Balzac ist so tot

von Martin Pesl

Wien, 1. Juni 2017. Während oben in der Halle E im Museumsquartier Jude Law seiner Obsession für Motoröl frönt, tummeln sich ein Geschoss weiter unten, in der Halle G, gleich zwei Handvoll Superstars. Diesen Eindruck vermittelt zumindest Nadine Jessen aus dem Leitungsteam der Wiener Festwochen bei ihrer Einführung zur Premiere von "Die selbsternannte Aristokratie".

Unter dem Namen "La Fleur" und der Ägide Monika Gintersdorfers und des ivorischen Kollegen aus ihrer freien Gruppe, Franck Edmund Yao, arbeiten hier erstmals Menschen zusammen, die sich den Underdog-Figuren des französischen Schriftstellers Honoré de Balzac (1799–1850) verbunden fühlen: Yao selbst, DJ Meko und Lino Makebo, so bekommt man erklärt, sind prägende Größen der afrikanischen Tanzkultur des Couper Décaler und wahre Showgrößen in der Republik Côte d’Ivoire. Alex Mugler ist New Yorker Voguing-Star, Elisabeth Tambwe allemal in der österreichischen Performance-Szene bekannt und Cora Frost Chanteuse mit Cabaret-Erfahrung. Dazu gibt es Tänzerinnen aus Frankreich und Afrika und den Schauspieler Matthieu Svetchine vom Theater Bremen, der, nicht zum ersten Mal bei Gintersdorfer, den frankophonen Kolleg*innen als eifriger Dolmetscher hinterhertrippelt.

Schullektüre nacherzählt

"Allen gemein ist die Beherrschung der Kunst der stilvollen Selbstermächtigung", sagt Jessen, und so steht es auch auf dem Programmzettel. Dennoch sollen diese ungleichen Performenden sich nicht (nur) selbst in Ausübung der von ihnen geprägten Künste präsentieren, sondern auch Balzacs Roman "Das Mädchen mit den Goldaugen" nacherzählen. Denn der ist seit der Kolonialisierung auch in Kongo und Côte d’Ivoire Schullektüre, und manches daraus lässt sich schön auf die Situation heutiger Ivorer*innen in Abidjan und Paris umlegen. Soweit die Idee.

Die selbsternannte 560 Nurith Wagner Strauss uChoreographie und Übersetzung © Nurith Wagner Strauss

Da wird etwa beschrieben, wie die eitle Hauptfigur Henri sich anzieht – heute würde man ihn in Afrika einen "sapeur" nennen, einen selbsternannten Modedandy (das Phänomen wurde in Alain Platels Festwochen-Uraufführung "Coup Fatal" 2014 eindrucksvoll vertanzt). Entsprechend stilsicher sind die Kostüme, gehalten in Gold, Grün, Weiß, Orange und Blau. Sie wurden von Bobwear hergestellt, einem ivorischen Designer aus Hamburg.

Krude Bögen

Im ersten, eher essayistischen Teil seines Textes kategorisiert Balzac die Pariser Gesellschaft nach vier Gruppen: Arbeiter, Klein-, Großbürger und Aristokraten, wobei letztere am schlechtesten wegkommen, weil sie als einzige nicht arbeiten, aber auch nicht wirklich Spaß haben. Diese Unterteilung wird zu Beginn referiert und mit kleinen Choreografien veranschaulicht – augenscheinlich die meistgeprobte Szene des Abends. Dann geht es im Detail recht fahrig zu, während sich grob der folgende Rhythmus einstellt: Jemand paraphrasiert Balzac, jemand anders dolmetscht, eine Tanznummer im jeweils am ehesten dazu passenden Stil wird angerissen, und die erzählende Person zieht einen oft ziemlich kruden didaktischen oder autobiografischen Bogen.

Cora Frost etwa schweift von einem Balzac'schen Sittenbild mit den Worten "Das erinnert mich an ..." zu ihren eigenen Erfahrungen in Stripclubs ab: Sie habe damals lieber ein "feuchter Nebel" sein wollen als eine Frau, und wenn sie schon eine sein musste, "dann doch gleich eine Schlampe". Marion Siefert möchte über die letzte Wahl in Frankreich sprechen, der ihre Generation vielfach ferngeblieben sei.

