Glücksschule mit Clowns

von Sabine Leucht

München, 1. Juni 2017. Lila ist die Farbe der Buße, der Bischöfe, des Hinduismus und der Zweideutigkeit. Nur so zum Beispiel. Und dass Bühnen- und Kostümbildner Stefan Hageneier (aussage)kräftige Farben favorisiert, mag ein weiterer Grund dafür sein, dass die fünf Schauspieler und drei Schauspielerinnen in der Münchner Inszenierung von Joël Pommerats "Kreise / Visionen" satt-violette Mäntel und Hosen tragen. Ihre blass geschminkten Gesichter indes werden von weißen Haarsträhnen umrahmt, die sich um immense Oberkopf-Brachen herum zausen. Regisseurin Tina Lanik geht es clownesk an und mit groß ausgestellten Gesten – auch dort, wo die Akteure für Einzelaktionen Perücken (und Jacken) ablegen –, wohingegen es der französische Autor mit dem Hintergründigen hat, das sein Geheimnis erst allmählich und nie ganz entblättert.

Pommerats 2010 auf Einladung von Peter Brooks Théâtre des Bouffes du Nord entstandenes Stück klopft rund 700 Jahre Menschheitshistorie nach Glücks- und Erfolgsrezepten ab und lässt in 8 Geschichten und darin wild durcheinanderspringenden Szenen 64 Figuren in den Klauen von Heilsversprechern zappeln oder an ihren eigenen "modernen" Individualitäts- und Rationalitäts-Ideologien zerbrechen. Das Leid des Ritters von 1370, der die Regentschaft des Geldes beklagt, hat auf den ersten Blick wenig zu tun mit den im Wald verirrten Paaren oder dem "Universalbibel"-Händler, der der depressiven Mutter einer permanent Gitarre spielenden Tochter Lebenstüchtigkeit verkaufen will.

"Werden Sie Ihr eigener Gott"

Pommerat streut seine Szenen wie Würfel auf einen Tisch, zwischen denen sich beileibe kein roter, aber doch ein Faden windet, an dem recht locker ein paar Motive hängen: Zum Beispiel das Geschrei eines 1901 an der Übermacht der Fakten über die Poesie gestorbenen Babys, das 101 Jahre später durch einen Wald tönt. Auch der Wald selbst – als Ort, an dem die Gewissheiten schwinden? –, aber auch ein besonders rätselhaftes Rittermotiv scheint immer wieder auf: In einer Macbeth-Variante mit Obdachlosen als Hexen wie in der Geschichte eines mephistophelischen Conférenciers, der mit allen willigen Seelen "Werden Sie Ihr eigener Gott" spielt.

KreiseVisionen1 560 Konrad FerstererCynthia Micas ist eine*r von acht lilafarbenen Discokugel-Clowns © Konrad Fersterer

Den Conférencier hat Lanik – wie schon Hans-Ulrich Becker in der deutschen Erstaufführung – an den Anfang gesetzt. Im Marstall hat er viele Gesichter und eine einheitliche Gestalt: Alle acht Clowns ruckeln im Pulk auf die an vier Seiten von Sitzreihen umstandene Bühne und stecken die Köpfe zusammen wie Fußballspieler vor der Verlängerung. Dann hält jeder von ihnen eine Discokugel in die Höhe und bestaunt den Lichtfunkenflug am weißen Deckenquadrat wie am ebenfalls quadratischen Bühnenboden.

Munteres Chargieren

Der Conférencier ist der Durchblicker im Stück. Der einzige. Und auch Lanik scheint vor jeder Szene schon ihr Ende zu kennen: Thomas Huber als Aristokrat, der kurz vor Ausbruch des 1. Weltkrieges seinen Diener zu verführen versucht, legt gleich mit anzüglichen Blicken los und zieht so gierig an einem nicht vorhandenen Joint (?) wie an des Dieners Hose. Und Hannes Hellmann knallt ein kabarettreifes Erfolgs-Ekel auf die Bretter, das bei jeder Nennung seines Namens triumphierend die Faust reckt. So bringt sich Figur um Figur um die Chance, erst allmählich durchsichtig zu werden.

