Tod für eins achtzig Geld - Nick Hartnagel inszeniert bei den Ruhrfestspielen in Koproduktion mit dem Schauspiel Hannover Franziska vom Heedes Kleist-Förderpreis-Stück
Kapitalismus. Ein Kinderspiel
von Sascha Westphal
Recklinghausen, 1. Juni 2017. Amanda meint es gut. Eigentlich hat sie nur das Beste für ihren dahinsiechenden Großvater im Sinn. Während sich seine Kinder nicht einigen können, wer ihn während seiner letzten Tage bei sich aufnimmt, und ihn über ihre Diskussionen und Befindlichkeiten praktisch vergessen, ergreift seine 24-jährige Enkelin die Initiative. Amanda entführt ihren Opa kurzerhand und sucht Hilfe bei ihrer Cousine Lolo und ihren beiden Cousins, Carlo und Vince.
Doch die haben ihre eigenen Probleme. Carlo hat gerade mit einer Party in einem übers Wochenende geschlossenen Supermarkt jede Menge Geld in den Sand gesetzt und weiß nun nicht, wie er den anderen drei zurückzahlen soll, was sie ihm geliehen haben. Da kommt ihm der aus dem Krankenhaus entführte Opa gerade recht. Die Eltern sollen ihn übers Internet ersteigern. Aus einer selbstlosen Tat wird mit einmal ein Geschäft. Dabei wollte Amanda doch nur, dass ihr Großvater an einem vertrauten Ort in Ruhe und Frieden sterben kann.
Rhizomatische Farce
Das klingt nach einer bitterbösen Farce. Doch "Tod für eins achtzig Geld", Franziska vom Heedes Stück über "Verwertungsprinzipien / Überlebensstrategien", das den diesjährigen Kleist-Förderpreis bekommen hat, erschöpft sich längst nicht in diesem einen satirischen Handlungsstrang. Eingeschobene Szenen um einen Lebensmittellieferanten und abstruse Nebenhandlungen, die sich den irrwitzigen Methoden widmen, mit denen die vier Cousinen und Cousins versuchen, ihr (Über-)Leben zu finanzieren, wuchern wild in die Geschichte um den sterbenden Großvater hinein. Die Farce dehnt sich rhizomatisch aus, wird zu einem Netzwerk kleinerer Momente und Szenen, die alle das eine große Thema variieren: Alles lässt sich verkaufen, und doch wird das Geld nie reichen.
Das Wuchernde des Stücktextes hat Regisseur Nick Hartnagel und Bühnenbildnerin Tine Becker zu einer fast schon genial zu nennenden Raumlösung inspiriert. Von der Zuschauertribüne, die sonst große Teile der Halle König Ludwig ausfüllt, ist nur ein schmaler Rest übrig. Die Sitzreihen mussten einer von Kinderphantasien und Comic-Bildern inspirierten Bühnen-Installation weichen. Im Zentrum des Raums steht ein gelber Seat-Kombi. Über ihm hängen drei große Fernsehmonitore, über die einzelne Szenen flimmern, die sonst nicht von überall einsehbar wären. Um das Auto herum stehen sechs kleine, teils recht surreal anmutende Bühnenpodeste, die unsere durchökonomisierte Welt in einen kitschigen Spielplatz samt wippendem rosa Einhorn und Prinzessinnen-Zimmer verwandeln.
Kein Entkommen aus dem Themenpark
Das Publikum kann die ganze Zeit über zwischen den einzelnen Spielorten hin und her schlendern und so zu eigenen Verwertungsprinzipien und Überlebensstrategien kommen. Der Standort entscheidet darüber, was man wie wahrnimmt. Einmal erpresst der extrem geschäftstüchtige, jedoch nicht sonderlich erfolgreiche Carlo seine Cousine Lolo. Zwischen den beiden liegt in diesem Moment die ganze Breite des Raums. Also führen Bardo Böhlefeld und Klara Deutschmann jeweils ihr ganz eigenes kleines Drama auf. Die Kälte, die Böhlefeld, ein von Empathie angekränkelter Geschäftemacher, ausstrahlt, ist dabei ebenso typisch für die von Franziska vom Heede karikierte kapitalistische Ordnung wie Klara Deutschmanns hysterische Opferhaltung, die natürlich nur Spiel und eine geschickte (Selbst-)Inszenierung ist. Gefühle werden simuliert, um sich einen Vorteil zu verschaffen.
Wie in der Wirklichkeit, in der jede Form von Protest vom Markt instrumentalisiert und assimiliert wird, gibt es auch in Nick Hartnagels Kapitalismus-Themenpark kein Entkommen. Die Raumsituation macht die Zuschauerinnen und Zuschauer von vornherein zu Komplizinnen und Komplizen der Figuren. Entweder geht man mit ihnen mit, oder man weicht ihnen aus. Aber in beiden Fällen folgt man übermächtigen Prinzipien und Strategien, die einem von Außen aufgezwängt werden.
Aggressiv ausgestellte Klischees
Die Nähe zwischen Figuren und Publikum nutzt Hartnagel konsequent für Zuspitzungen. Während der "ursprünglich von der Mecklenburgischen Seenplatte" kommende Lebensmittellieferant Arne im Stück einfach von seinen schwarzen Haaren profitiert, dank derer er als arabischer Flüchtling durchgehen kann, muss sich Christoph Müller mittels Schokoladencreme und Glitzer-Fes in einen Comic-Fremden verwandeln.
Auch das gehört genauso wie die aufgesetzte Kleinmädchenstimme und die blonde Perücke, mit denen Sophie Krauß' Amanda sich selbst als Objekt männlicher Phantasien in Szene setzt, zu den von Franziska vom Heede analysierten Verwertungsprinzipien und Überlebensstrategien. In der kapitalistischen Welt lässt sich gerade auch aus rassistischen und sexistischen Klischees Kapital schlagen. Also stellen Hartnagel und sein Ensemble sie aggressiv aus und distanzieren sich so von ihnen.
Tod für eins achtzig Geld
von Franziska vom Heede
Uraufführung
Koproduktion der Ruhrfestspiele Recklinghausen mit dem Staatsschauspiel Hannover und dem Kleist Forum Frankfurt/Oder
Regie: Nick Hartnagel, Bühnen- und Kostümbild: Tine Becker, Musikalische Leitung: Lukas Lonski, Video: Joscha Sliwinski, Dramaturgie: Rania Mleihi / Johannes Kirsten.
Mit: Sophie Krauß, Bardo Böhlefeld, Klara Deutschmann, Maximilian Grünewald, Christoph Müller, Wolf List, Philippe Bender, Lukas Lonski. Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.ruhrfestspiele.de
www.staatstheater-hannover.de/schauspiel
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