Die selbsternannte2 560 Nurith Wagner Strauss uEin Abend über Sapeure und andere Underdogs © Nurith Wagner Strauss

Umständlich beschwert sich Franck Yao darüber, dass Balzac die Figur des "Mulatten" als den Dummen zeichnet – Svetchine nennt ihn zeitgemäß "den PoC" (person of color). Andererseits kommen Cross-Dressing und ein Mord aus lesbischer Liebe in der Geschichte vor, woraufhin Elisabeth Tambwe daran gemahnt, wie gendertechnisch visionär Balzac vor 200 Jahren war. Und heute? Alles reaktionär. Ja. Eh. Mit diesen vordergründigen Erkenntnissen passiert weiter nichts, sie werden nur vorgeführt wie die Gewänder der Sapeure.

Auf ihre offenbar improvisierten Erzähl- und Kommentartexte müssen sich die Agierenden derart konzentrieren, dass sie an Bewegung bisweilen nur energisches Stapfen im Kreis zustande bringen. Der Dolmetscher kommt gehörig ins Schwitzen und muss viele, viele inhaltsleere Sätze wiederholen. Am Ende ist der Roman zu Tode erklärt, und wir erfahren, erst auf Französisch, dann auf Deutsch, dass das Leben weitergeht.

Noch mehr Ermächtigung ihrer Beteiligten – oder aber genaueres Proben – hätte dieser modernen Balzaciade gutgetan. So wirkt die Aufführung wie die Fortsetzung der Einführung mit ein paar zusätzlichen Mitteln. Entsprechend lau fiel der Applaus aus.

 

Die selbsternannte Aristokratie
von La Fleur nach "Das Mädchen mit den Goldaugen" von Honoré de Balzac
Regie: Monika Gintersdorfer, Franck Edmund Yao alias Gadoukou la Star, Bühne: Christin Vahl, Kostüme: Bobwear.
Mit: Annick Choco, Cora Frost, Elise Graton, Lino Makebo, Meko, Mishaa, Reyod, Madou Sanguin, Marion Siefert, Matthieu Svetchine, Elisabeth Tambwe, Franck Edmund Yao alias Gadoukou la Star, Alex Mugler, Carlos Gabriel Martinez.
Länge: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.festwochen.at

 

Kritikenrundschau

Petra Paterno fragt auf WienerZeitung.at (2.6.2017): "Lässt sich zu Balzac tanzen?" und beantwortet die Frage so:. Die 16-köpfige Truppe setze Balzacs "Das Mädchen mit den Goldaugen" mit den "Mitteln des Erzähltheaters" um, kombiniert mit Couper-Decaler-Szenen. "Der neuartige Musik- und Tanzstil erinnert an Stammestänze vermischt mit Hip-Hop-Elementen, und wurde von Künstlern der Elfenbeinküste in der Pariser Diaspora entwickelt." Nur verbänden sich die die Erzählung aus 1832 und die Lebenswirklichkeit der Akteure 2017 nicht zu "einem sinnfälligen Ganzen". Die Aufführung bleibe "ziemlich beliebig", "unfreiwillig komisch" und "eigentümlich laienhaft".

Helmut Ploebst schreibt auf derStandard.at (2.6.2017): "Coupé Décalé" bezeichne einen "subversiv-zwielichtigen Lebensstil: fladern ('couper') in Paris, die Beute nach Hause transferieren ('décaler') und dort als 'selbsternannte Aristokratie' mit großem Protz und Glamour zum Fenster hinauswerfen ('travailler')."
Aus dem Balzac sei bei La Fleur ein "schrottiger Schwank mit Tanz und Musik" geworden. Dabei gelinge eine "kühne Parodie" auf das "alte und neue Elitengetue in Europa". Riskant sei das "Spiel mit der Anmaßung"allemal. Schließlich seien "Überheblichkeit und hochstaplerische Selbstdarstellung" zu tragenden Bestandteilen eines auf "Hedonismus gerichteten Lifestyles" geworden. Das "Couper-Décaler-Travailler" verströme eine "bedrückende Underdog-Atmosphäre", könnte aber auch "bestehenden Vorurteilen" neue Nahrung geben.

 

 

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