schreibt Georg Blume in der Zeit (8.6.2017). Der Regisseur sei ein Zeitzeuge der Tiananmen-Generation, die bis heute das chinesische Gesellschaftswunder kritisch beobachte und kommentiere. Über die Aufmerksamkeit in Deutschland freue er sich, denn "Film und bildende Kunst dominieren seit Jahrzehnten die chinesische Kulturszene. Das Theater führte immer ein Schattendasein".