Dass das muntere Chargieren Spaß macht, zeigen Till Firit (in vielen Rollen) sowie Michele Cuciuffo und Ensemble-Neuling Cynthia Micas, die einander über die ganze Bühnenbreite hinweg antanzen, weil beide ihr kometenhafter, aber mit vielen Toten und erheblicher Gewissensverschmutzung erkaufter beruflicher Aufstieg irgendwie auch scharf macht. Dazwischen immer wieder die Clowns, mit Kinderinstrumenten und "Dideldudoh", "Here Comes the Sun" und "Take a Walk on the Wild Side" trällernd oder einer Mini-Spieluhr "La Vie en Rose" abtrotzend. Und generell ist es ja die richtige Entscheidung, das zum Pathos neigende Stück leicht zu nehmen. Es wird halt bloß zuweilen ein bisschen läppisch.

Dezidierte Geheimnislosigkeit

Und während Pommerat sich den Arten und Weisen, in denen Menschen zu Verkäufern ihrer selbst werden, bis sie erkennen, dass die "Abschaffung der Prinzipien" auch keine Lösung ist, in Kreisen nähert, errichtet Lanik Tableaus. Dass der Autor-Regisseur in seinen eigenen Inszenierungen viel mit Schatten und Licht arbeitet, kann man nachlesen oder aus den schlaglichthaft kurzen, durch unzählige Blacks getrennten Szenen schließen. Im Marstall sind die Szenen überraschend lang, meist flächig ausgeleuchtet – und oft auch gleißend hell. Das entspricht der dezidierten Geheimnislosigkeit, die Lanik hier praktiziert und die so gar nicht zur Mehrdeutigkeit symbolisierenden, spirituellen Farbe Lila passt. Mehr als ein handwerklich solides und leidlich lustiges Stück Unterhaltungstheater war das nicht.

 

Kreise/Visionen
v
on Joël Pommerat
Aus dem Französischen von Gerhard Willert
Regie: Tina Lanik, Bühne und Kostüme: Stefan Hageneier, Musik: Rainer Hörissen, Licht: Tobias Löffler, Dramaturgie: Laura Olivi.
Mit: Michele Cuciuffo, Beatrix Doderer, René Dumont, Till Firit, Anna Gränzer, Hannes Hellmann, Thomas Huber, Cynthia Micas.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

"Pommerat will nicht weniger, als hier ein paar der universellen Probleme der Menschheit auffächern. Die Szenen sind allerdings von sehr unterschiedlicher literarischer Qualität, was vielleicht damit zu tun hat, dass Pommerat seine Texte stets gemeinsam mit seinen Schauspielern und somit auch immer für sie entwickelt", schreibt Christiane Lutz in der Süddeutschen Zeitung (2.6.2017) Tina Lanik gelinge es dennoch, die Szenen zu etwas Allumfassendem, zu einer Art großer Menschheitsfabel zu verweben.

Ein kluger Trick sei es, das Ensemble als Clowns auftreten zu lassen. So beuge sie dem Pathoas in Pommerats Text vor, goutiert Mathias Hejny von der Abendzeitung. Der Regisseurin gelinge mit formaler Strenge, straff gebauten Bildern und feinem Humor ein "gescheit unterhaltendes Welttheater".

Alexander Altmann schreibt im Oberbayrischen Volksblatt: "Für die acht Schauspieler ist all das natürlich ein Fest. Denn sie dürfen ihrem Affen Zucker geben und saftig drauflos chargieren." Wegen der hochkarätigen Darsteller sei der Abend auch für die Zuschauer phasenweise recht unterhaltsam. Richtig schräg, also gut, werde die Aufführung aber nur, als das Ensemble in einer Szene auf Kinderinstrumenten 'Walk on the wild Side' spielte. In dieser ironisch-absurden Verfremdung seien all die Widersprüche, "die zuerst nur in besseren Sketchen brav humoristisch vorbuchstabiert wurden, plötzlich erschreckend komisch präsent".

 

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