Grundrecht Leidenschaft

von Gabi Hift

Wien, 31. Mai 2017. Ein Mann. Fast nackt. Behaart. Was er schöner ist als ein Aff’, ist ein Luxus – und Jude Law ist Luxus pur. "Sex" lautet das Versprechen. Nicht als Scherz, nicht als lächerliche oder widerliche Beigabe, sondern als Urgewalt: "Obsession". Begierde.

Ivo van Hove hat zum vierten Mal einen Film von Visconti für die Bühne adaptiert. "Obsession" basiert auf dem Roman "The postman always rings twice" von James M. Cain aus dem Jahr 1932, der noch viele weitere Male verfilmt wurde. Lana Turner wurde durch die Rolle der Cora zum Star. Jack Nicholson und Jessica Lange sollen es in der Verfilmung von 1980 "echt" getrieben haben.   

Gino (Jude Law), ein Landstreicher, strandet an einer Tankstelle irgendwo in der Pampa. Hanna (Halina Reijn) ist die Ehefrau des wesentlich älteren Besitzers (Gijs Scholten van Aschat). Ein Blick genügt. Bei erster Gelegenheit fallen Gino und Hanna übereinander her. Weil sie keinen anderen Weg sehen um zusammenzubleiben, erschlagen sie den Ehemann und fingieren einen Autounfall. Die darauffolgende Untersuchung zermürbt sie und sie beginnen einander zu hassen.

Obsession3 560 Jan Versweyveld uJude Law geht lässig durch eine Tür © Jan Versweyveld

Skandalös ist, dass beide den Sex gleich stark wollen. Es gibt weder Opfer noch Verführer. Cains Buch fiel 1932 zunächst der Zensur zum Opfer. Auch Viscontis Film wurde 1943 in Mussolinis Italien verboten, weil er Armut und Unterdrückung der einfachen Leute ungeschminkt und brutal zeigte. "Ossessione" gilt als der erste Film des "Neorealismo" –  laut Roland Barthes ein moralischer Begriff, der "genau das als Wirklichkeit darstellt, was die bürgerliche Gesellschaft sich bemüht zu verbergen". Gerade diesen Realismus treibt van Hove der Geschichte aus. Im Programmheft sagt er, er habe "das italienische Flair gestrichen" um stattdessen eine – opernhafte – Verbindung zu antiken Mythen herzustellen. Aber was er als "italienisches Flair" bezeichnet, ist die Armut und Gewalt.

Erst Moral macht Monster

Ohne sozialen Hintergrund können die Schauspieler die Handlungen der Figuren nicht mehr begründen. Warum gehen Hanna und Gino nicht einfach zusammen weg? Die nackte, glatte Bühne (Jan Versweyveld ) und die Kostüme (An d‘Huys ) deuten auf "heute" und auf unbestimmten Mittelstand. Dass Hanna und Gino sich ihr Geld unter diesen Umständen ausgerechnet durch Mord verdienen, macht sie zu Monstern. Dass es keine Erklärung gibt, wie sie dazu wurden, zu Pappkameraden in einer reinen Kolportagegeschichte (wie z.B. "Basic Instinct").

Die Figuren im Film sind von ganz anderem Kaliber: total amoralisch und daher unschuldig. Camus wurde von "The Postman always rings twice" zu seinem Roman "Der Fremde" inspiriert – und das leuchtet auch sofort ein.

Obsession1 560 Jan Versweyveld uEine verhängnisvolle Affäre: Jude Law, Halina Reijn © Jan Versweyveld

Ivo van Hove wollte die Story auf das Wesentliche reduzieren, hat dabei aber Lebensnotwendiges weggeschnitten. Übriggeblieben ist nur ein klapperndes Gerippe. In einem gigantomanen, aseptisch glatten Bühnenraum – Pfeiler, eine martialische Theke, graue Wände – soll Dreck, Chaos und Enge hergestellt werden. Das führt immer wieder zu unfreiwilliger Komik. Als der Ehemann von Hanna verlangt, Abendessen für ihn und Gino zu machen, knallt sie einen riesiges, rohes Stück Fleisch auf die leere Theke. Dann schlägt sie mit einem Messer drauf ein, trägt es hinaus, kommt zurück und serviert leere Teller – die Schauspieler müssen nun spielen, die Teller seien voll – und der Mann beschwert sich, das Essen sei zu stark gewürzt. Das hat einen – gewiss unbeabsichtigten – Lacher zur Folge.

Als einziger großer Gegenstand hängt eine Maschine von der Decke, die das Auto symbolisiert, das Gino zunächst repariert und mit dem dann der tödliche Unfall fingiert wird. Ein eigentlich schöner Kunstgegenstand, der aber für die Größe der Bühne zu klein wirkt. Wenn das Auto "spielt", fährt es spuckend und schnaubend nach unten, man kann nicht anders als an "Tschitti tschitti bäng bäng" denken. Wenn es Verletzte gibt, rinnt schwarzes Öl aus dem Auto, saut die Schauspieler ein und symbolisiert Blut. Alle Metaphern sind so grobschlächtig, dass man auf ein "Haben Sie verstanden?"- Schild wartet. 

