Burning Doors - Das Belarus Free Theatre mit einem Abend über Unterdrückung beim Festival Theater der Welt
Unter höchster Repression
von Katrin Ullmann
Hamburg, 7. Juni 2016. Und dann, zum Schluss, brennen tatsächlich die Türen. Minutenlang züngeln die Flammen an den Gitterstäben und verbreiten ein bisschen Gefahr. Der Titel "Burning Doors" ist Programm. Bis dahin hatte man Text gehört, viel, sehr viel Text und zahlreiche Folterszenen gesehen: fast erhängte und ersäufte Menschen, halbnackte Körper, getreten, im Ringkampf, im Schleudertrauma, gespreizte Beine, herumgerissene Köpfe, getretene Gesichter.
Londoner Exil
Das Belarus Free Theatre zeigt einen Abend über, nein, vielmehr ohne Menschenrechte. Über die Unterdrückung künstlerischer Freiheit. "Inspiriert von Fjodor Dostojewski, Michel Foucault und Egon Schiele, basierend auf persönlichen Geschichten und Erfahrungen", so heißt es am Anfang. Nicolai Khalezin und Natalia Kaliada, die künstlerischen Leiter der Theatergruppe, leben mittlerweile in London, im politischen Exil. Via Skype erarbeiten sie mit ihrer Truppe in Weißrussland die Stücke, die Schauspieler wiederum proben an immer wieder wechselnden Orten, in Garagen, Lagerhallen, im Untergrund, der politischen Verfolgung entfliehend.
Seit 1991 ist Weißrussland unabhängig, seit 1994 wird es von Aljaksandr Lukaschenka autoritär regiert. Aus westlicher Sicht wird der Binnenstaat oft auch als letzte Diktatur Europas bezeichnet. Die dortige Verfassung etwa sieht die Todesstrafe noch für "schwere Straftaten" vor. Weißrussland, das ist ganz bestimmt kein Land für ein freies Leben und Denken, kein Land für Künstler. Und doch, oder vermutlich gerade deswegen, lenken die acht Darsteller an diesem Abend den Blick nicht auf ihre Heimat, sondern auf die Nachbarstaaten und skizzieren Künstlerschicksale aus Russland und der Ukraine.
Maria Alyokhina oder Pjotr Pawlenskis stellvertretende Erfahrungen
Da erzählt etwa die Pussy-Riot-Aktivistin Maria Alyokhina, Mitakteurin auf der Bühne, von ihren demütigenden Gefängniserfahrungen. Nach ihrer Teilnahme an der Pussy-Riot-Aktion "Punk-Gebet" 2012 in Moskau war sie zu zwei jahren Haft in einem Straflager östlich von Moskau verurteilt worden. Von dort berichtet sie jetzt, ruhig und technisch-trocken, von hautnah erlebter Willkür, von Chauvinismus, Missgunst und Gewalt.
Die Erfahrungen und Erlebnisse des drastisch-radikalen Aktionskünstlers und Regimekritikers Pjotr Pawlenski wiederum geben die Darsteller des Ensembles – unterstützt von Videoeinspielungen (Joshua Pharo) – wieder: 2012 hatte er mit zugenähtem Mund gegen die Verhaftung von Pussy Riot demonstriert, 2015 die Tür der Zentrale des russischen Geheimdienstes FSB anzündete – "Burning Door".
Der brisante gesellschaftspolitische Hintergrund rechtfertigt, nein, erzwingt sogar den Export einer so speziellen Theatergruppe in so ruhige und harmlose Gewässer wie die des Festivals "Theater der Welt". Zum einen. Zum anderen verbietet dieses Gastspiel fast eine eigene Haltung, bremst eine nassforsche Kritik. Wie überhaupt kann man einen solchen Abend, der aus höchster Dringlichkeit unter drohenden Repressionen entstanden ist, der persönliche Schicksale, demütigende Gefängniserfahrungen mit einflicht, hier und jetzt rezipieren? Wie ihn ernsthaft beurteilen? Wie die künstlerische Arbeit einordnen? Tatsächlich gar nicht.
Zurücklehnen
Man kann sich an formalen Ecken stoßen, an dem schwachen dramaturgischen Aufbau etwa, an dem wenig konsistenten Umgang mit Sprache, an der zu wuchtigen Bildhaftigkeit, an dem völlig willkürlichen Genremix aus wildem Tanz, erschreckender Dokufiktion und unkonzentrierten Knee-Plays. Man kann sich an der Text- und Informationslast stören und vor allem an dem ernsthaften und mehrfach wiederholten Versuch, echte Folter – Kopf unter Wasser tauchen, Tritte ins Gesicht, Würgen – mit Schreck- und Schockeffekt auf der Bühne nachzuspielen. Man kann, könnte, vieles kritisieren an diesem Abend.
Aber tatsächlich kann – und sollte – man sich einfach zurücklehnen. Einatmen, ausatmen und feststellen, wie beruhigt und angstfrei man in diesem demokratischen Deutschland Kunst machen, Festivals veranstalten und Gastspiele anschauen kann. Privilegiert. Ohne drohende Folter. Ohne fatale Folgen.
Burning Doors
vom Belarus Free Theatre
Regie und Dramaturgie:
Nicolai Khalezin,
Natalia Kaliada,
Choreografie:
Bridget Fiske,
Bühne:
Nicolai Khalezin,
Sound-Design und Musik:
Richard Hammarton,
Schlagzeug:
Alexander Lyulakin,
Licht- und Video-Design:
Joshua Pharo,
Produktionsleitung:
Andy George
.
Mit:
Pavel Haradnitski,
Kiryl Kanstantsinau,
Siarhei Kvachonak,
Maryia Sazonava,
Stanislava Shablinskaya,
Andrei Urazau,
Maryna Yurevich, Maria Alyokhina (Original Zeugenaussage und Gastperformance).
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.theaterderwelt.de
Mehr zum Belarus Free Theatre: für "Burning Doors" hatte die Gruppe im vergangenen Sommer eine Crowdfunding-Kampagne gestartet.
Einen "kraftvollen Abend" hat Annette Stiekele für das Hamburger Abendblatt (9.6.2017) gesehen. "Das hochkonzentrierte Ensemble bringt auf Kampnagel lange Textpassagen und zeigt drastische Folterszenen. Das legt dem Abend zwar ein Zuviel an dramaturgischen Sprüngen, Textbergen und Bilderfluten auf, dennoch entfalten sie in ihrer Präzision und Realitätsnähe eine ungeheure Wucht."
Diese "akrobatische Dokumentar-Tanz-Performance" zeige, "welche unheimlichen Energien politische Repression produziert", berichtet Kerstin Holm für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (10.6.2017). "Das Stück, das die Gefängnismaschine erleben lässt, die Systeme wie das von Wladimir Putin und Lukaschenka im Innersten zusammenhält", bekomme durch den Auftritt von Maria Alechina eine "anrührende Authentizität", sei aber auf der anderen Seite auch "äußerst komisch".
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