Sex ist subversiv

Und der Sex? Hat keine Chance in diesem sterilen, stilisierten Ambiente. Es gibt viel nackte Haut, es gibt naturalistische Stellungen, aber keinen Fluss, kein Anhalten des Atems, kein Loslassen, das eine Antwort im eigenen Solar Plexus hervorrufen würde. Und man begreift, dass auch die Begeisterung für den Sex mit der Wahrheit über die sozialen Verhältnisse zusammenhing. Sex mit der Person, auf die man wirklich geil ist, fühlt sich da als grundlegendes Recht an, als subversiv, als Beginn eines großen Umsturzes.

Vielleicht ist nicht jede Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen – aber diese ist es. Ivo van Hove setzt stattdessen auf ewige Wahrheiten – und schüttet Sex, Wahrheit, Gier und Hoffnung mit dem Ölbad aus. Übrig bleibt ein staubtrockenes Konstrukt, exekutiert von guten Schauspielern, umrahmt von kitschigen Videos, begafft von enttäuschten Zuschauern, die zu trotzdem jubelnden, prominentengeilen Glotzern deklassiert werden. Dabei hätten Sex und Wahrheit sie sicher mehr ergriffen.

 

Obsession
nach dem Film Ossessione von Luchino Visconti
Regie: Ivo van Hove, Bühne und Lichtdesign: Jan Versweyveld, Text und Dramaturgie: Jan Peter Gerrits, Englische Sprachversion: Simon Stephens, Video: Tal Yarden, Kostüme: An d‘Huys, Kompositionen und Sound Design: Eric Sleichim.
Mit: Jude Law, Halina Reijn, Gijs Scholten van Aschat, Chukwudi Iwuji, Robert de Hoog, Aysha Kala.
1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.festwochen.at

 

Kritikenrundschau

Ronald Pohl vom Standard (2.6.2017) hat einer "seltsam anämischen Veranstaltung" beigewohnt. In Ivo van Hoves Produktion sei "von der zersetzenden Macht blinder Leidenschaft, vom Treibhausklima der Armut" aus der Vorlage Viscontis "nicht mehr viel zu spüren. Wir begegnen Vertretern der Mittelschicht." Und "zwischen Laufband und Pumpenschwengel" flimmere "ein ästhetisches Niemandsland". Tatsächlich entlasse "van Hove seine Darsteller in eine Kunstgewerbeschule; in ihr kocht man die übergroßen Gefühle auf gar nicht kleiner Routineflamme hoch. Kein Reinfall, aber doch erschreckend zähe gut anderthalb Stunden."

Auch Barbara Petsch von der Presse (2.6.2017) attestiert der Inszenierung "allerlei Mängel": Die Produktion wirke "teilweise viel zu kühl als würde man eine Kaschemme in ein Designer-Loft verfrachten". Immerhin aber verfüge Jude Law "nicht nur über eine beeindruckende Bühnenpräsenz wie sie bei Filmschauspielern selten ist, er entfaltet auch in wohl abgemessener Steigerung immer mehr Charisma für seine Rolle." Und in der "surrealen" Einfärbung des neorealistischen Stoffs entdeckt Barbara Petsch dann doch auch "sehr tolle Bilder".

Wenn Jude Law in "Obsession" spiele, dann trete "nicht etwa das Können hinter einen großen Namen zurück", meint Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (2.6.2017). Nein, Jude Law mache "das sehr gut, ist vielleicht sogar eine Idealbesetzung für die Rolle." Dennoch tauge "der Abend nicht unbedingt viel", Ivo van Hove biete "perfektioniertes Großraumtheater", stutze "eine Geschichte von archaischer Wucht auf leicht konsumierbare Dimensionen zurecht" und übertünche "die Geschichte mit meist leise zehrender Musik".

Kommentare  
Obsession, Wien: gute Sätze
Sehr gute Sätze in der Kritik. Man bekommt eine Ahnung davon, was man alles in der Lage ist über die Klinge springen zu lassen, um einmal mit einem Hollywood-Star arbeiten zu können. Regie und Festwochenleitung.
Obsession, Wien: Weder Sprung noch Klinge
Ich fürchte, ich habe mich irgendwo missverständlich ausgedrückt. Ivo van Hove ist, jedenfalls auf dem Theater, ein mindestens ebenso großer Star wie Jude Law. Er hat in den letzten Jahren sämtliche große Preise erhalten, den Broadway erobert und einen Tony Award für die beste Regie bekommen. Seine Entscheidung, das Stück in einem zeitlichen und sozialen Niemandsland anzusiedeln, hat ganz sicher nichts mit Jude Law oder sonst jemandem zu tun. Und die minimalistische, abstrakte Ästhetik hat er sehr ähnlich schon bei "A View from the bridge" angewandt- nur dass sie dort wohl großartig funktioniert hat. Falls sie hingegen die anderen Schauspieler meinen: die gehören zu Ivo van Hoves Toneelgroep und arbeiten regelmäßig mit ihm zusammen. Das Springen über Klingen dürfte also an keiner Stelle dieser Produktion eine Rolle gespielt haben.
Obsession, Wien: Gewonnen
Ich denke schon, dass van Hove auch etwas gewonnen hat - ich fand gerade die moralischen - oder amoralischen - Entscheidungen im abstrakten Rahmen sehr stark, als Spiel mit der Uneindeutigkeit der Handlungsgründe. Mich hat es nicht vom Hocker gerissen, aber so schlecht wie die Kritik meint, fand ich es wirklich nicht ...
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